Arabische Jugend

Unter den Füßen unserer Eltern

Als die arabische Jugend damals auf die Straßen ging, kribbelte es am ganzen Körper. Ich konnte diese ausgestrahlten Bilder kaum fassen und ich ließ mich ebenfalls von dieser allgemeinen Euphorie tragen. Und jetzt? Von Nohma El-Hajj

Von Freitag, 05.02.2016, 8:25 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 11.02.2016, 9:32 Uhr Lesedauer: 8 Minuten  |  

Weshalb ich meine, mich zur gescheiterten arabischen Revolution äußern zu dürfen? Es ist die Tatsache, dass ich Araberin bin, auch wenn ich in Deutschland geboren wurde und mein bisheriges Leben hier verbracht habe. Es sind die vielen Geschichten, die ich immer wieder erlebe oder von denen ich höre. Es ist kein „dennoch“, sondern viel mehr ein „gerade deshalb“, weshalb ich glaube, etwas sagen zu dürfen oder gar zu müssen über diesen einst gefeierten Arabischen Frühling, der nach fünf Jahren des Hoffens nun seine letzten Atemzüge zählt. Ich werde versuchen zu verdeutlichen, weshalb diese Entwicklung etwas mit uns, ja auch mit uns Töchtern und Söhnen arabischer Eltern zu tun hat – und zwar unabhängig davon, ob wir in Europa oder im arabischen Raum leben. Meine Erklärung – natürlich ist sie eine von vielen, so wie es nie die eine Ursache für ein Geschehen gibt- zeigt sich in vielen kleinen schmerzhaften Geschichten…

Meine Erklärung, sie hat viele Gesichter: Das Gesicht einer jungen Frau, welche zwischen Familie und Verwandtschaft sitzt und die Hand ihres Verlobten hält, den sie, wenn sie hätte entscheiden können, längst aus ihrem Leben verbannt hätte, weil sie einen anderen liebt. Als sie ihrer Mutter zu verstehen gibt, dass sie die Verlobung annullieren wolle, greift die Mutter nach einem Küchenmesser und droht mit Selbstmord, sollte ihre Tochter diesen Schritt wagen. Nun sitzt die schöne Tochter da, lächelnd dreinschauend und die Todesdrohung ist das einzig verbliebene Band zwischen zwei jungen Menschen.

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Facebook ist der Ort, an dem eine – andere – junge Frau ihrer Kritik an der eigenen Gesellschaft Ausdruck verleihen kann. Die Worte der Studentin sind emotional und zeugen von eigener Betroffenheit und dem Feuer, dessen Brennholz die vielen Missstände im eigenen Land sind. Längst ist sie ein Vorbild für Freunde und Bekannte, weil sie sich traut, Inhalte zu posten und Probleme anzuprangern, die viele selbst kennen aber für sich behalten. Längst ist sie zugleich Dorn im Auge für jene, die sie für zu aufmüpfig und eigensinnig halten.

Regelmäßig knöpft sie sich die arabischen Eltern vor und erinnert sie schlagfertig daran, ihren Kindern das selbstbestimmte Leben zu gönnen. Ein verbaler Feldzug, der vor wenigen Monaten seine Grenzen kennen lernte, als es nämlich um die eigene Hochzeitsfeier ging. Sie hatte sich stets geweigert, eine arabische Hochzeit mit unnötigem Prunk und maßloser Prahlerei zu feiern, auf der es größtenteils von Menschen wimmelt, die das Brautpaar persönlich nicht kennt, sondern dem Bekanntenkreis der Eltern zuzuschreiben sind. Feiern, auf denen viel mehr die gesellschaftliche Konvention als das Glück des Ehepaares zelebriert wird. Und trotz großer Ankündigung über Facebook, dieses gesellschaftliche Spiel nicht mitspielen zu wollen, erfahre ich von ihr persönlich, dass sie einer solchen Hochzeit zugestimmt habe, den Eltern zuliebe.

Den Eltern zuliebe, lebt eine Freundin mit ihren 32 Jahren noch zuhause, weil es in deren Community schlichtweg inakzeptabel wäre, als unverheiratete junge Frau alleine zu leben. Um die Gefühle der Eltern nicht zu verletzen, trennt sich ein Verwandter von seiner Ehefrau, weil seine Herzensdame nach Meinung der Familie die falsche Nationalität hat; ein anderer Bekannter wiederum geht erst keine Bindung mit einer Frau ein, weil sie nicht den Vorstellungen der werten Mama entspricht. Ein weiterer Herr zieht ins europäische Ausland, um das von den Eltern vorgesehene naturwissenschaftliche Studium zu beginnen. Dort angekommen, entscheidet er sich aber für eine Geisteswissenschaft: Eine Schande für die Familie und ein Streit, der nach 21 Jahren immer noch nicht beigelegt ist. Und kürzlich heiratet ein Paar nach sieben Jahren Ringen und Betteln um das „Ja“ der Schwiegermutter. Sieben Jahre!

