Polizei, police, sicherheit, schwarz, weiß, polizisten
Polizei © David Chu @ flickr.com (CC 2.0), bearb. MiG

Charlie Hebdo 2.0

Es wird wieder umgesetzt, womit auch dieser Terroranschlag nichts zu tun hat

Wie nach Charlie Hebdo wird auch nach Paris die gut aufeinander abgestimmte Trauer- und Kriegsmaschinerie in Gang gesetzt. In diesem erwünschten Zustand wird all das gerechtfertigt und umgesetzt, was man schon lange gewollt war.

Von Mittwoch, 25.11.2015, 8:25 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 30.11.2015, 16:13 Uhr Lesedauer: 11 Minuten  |  

Die Massaker, die am 14. November 2015 in Paris verübt wurden, sollen laut „gut informierter Kreise“ ein Racheakt auf Blutbäder und Zerstörungen in arabischen Ländern (Irak, Syrien, Afghanistan) sein, an denen sich westliche Staaten, insbesondere die französische Außenpolitik beteiligt haben und fortlaufend beteiligen. Sollte dieses Motiv stimmen, dann muss man eines ganz deutlich sagen: Das Blutbad, das man während eines Konzertes im Club Bataclan anrichtete, die Ermordung von Besuchern eines Cafés haben nicht die politisch und militärisch Verantwortlichen getroffen. Im Gegenteil: Man brachte jene in Frankreich (und in Europa) wieder zusammen, die im Alltag so viel gemein haben wie die Bewohner der Banlieues mit denen im ersten Arrondissement in Paris.

Nicht anders ist der Mordanschlag auf die Satirezeitung Charlie Hebdo im Januar dieses Jahres zu werten, wenn man „Außenseiter“ des französischen Kulturbetriebes ins Zentrum einer blutigen Kritik rückt, die sich für Religions – und Gotteslästerungen rächen wollte.

___STEADY_PAYWALL___

In beiden Fällen wiederholen die Täter in Paris etwas, was in Syrien, im Irak und in Libyen Alltag geworden ist: Sie spiegeln denen, die von den Moslems, von den Islamisten reden, was es heißt, von den Franzosen zu reden. Das ist nicht aufklärerisch, sondern reaktionär.



Ein längerer Beitrag zum Mordanschlag in Paris auf die Satirezeitschrift Charlie Hebdo, eine Auseinandersetzung mit dem, was im Namen eines Antislamismus alles passiert und verschwiegen wird, findet sich in dem Kapitel: Nous sommes tous Charlie – vraiment? Feindbildproduktion in Zeiten permanenter Kriegsführung (S. 150-170)

Gänzlich gleich geblieben ist die Trauer- und Kriegsmaschinerie, die gut aufeinander abgestimmt nach den Anschlägen in Gang gesetzt wurde, wobei man jetzt allen Ernstes behauptet, man sei im Krieg. Mit diesem erwünschten Kriegszustand wird nun all das gerechtfertigt und umgesetzt, was man schon lange gewollt hat und womit dieser Terroranschlag nichts zu tun hat: Man will noch mehr Krieg (außerhalb von Europa), man will noch mehr Polizei, noch mehr Soldaten, noch mehr Überwachung, noch mehr von dem, was man vor dem Islamismus schützen will. Ganz besonders zynisch wird es, wenn die Geheimdienste aus den USA, England und Deutschland gemeinsam die Kritiker ermahnen, endlich ganz still zu sein, damit sie wieder ungehindert ihrer Arbeit nachgehen können.

Nun wird einmal mehr eine Einheit beschworen, vor der man sich nur gruseln kann: Sozialisten, Nationalisten und Neofaschisten (Le Pen) wetteifern darum, die „Freiheit“ zu verteidigen.

Und wieder und wieder fragt man sich: Was hat das alles mit dem Krieg gegen den Islamismus zu tun? Wer verteidigt wo was?

Es lohnt sich, noch einmal an das zu erinnern, was dem Mordanschlag im Januar 2015 folgte.

Am 7. Januar 2015 ereignete sich in Paris ein Anschlag auf die Satirezeitschrift Charlie Hebdo, bei dem elf Menschen ermordet wurden. Zwei Tage später stürmte ein weiterer Attentäter einen koscheren Supermarkt im Osten von Paris, tötete einige Kunden und nahm die anderen als Geisel. In einem Telefonanruf stellte er die Tat in Verbindung mit dem Anschlag auf Charlie Hebdo und forderte: „Frankreich soll alle seine Truppen aus sämtlichen muslimischen Ländern abziehen“.

Ziemlich schnell stand das Fazit fest: Die Terrororganisation Islamische Staat (IS) führt seinen Krieg im Namen des Koran und des Propheten Mohammed im Nahen Osten (Syrien, Irak) und trägt ihn nun auch nach Europa. Auch nach innen hatte man eine Botschaft: Dieser mörderische Angriff sei ein gemeiner Anschlag auf die Presse- und Meinungsfreiheit, die es jetzt gemeinsam zu verteidigen gelte, ob arm oder reich, oben oder unten, rechts oder links.

