Videoüberwachung © Mike_fleming @ flickr.com (CC 2.0), bearb. MiG
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BKA-Jahrestagung

Experten überraschen mit unerwarteten Analysen über Islamisten

Kaum ein Dschihadist war jemals Mitglied einer muslimischen Gemeinde. Deshalb bringt es nach Experteneinschätzung auch nichts, den moderten Islam zu fördern. Sie haben keinen Einfluss auf Extremisten. Das stellt Forderungen in Deutschland auf den Kopf.

Von Karsten Packeiser Freitag, 20.11.2015, 8:25 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 25.11.2015, 17:42 Uhr Lesedauer: 3 Minuten  |  

Strenge Ausweis- und Taschenkontrollen, überall bewaffnete Polizeikräfte – so gut gesichert wie in dieser Woche ist das Kurfürstliche Mainzer Schloss nur selten. Wo sonst kostümierte Narren bei der Fernsehaufzeichnung von „Mainz bleibt Mainz, wie es singt und lacht“ zur Musik schunkeln, war es nach den Anschlägen von Paris, Beirut und auf das russische Urlauber-Flugzeug alles andere als lustig. Bei der Herbsttagung des Bundeskriminalamtes (BKA) ging es vor allem um die Gefahren des islamistischen Terrors, mehrere Hundert Sicherheitsexperten aus dem In- und Ausland waren angereist.

Zu hören gab es auf der Schlossbühne zunächst jede Menge Floskeln über die ernste Bedrohungslage, den wachsamen Staat und Aufrufe, den westlichen Lebensstil nicht aus Angst vor Gewalttätern aufzugeben. Antworten auf unangenehme Nachfragen beim Pressebriefing vermied Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) gekonnt. Dafür hatten einige der Gäste Reden mitgebracht, die es in sich hatten.

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So widerlegte der französische Extremismus-Forscher Olivier Roy gleich eine ganze Serie gängiger Klischees über gewaltbereite Dschihadisten. „Kaum jemand war jemals aktives Mitglied einer örtlichen muslimischen Gemeinde“, lautet das Fazit des Wissenschaftlers, der am Europäischen Hochschulinstitut im italienischen Fiesole lehrt und sich mit dem Lebensweg von Extremisten befasst. Nur sehr wenige Radikale hätten eine militante Vorgeschichte, viele seien zuvor kleinkriminell gewesen und hätten kein sonderlich religiöses Leben geführt. Typisch sei vielmehr eine ganz plötzliche Hinwendung zur Gewalt.

Roys Erkenntnisse stehen in einem gewissen Widerspruch zu den auch in Deutschland häufig zu hörenden Forderungen, Imame und Moscheegemeinden müssten mehr dafür tun, potenzielle Anhänger des Dschihad vor der Radikalisierung zu retten. Forderungen, deswegen den moderaten Islam zu fördern, seien „unsinnig“, sagte der Franzose. Tatsächlich habe nämlich kaum jemand Einfluss auf die jungen Extremisten. Gemäßigte Muslime, die eigene Familie und alle anderen außerhalb des eigenen verschworenen Zirkels würden von den Terrorkämpfern als Verräter gesehen.

Selbst im Krieg, in Ländern wie Syrien oder dem Jemen, seien die Dschihadisten isoliert von der örtlichen muslimischen Bevölkerung. Die jungen Kämpfer aus Europa identifizierten sich nicht mit den arabischen Einheimischen und müssten deshalb auch „importierte“ Ehefrauen heiraten. Kontakte zu den Eltern würden in der Regel abgebrochen. Dieses Verhalten entspreche nicht den islamischen Traditionen und sei auch ganz anders als beispielsweise bei radikalen Palästinensern.

Ähnliche Erfahrungen schilderte auch Souad Mekhennet von der „Washington Post“, die einst Gelegenheit hatte, den Islamisten und früheren „Gangsta-Rapper“ Denis Cuspert kennenzulernen. Bevor er untertauchte und nach Syrien in den Krieg zog, hatte er der Journalistin von seinem Weg in die radikale Szene berichtet. Der Berliner sei ursprünglich wohl aus Empörung über den Irakkrieg, die Drohneneinsätze und eine generelle „westliche Doppelmoral“ zu den Islamisten geraten. Moscheegemeinden hätten dabei keine Rolle für Cuspert gespielt, weil dort niemand mit ihm über Politik diskutieren wollte.

Das Bundeskriminalamt will in seinem Kampf gegen islamistische Gewalttäter nach den jüngsten Ereignissen in Paris und Hannover weiter auf eine „Mischung aus Repression und Prävention“ setzen. Doch welches Vorgehen wirklich hilft, ob Aussteigerprogramme für Rechtsextreme auch bei Islamisten angewandt werden können – auf all diese Fragen gibt es bislang kaum verlässliche Antworten. So räumte BKA-Präsident Holger Münch kurz vor dem Ende der Tagung auch ein, dass es ein „Forschungsdefizit“ gebe. Außerdem sprach er sich dafür aus, die bisherigen Präventionsmaßnahmen auf ihre Wirksamkeit zu überprüfen. (epd/mig) Leitartikel Politik

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  1. Sabine Mahler sagt:

    Das hört sich nach Verhalten im Stile von Amokläufen an – hier ein interessanter Artikel über Amok/ ursprüngl. Amuk aus dem Malaiischen, der inetwa „im Kampf sein Letztes geben“ bedeutet und die auf die lange Tradition der Todeskrieger hinweist.

    http://www.bdp-verband.org/psychologie/glossar/amok.shtml

  2. karakal sagt:

    Die Erkenntnis, zu der die Experten des BKA erst jetzt gekommen zu sein scheinen, haben die Muslime schon lange. Die Moscheen dienen den Extremisten allenfalls dazu, um darin neue Mitglieder für ihre Gemeinschaften anzuwerben. Sind sie erst einmal Mitglieder, dann treffen sie sich in Privatwohnungen und halten dort auch das Freitagsgebet ab, da die Imame der gewöhnlichen Moscheen ihrer Ansicht nach ja keine wirklichen Muslime, sondern „Götzendiener“ sind, weil sie den nichtislamischen Staat anerkennen und mit ihm zusammenarbeiten, und somit das hinter ihnen verrichtete Gebet ungültig ist. Damit sind diese Leute für die Moscheegemeinden nahezu unerreichbar, und es zeugt von Unkenntnis, wenn die Nichtmuslime diese in die Pflicht nehmen wollen, auf die Extremisten Einfluß auszuüben oder gar den Behörden zu melden.

  3. Cengiz K sagt:

    Das hat bei den Experten aber jetzt gedauert, alle Achtung.. Denis Cuspert in einer Moschee? Wirklich? So wie Assad oder Al-Baghdadi? Was nicht alles zu PR-Zwecken getan werden muss..
    Um die Verwirrung zu vervollkommnen: ein Extremist, wie ein Anhänger der sozial vernachlässigten Kalaschnikow-Clique aus Paris, macht per Definition keinen Dschihad; der nette Nachbarn von nebenan, der hinter vorgehaltener Hand ‚Terrorist‘ oder ‚das Böse‘ genannt wird, ohne etwas getan zu haben, aber schon..