Mit großer Selbstverständlichkeit gestalten arabische Eltern das Leben ihrer längst erwachsenen Kinder mit und mit noch größerer Selbstverständlichkeit nehmen die Kinder dieses Einmischen in das eigene Leben als naturgegeben hin. Viele begründen ihr Verhalten mit dem Willen Gottes, die eigenen Eltern zu ehren. Tatsächlich schreibt der Koran in mehreren Versen vor, den Eltern mit Respekt und Güte zu begegnen. Warum aber daraus eine Unterwerfung wurde, ist zumindest koranisch nicht abzuleiten. Dennoch ist das gesprochene Wort der Eltern das letztgesprochene. Wenn man nicht gehorchen mag, kann es passieren, dass sie einem die elterliche Gunst entziehen („Du bist nicht mehr meine Tochter“) bis hin zur Drohung mit elterlichem Zorn (“ Mein Zorn ist auf dir bis zum Tag des jüngsten Gerichts !“), der vermeintlich die Tore zum Paradies versperrt. Denn Gottes Gnade lässt sich angeblich über das Wohlwollen der Eltern lenken. Und so fügen wir uns, damit sich die Tore zum ewigen Leben öffnen und verschließen damit die Tore zum hiesigen Leben. Wir versagen uns einer eigenen Lebensphilosophie und folgen eher einem aufgedrängten Volksgewissen als dem eigenen. Neue Ideen und Lebenskonzepte machen respektvollen, gar bangen Halt vor den Alten und diese an Traditionen klammernde Stagnation wird wie eine Fackel von Generation zu Generation weitergereicht.

Wir fügen uns, um der Familie keine Schande zu machen und nicht das Gerede der Nachbarn heraufzubeschwören. Viele dürfen in unseren persönlichen Angelegenheiten mitreden, nur der eigene Verstand, ja viel schlimmer noch, das eigene Gefühl, werden zum Wohle der Gesamtheit zum Schweigen gebracht. Und immer, wenn wir versuchen wollen uns mit der Welt (Gesellschaft) anzulegen, gewinnt die Welt, wie es Khaled Hosseini in seinem Roman Der Drachenläufer beschreibt. Und während die Welt gewinnt, zerbröckelt der Stolz in uns und wir gehen mit gebeugter Seele durch die Tage, krampfhaft versuchend eine Idee zu wahren, welche nicht die unsere ist. Ein gefundenes Fressen für jeden Diktator, der sich unserer gebeugten und gebrochenen Seelen annimmt. Und ist es wirklich so abwegig, dass gebrechliche Menschen gebrechliche Gesellschaften hervorbringen?

Als die arabische Jugend damals auf die Straßen ging, kribbelte es am ganzen Körper. Ich konnte diese ausgestrahlten Bilder kaum fassen und ich ließ mich ebenfalls von dieser allgemeinen Euphorie tragen. Und jetzt? Die Gegenwart dieses Kontinents hinterlässt bei jedem, der auch nur den leisesten Bezug zu den Ländern hat, einen bedrückenden Schmerz. War es nicht vielleicht die falsche Reihenfolge? Hätten die arabischen Revolutionäre nicht womöglich die Fronten zuhause klären sollen, bevor man sich das autoritäre Regime vorknöpfte? Man verstehe mich nicht falsch: Ich verbeuge mich vor jedem Menschen, der diesen Diktatoren auf den arabischen Straßen die Stirn bot! Es war richtig und bewundernswert! Aber die Frage, die ich stellen möchte: Wie kann man die von oben auferlegte Unfreiheit verwerfen, ohne die Unfreiheit in den eigenen Häusern abzustreifen? Wie können Menschen ein autoritäres Staatsregime verurteilen und sich in den eigenen vier Wänden aber einer Autorität unterordnen? Kann man eine Demokratie etablieren und weiterhin bei wichtigen Entscheidungen um die Gunst der Eltern betteln?

Am Tag ihrer Hochzeit übergab der Vater die Hand seiner Tochter an den Ehegatten mit den Worten: „Jetzt bist du ihr neuer Chef.“ Dieses Zitat verdeutlicht wie kein anderes, wie sehr Hierarchiedenken noch fest in einigen Köpfen verwurzelt ist. Aber noch einen weiteren Punkt möchte ich über diesen Satz sagen: Er stammt aus dem Munde des Vaters meiner Freundin, die in Deutschland geboren und aufgewachsen ist. Das Selbstverständnis von kindlicher Untergebenheit haben nicht wenige der hier lebenden Araber artig geerbt: Die Zerreißprobe zwischen dem Wunsch nach Individualität und das Erfüllen elterlicher Bedürfnisse ist eine aufgebürdete Last, die in der neuen Heimat nicht abgelegt wurde. Wir hadern mit denselben Fragen und versuchen noch mehr einen gefälligen Spagat zwischen zwei uns vorgelebten Lebenskonzepten. Und nicht immer gelingt uns dieser, denn auch wir verlieren uns in Erwartungen und Hoffnungen unserer Eltern und ihren Traditionen. Und wenn wir ehrlich zu uns sind, können wir immer noch nicht so richtig als Vorbild für Verwandte und Freunde dienen, die in den Ländern unserer Mütter und Väter leise nach einem selbstbestimmten Leben verlangen. Dabei haben gerade wir die Chance, uns durch den hier gelebten Pluralismus stärken zu lassen, ein selbstbestimmtes Leben zu leben und so unseren Altersgenossen in arabischen Ländern als Vorbild zu dienen.

„Das Paradies liegt unter den Füßen eurer Mütter“, lautet ein Hadith des Propheten Mohammed und spiegelt den hohen Rang wider, den die arabische Gesellschaft den Müttern zuteilwerden lässt. Das Paradies liegt jedoch auch in einem kritischen Geist, welcher nach Gebrauch des eigenen Verstandes bejahen und verneinen darf! Damit meine ich nicht, dass wir unseren Eltern mit Unverständnis und Groll begegnen sollten (nein, auch sie haben ihre Geschichte und sie handeln mitnichten aus Böswilligkeit). Ich meine, dass es nun endlich an der Zeit ist, ihnen auf Augenhöhe zu begegnen, um des eigenen und schlussendlich des gesellschaftlichen Friedens willen. Der Frieden, der zu Beginn die Kleider von Vorwürfen, Tränen und Trennung trägt und diese, früher oder später abgelegt, sein friedliches Antlitz der Freiheit lächelnd präsentiert. Feuilleton Leitartikel

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