Damit wurde innenpolitisch ein „nationaler Konsens“ imaginiert, der auch in Frankreich seit Jahren zerbrochen, zerschlissen und aufgebraucht war und ist – und gerade deshalb umso heftiger beschworen werden muss.

Die Süddeutsche Zeitung hatte den Mordanschlag unverkrampft ungeniert eingeordnet: Jetzt gelte es, die „Gunst der schrecklichen Stunde“ zu nutzen.

Alle zusammen gegen den Islamismus?

„Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elends und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. (…) Die Kritik der Religion ist also im Keim die Kritik des Jammertales, dessen Heiligenschein die Religion ist.“ Karl Marx, MEW 1, S.378

Nach dem mörderischen Anschlag auf die Satirezeitschrift Charlie Hebdo wurde die Debatte über den Islam in allen Medien neu aufgelegt: Welche Rolle spielt der Islam bei der Rechtfertigung von Terroranschlägen? Wird bei einem Anschlag der Islam missbraucht, wenn die Attentäter als Zeuge und Beistand Allah ist groß rufen?

Islamexperten bevölkern einmal mehr die Talkshows. Es geht wieder und wieder um die Fragen: Gibt es einen moderaten Islam und einen zur Gewalt aufrufenden Islam? Haben die Anschläge etwas mit dem Islam zu tun oder mit anderen, sprich lebensweltlichen Ursachen? Und ganz viel wird vermessen und gestritten, wo die Grenze zwischen dem Islam, gegen den wir nichts haben, und dem Islamismus, den es noch energischer und entscheiden zu bekämpfen gibt, verläuft? Leitartikel Meinung

Seiten: 1 2 3

Zurück zur Startseite
MiGLETTER (mehr Informationen)

Verpasse nichts mehr. Bestelle jetzt den kostenlosen MiGAZIN-Newsletter:

UNTERSTÜTZE MiGAZIN! (mehr Informationen)

Wir informieren täglich über das Wichtigste zu Migration, Integration und Rassismus. Dafür wurde MiGAZIN mit dem Grimme Online Award ausgezeichnet. Unterstüzte diese Arbeit und verpasse nichts mehr: Werde jetzt Mitglied.

MiGGLIED WERDEN
Auch interessant
MiGDISKUTIEREN (Bitte die Netiquette beachten.)

  1. karakal sagt:

    In den Medien wird ganz gewaltig Begriffsverwirrung betrieben und mit falsch verwendeten Begriffen oder Unbegriffen Volksverhetzung betrieben.
    Fundamente sind die Grundlagen einer jeden Sache. Hält ein Angehöriger des Islams nicht an den Grundlagen seiner Religion fest, dann ist er per Selbstdefinition kein Muslim mehr. Demnach müßte jeder Muslim ein „Fundamentalist“ sein – oder andernfalls kein Muslim.
    Ein „Islamist“ ist jeder der sich – zu Recht oder zu Unrecht – als dem Islam zugehörig betrachtet, also jeder Muslim, aber auch Sekten, die sich selbst dem Islam zurechnen, von der Mehrzahl der Gelehrten des „orthodoxen“ Islams jedoch als häretisch angesehen werden.
    Extremisten sind auch die „liberalen“ Muslime, da sie nicht in der Mitte des Islams stehen, sondern ganz am Rande, auf der entgegengesetzten Seite der anderen Extremisten, die von den Medien mit der Bezeichnung „Salafisten“ belegt worden sind.
    Auch sind die islamische Schari´a und das Bürgerliche Gesetzbuch größtenteils keine unvereinbaren Gegensätze. Es mag für viele überraschend sein festzustellen, wie sehr deutsches und islamisches bürgerliches Recht, wie bspw. der Abschluß von Verträgen, Schuldrecht usw. sich ohne wesentliche Unterschiede decken. Nach der islamischen Schari´a spielt in diesen Bereichen das Gewohnheitsrecht eine große Rolle, und wenn das entsprechende Gewohnheitsrecht in der BRD das Bürgerliche Gesetzbuch ist, dann kann man dieses in den Dingen, worin es nicht islamischen Vorschriften widerspricht, als Schari´a-Recht ansehen. Den größten Teil der Schari´a nehmen die gottesdienstlichen Regelungen ein, und diese sind durch das im Grundgesetz verankerte Recht auf freie und ungestörte Religionsausübung gedeckt. Daher zeugt es von unglaublicher Unwissenheit, wenn Leute, wie der Bundesinnenminister Thomas de Maizière, sagen, sie würden die „Schari´a“ in Deutschland nicht dulden. Das hört sich für einen Muslim so an wie eine Forderung nach dem Verbot der Religionsausübung.