Zum Schulbeginn
Das Kopftuch gehört ins Klassenzimmer
NRW und Niedersachen kippen pauschales Kopftuchverbot für Lehrerinnen und damit die Illusion von einem „neutralen Klassenzimmer“. Bayern, Berlin und Saarland dagegen tun sich noch schwer. Welche Gefahr meinen die Gegner des Kopftuches von ihm ausgehen zu sehen? Sind ihre Argumente stichhaltig? Ein zusammenfassender Beitrag zum Schulstart über gebetsmühlenartig wiederholte, festsitzende Vorurteile und die unbeachtete Meinung der jungen Deutschen von Armin Begić
Von Armin Begić Donnerstag, 13.08.2015, 8:23 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 16.08.2015, 12:16 Uhr Lesedauer: 6 Minuten |
Jahrelange Aushandlungsprozesse gesellschaftlichen Wandels am Körper angehender muslimischer Lehrerinnen scheinen ihr Ende gefunden zu haben. Doch obwohl das Bundesverfassungsgericht (BVG) ein pauschales Kopftuchverbot für Lehrerinnen als rechtswidrig erklärt hat und die in zahlreichen Bundesländern etablierten Schulgesetze als Verstoß gegen die Religionsfreiheit einstuft, lässt es noch Spielraum für Interpretationen zu, die zukünftig neue Kontroversen heraufbeschwören könnten. Kontroversen durch die Kopftuchträgerinnen das Unterrichten dennoch erschwert werden kann.
Diskriminierung im Namen des Schulfriedens
Lehrerinnen dürfen weder „missionieren“ noch durch das Tragen des Kopftuchs den „Schulfrieden gefährden“. Doch wann gilt der Schulfrieden als gefährdet? Ist er bereits gefährdet, wenn eine Gruppe von Eltern sich gegen die Lehrerin zusammenschließt und eine Beschwerde einreicht? Wird deutschen Schulen die Option eingeräumt, auf die Befürchtungen und persönlichen, möglicherweise islamfeindlichen Ansichten von Eltern mit erneuten, diesmal „individuellen“ Verboten zu reagieren, anstatt durch aufklärerische Gespräche und Aktionen einer Beschneidung der persönlichen Religionsfreiheit entgegenzuwirken?
Selbstverständlich ist die Abschaffung des Kopftuchverbots durch das BVG in erster Linie ein positives Zeichen für religiöse Selbstbestimmung in Deutschland. Allerdings besteht durch die derzeitige Regelung immer noch die Möglichkeit, dass religiöse Traditionen aufgrund stereotypisierender Wahrnehmungen als angebliche Gefahr für den Schulfrieden ausgelegt werden. Wodurch weiterhin islamfeindlichen Gesinnungen der Eintritt in Deutschlands Klassenzimmer erleichtert wird.
Es besteht Gefahr, dass Frauen auf Umwegen ihres Verständnisses von einem ethischen Umgang mit ihrem Körper im Sinne ihrer Religion beraubt werden. Letztlich sind es nicht religiös identifizierbare Bekleidungsformen wie Ḫiǧāb, Ṭāqīyah, Kisui Rosh, Kippah oder verschiedene Ordenstrachten, sondern gerade undemokratische Gesinnungen, die eine Gefahr für die Klassenzimmer darstellen und ganz klar als religiös bedingte Diskriminierung einzustufen sind.
Neutrales Klassenzimmer?
Das in den vergangenen Wochen überstrapazierte Argument zahlreicher PolitikerInnen, Feministinnen und sogenannter IslamkritikerInnen, das Deutschlands Klassenzimmer ihren Stellenwert als neutrale, geschützte Räume – in denen Kinder und Jugendliche unbefangen lernen sollen – durch die Präsenz von Kopftuch tragenden Lehrerinnen verlieren würden, zeugt in vielerlei Hinsicht von einer einseitigen Betrachtungsweise:
Schulen und Klassenzimmer sind nie neutrale Räume gewesen, da sie Normen und Werte sowie gesellschaftliche Verhältnisse widerspiegeln, die in Bezug auf Chancen und Anerkennung stark von Ungleichheit geprägt sind. Auch sind sie die zentralen Orte gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse, in denen SchülerInnen zu kritischen, differenzierten Personen ausgebildet und in Berührung mit der Vielfalt der Gesellschaft gebracht werden können. Die Sichtbarkeit von Lehrerinnen mit Kopftuch könnte also vielmehr zur Repräsentation gesellschaftlich existenter Vielfalt beitragen, anstatt etwas zu verformen, dass nie existierte.
