In der Scheiße
Der Dschungel von Calais und die Menschenwürde
Am Rande des nordfranzösischen Städtchens Calais leben tausende Flüchtlinge buchstäblich "in der Scheiße". Frankreich fühlt sich für sie nicht verantwortlich. Nun hat der Conseil d’Etat ihn daran erinnert, dass es Menschenwürde gibt und er, der Staat, verpflichtet ist. Von Maximilian Steinbeis.
Von Maximilian Steinbeis Donnerstag, 03.12.2015, 8:23 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 03.12.2015, 20:45 Uhr Lesedauer: 4 Minuten |
Mitten in Westeuropa gibt es Orte, die sind so infernalisch, dass ich bis vor nicht allzu langer Zeit niemandem geglaubt hätte, der mir erzählt hätte, dass es die gibt. Das LaGeSo in Berlin-Moabit ist so ein Ort, wo seit Monaten die weltberühmt effizente deutsche Verwaltung Tag für Tag mit preußischer Gründlichkeit an ihrer Aufgabe scheitert, die Flüchtlingsregistrierung so zu organisieren, dass niemand im Schneeregen auf offener Straße übernachten muss. Der wohl grausigste dieser Orte dürfte aber am Rand des nordfranzösischen Städtchens Calais gelegen sein, wo der Tunnel unter dem Ärmelkanal seine kontinentale Mündung hat. Tausende von Flüchtlingen, die dort gestrandet sind, leben ganz buchstäblich – pardon my french – in der Scheiße.
Die französische Regierung wird in dieser Situation nicht mehr so tun können, als sei das nicht ihr Problem. Der Conseil d’Etat hat eine richterliche Anordnung bestätigt, wonach der Staat sich erstens der unbegleiteten Minderjährigen annehmen muss, die in dem Camp leben, und zweitens hinreichend Toiletten, Müllentsorgung, Reinigung und Notfallversorgung bereitstellen muss, das erste binnen 48 Stunden, das zweite binnen acht Tagen.
Möglich macht dies ein Institut des französischen Verwaltungsrechts namens „referé liberté„, eine Art richterliche Eilverfügung gegen schwere und offensichtliche Grundrechtseingriffe. Beantragt hatten sie zwei NGOs und vier Bewohner des Camps von Calais, und das Verwaltungsgericht Lille hatte dem Antrag Anfang November stattgegeben.
Der Conseil d’Etat stellt fest, dass in dem Camp etwa 6000 Menschen leben, davon rund 300 Frauen und 50 Kinder. Er erkennt an, dass die staatlichen und kommunalen Autoritäten bereits allerhand unternommen hatten, um diese Menschen zu versorgen. Aber wenn sie am Ende immer noch in derartigen Zuständen leben, ist das halt nicht genug. Die Inhaber der Polizeigewalt seien Garanten des Verfassungsprinzips der Menschenwürde und hätten daher darüber zu wachen, dass das Recht aller Menschen, keiner unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung ausgesetzt zu sein, gewahrt bleibt. Das sei es im Falle des Camps von Calais aber nicht.
Das gelte zwar nicht unbedingt für die Ernährung, die durch die Behörden und die dort tätigen NGOs einigermaßen sichergestellt sei. Aber die Versorgung mit Trinkwasser und Toiletten, die Müllentsorgung, die Notfallhilfe sei eklatant unzureichend.
Die Entscheidung scheint mir aus zwei Gründen auch außerhalb Frankreichs Beachtung zu verdienen. Erstens finde ich bemerkenswert, dass der Conseil d’Etat hier mit einer Art Schutzpflicht zur Herstellung menschenwürdiger Zustände operiert. Ich verstehe nicht viel von französischer Grundrechtsdogmatik, aber soweit ich weiß, ist das ungewöhnlich, zumal mit Bezug auf das abstrakte und von vielen so gern belächelte Prinzip der Menschenwürde.
Zum anderen haben wir es hier mit Menschen zu tun, die man sich rechtloser nicht vorstellen kann: undokumentiert, ohne Bürgerrechte, sie beantragen noch nicht einmal Asyl, weil sie ja eigentlich nach UK weiterreisen wollen, sie lassen sich nicht registrieren, sie lassen sich nicht nieder, sie kommen plötzlich und sind genauso plötzlich wieder verschwunden – und einstweilen sind sie einfach da. Wie vor 200 Jahren die Zigeuner, die über Nacht am Stadtrand ihr Lager aufgeschlagen haben – einfach plötzlich da und aus Perspektive eines Staates gar nicht richtig in den Blick zu kriegen. Ein Staat will mit Rechtspersonen zu tun haben, die einen Namen haben und Papiere und eine ladungsfähige Adresse, an die man einen ordentlichen Verwaltungsakt richten kann, mit Rechten und Pflichten und damit anschlussfähig für die Pflichten und Rechte, die den Staat selbst konstituieren. Und wenn da einer kommt, der nichts dergleichen ist, eigentlich nur ein atmender Körper, von irgendwoher hereingeweht wie ein Gespenst, dann blinzelt der Staat und ist verwirrt und kennt sich nicht aus.
Hier sagt der Conseil d’Etat dem Staat: tough luck. Was immer die sind, die da hereingeweht wurden – das sind Menschen. Und Menschen dürfen nicht in der Scheiße leben müssen. Das sind nicht bloß atmende Körper, das sind Träger von Menschenrechten, so wie Du, lieber Staat, ihnen gegenüber Träger von Pflichten bist, und was Deine Pflicht ist, können wir Dir sagen, nämlich binnen acht Tagen diesen In-der-Scheiße-leben-müssen-Zustand abzustellen.
Mit Menschen wie diesen, das hat uns das irre Jahr 2015 nun wirklich gelehrt, werden wir jetzt wieder sehr viel zu tun bekommen. In diesem Winter, davon wird man wohl ausgehen müssen, werden auf dem Territorium von EU-Mitgliedsstaaten, womöglich sogar in der Obhut von EU-Mitgliedsstaaten, Menschen erfrieren. Vielleicht tun sie es gerade schon. Menschen, die nichts anderes mit sich führen als ihre Menschenwürde.
Ich kann nur hoffen, dass sich dann überall ein Conseil d’Etat findet, der den Staat das Sehen lehrt. Aktuell Meinung
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