Was für ein Bild von „Deutschsein“ und was für ein Menschenbild vermitteln wir SchülerInnen, wenn wir kopftuchtragenden Musliminnen den Zugang zum Lehrinnenberuf und somit zu ihnen verschließen? Wir suggerieren, dass sie genau vor den Frauen geschützt werden müssen, denen sie tagtäglich in der U-Bahn begegnen, vor Frauen, die sie im Supermarkt, der Apotheke und bei ZARA bedienen, vor Frauen, die einem als Ärztinnen und Anwältinnen helfen und nicht selten – äußerlich gesehen – die eigene Mutter sein könnten. Wir schüren Angst vor Frauen, die Stoff um ihren Kopf gebunden haben. Die bereits in der Außenwelt stattfindenden Berührungspunkte im Klassenzimmer zu unterbinden, schafft kein „neutrales Klassenzimmer“. Es macht Deutschlands Klassenzimmer zu Schauplätzen religiös bedingter Diskriminierung und Saatfeldern zur Kultivierung von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit. Junge Schülerinnen wurden viele Jahre lang in einen Gewissenskonflikt gebracht, in dem sie erlebten und vorgelebt bekamen, dass sie sich zwischen Religion und Lehrerberuf entscheiden müssten. Der gesetzlich verankerte Gegensatz zwischen Religion (symbolisiert durch das Kopftuch) und gesellschaftlicher Partizipation (Lehrberuf) konnte zu muslimfeindlichen Vorurteilen beitragen, wonach muslimische Frauen sich vor allem durch die eigene Unterdrückung und Bildungsferne auszeichnen. Wir sind mitverantwortlich, wenn sich in den neuen Generationen Islamophobie und anti-muslimischer Rassismus herausbildet und Vorurteile über die Kleidung muslimischer Frauen im Informationszeitalter des 21. Jahrhunderts immer noch nicht abgebaut werden können, wenn wir uns des Argumentes „neutrales Klassenzimmer“ nicht entledigen.
Kopftuch als Zeichen der Unterdrückung?
Vorurteile dieser Art halten sich stetig. Die vergangenen Wochen zeigen auch, wie einige PolitikerInnen und in der Öffentlichkeit stehende Persönlichkeiten die fehlenden Berührungspunkte zu Kopftuch tragenden Frauen und das mangelnde Wissen über die islamisch-theologische Zielsetzung der Bedeckung in der Bevölkerung gezielt für Meinungsmache nutzen. Nur eine Woche nach der Verkündung des BVG-Urteils behauptete Bayerns Wirtschaftsministerin Ilse Aigner ungeachtet des aktuellen Forschungsstandes, dass mehr als 50 Prozent der Musliminnen das Kopftuch „als Zeichen einer nicht vorhandenen Gleichberechtigung“ empfänden.
Eine haltlose Aussage, die sowohl den immer wieder bekundeten Begründungen von Musliminnen, wieso sie ihre Haare bedecken und wie sie dazu stehen, als auch Ergebnissen aus der Wissenschaft widerspricht. Der Studie „Das Kopftuch – Entschleierung eines Symbols?“ der Konrad-Adenauer-Stiftung zufolge tragen es 97 Prozent der Trägerinnen schlichtweg aus der Überzeugung, dass es sich dabei um eine religiöse Pflicht handele.
Auch Dr. Reyhan Şahin stellt in ihrer Dissertation über „Die Bedeutung des muslimischen Kopftuchs“ fest, dass das Kopftuch als ein Zeichen der Emanzipation und sogar des Empowerments gedeutet werden kann, da die junge Generation der Trägerinnen einen fortschrittlichen, selbstbestimmten Lebensstil führt und „weil sich die Frauen mit einem oftmals modisch kombinierten Kopftuch selbst ermächtigen.“
Des Weiteren betont Şahin: „Natürlich kann man nicht davon ausgehen, dass alle Muslima par excellence emanzipiert sind – aber die junge Generation von MuslimInnen in Deutschland ist anders als die erste Generation, weil sie einen Zugang zum Bildungssystem hat, gesellschaftspolitisch engagiert und daran interessiert ist, als deutsche MitbürgerInnen innerhalb der deutschen Gesellschaft anerkannt zu sein. Die alten Bilder über ‚Muslime‘ in innerdeutschen Köpfen sind demnach zu korrigieren!“
Keiner kann die Tatsache wegleugnen, dass es Frauen gibt, die das Kopftuch unfreiwillig tragen. Doch genauso wenig ist zu leugnen, dass familiärer und gesellschaftlicher Druck sowie jahrelange „Kopftuchverbote“ in einzelnen Bundesländern, Lehrerinnen und solche die es werden wollen, dazu veranlassten kein Kopftuch zu tragen.
Erfolgreiche Kopftuchträgerinnen sind in der Öffentlichkeit immer sichtbarer. Frauen wie Dr. Tuba Işık, Kübra Gümüşay, Betül Ulusoy, Khola Maryam Hübsch und Seren Başoğul, die beeindruckende Karrieren eingeschlagen haben, demonstrieren die Vereinbarkeit von Kopftuch und karriereorientierter Selbstbestimmtheit. Vor diesem Hintergrund sind Aussagen wie die Ilse Aigners („auch unter dem Gesichtspunkt fehlender Gleichberechtigung kann ein Kopftuch kein Beispiel für unsere Jugendlichen und Kinder sein“) als nicht haltbare Vorurteile zu bewerten. Hier steht auch die Schule als Ort des Lehrens und Lernens in der Verantwortung, SchülerInnen eine differenzierte Wissens- und Erfahrungsgrundlage zu vermitteln. Und wie soll diese ohne die Präsenz von Kopftuchträgerinnen vermittelt werden?
Anderes Bild von Deutschsein bei jungen Menschen
Dass die Debatte eine bestimmte Richtung einnahm, liegt aber auch daran, dass die maßgeblich Betroffenen, nämlich die SchülerInnen selbst, kaum zu Wort kamen.
Was bei vielen Erwachsenen noch Kopfschütteln auslöst und befremdlich erscheint, ist für viele junge Menschen schon längst ein selbstverständlicher Teil des Alltags. Immer mehr junge Menschen führen einen transnationalen Lebensstil und sind geprägt von hybriden Identitäten. Ihre Lebenswirklichkeit ist stärker durch Heterogenität in der Gesellschaft und Migration bestimmt.
Ihre Vorstellung vom Deutsch-Sein ist eine andere als die vieler älterer MitbürgerInnen. Dass dies keine unbelegte These ist, demonstrieren uns die aktuellen Studienergebnisse der Forschungsgruppe JUNITED (Junge Islambezogene Themen in Deutschland). Ihnen zufolge sehen lediglich 45 Prozent der über 25-Jährigen, das Kopftuch bei Lehrinnen als ein individuelles Recht. Bei den 16- bis 25-Jährigen dagegen stolze 71 Prozent.
Ein Ergebnis das nicht deutlicher für sich sprechen könnte: Wir haben kein Problem mit dem Kopftuch, sondern ein verstärktes Anerkennungs- und Toleranzproblem bei älteren Erwachsenen, was im Gegensatz zum „neutralen Klassenzimmer“ keine Illusion ist. Aktuell Meinung
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Der Staat muss neutral bleiben. Ich will, dass meine Kinder weder mit Kruzifix, noch mit Kopftuch oder Kippa belästigt werden. Jeglicher Bekenntnisunterricht hat zu unterbleiben. Dafür sollte ein verpflichtender Ethikunterricht und vergleichende Religionswissenschaften eingeführt werden. Von daher haben weder Kippa, noch Kruzifx, noch Kopftuchträgerinnen etwas im Klassenraum zu suchen. Natürlich steht es jeder Glaubensgemeinschaft frei, Bekenntnisschulen in privater Trägerschaft zu unterhalten. Der Autor studiert Islamwissenschaften und scheint ein „bisschen“ voreingenommen. Warum müssen kleine Kinder immer kopfüber in die Soße der Herkunftsfamilie eingetunkt werden? Die Schule soll eigenständiges Denken lehren, ein universalistisches, gleichberechtigtes Menschenbild vermitteln und nicht das Hirn durch alte Sagen und Mythen vernebeln.
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Ich sehe durchaus die Gefahr, dass ein strenger Familienvater zu seiner Tochter sagt, wenn sogar eure Lehrerin das Kopftuch tragen DARF, dann MUSST du es tragen.
Weg mit allem religiösem aus der Schule, es sei denn private konfessionelle Schule.
Was einer zuhause und in der Öffentlichkeit macht, ist seine Privatsache
Harald Artur Irmer, Karlsruhe
Herr Begic verwendet den Begriff der „Diskriminierung“ falsch. Eine unzulässige Ungleichbehandlung nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) liegt dann vor, wenn jemand in einer vergleichbaren Situation aufgrund der Religion oder nichtreligiösen Weltanschauung eine weniger günstige Behandlung erfährt. Wenn es allen Lehrern aufgetragen ist sich bezüglich dem auffälligen Sichtbarmachen ihrer Religion oder nicht religiöse Weltanschauung gleichermaßen zurückzuhalten, liegt eine unzulässige Benachteiligung von Kopttuchträgerinnen nicht vor. Ich werde den Verdacht nicht los, dass es Herrn Begic in Wahrheit eher darum geht, ein Sondervorrecht für das Kopftuchtragen in der Schule zu schaffen und er nur reine Lobbyingarbeit für seine Religionsgemeinschaft betreibt. Beim optischen Neutralitätsprinzip geht es nicht um Religions-Bashing, sondern um ein faires Miteinander unter den gleichen Spielregeln für alle. Zurückhaltung mit dem zur Schau Stellen der eigenen Ideologie bedeutet gerade für Repräsentanten des Staates in öffen Schulen Respekt vor Andersdenkenden. Es wäre auch völlig unpassend, wenn ein Lehrer seine atheistische, kemalistische oder marxistische Gesinnung allen anderen tagtäglich durch Buttons, Kopfbedeckungen oder T-Shirts aufdrängt. Religion und Weltanschauuung sind Privatsache und gehören ins Privatleben! Ich wünsche Berlin viel Mut und Kraft dabei das gerechte Berliner Neutralitätsgesetz aus dem Jahr 2005 vor Lobbyisten zu verteidigen, die nur gruppenegostische Interessen verfolgen.