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Ein Wahlraum © Landtag NRW, bearb. MiG

Echte Demokratie wagen!

Ein Plädoyer für die Ausweitung des Wahlrechts auf Ausländer

Vergangene Woche hat sich der niedersächsische Landtag mit großer Mehrheit für ein kommunales Ausländerwahlrecht ausgesprochen. SPD, Grüne und FDP sehen darin einen Schritt zur Anerkennung und Integration von rund 175.000 Einwanderern in Niedersachsen. Nur die CDU lehnte den Antrag ab. Ausländer könnten sich einbürgern lassen wenn sie das Wahlrecht wollen. Zurzeit sind bei Kommunalwahlen nur Deutsche und hier lebende Angehörige anderer EU-Staaten aktiv wie passiv wahlberechtigt. Miriam Aced und Tamer Düzyol plädieren für eine Öffnung des Wahlrechts für alle Ausländer.

Von Miriam Aced, Tamer Düzyol Donnerstag, 23.07.2015, 8:23 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 07.05.2024, 10:15 Uhr Lesedauer: 6 Minuten  |  

Im September 2013 konnten sich 6 Millionen Ausländer nicht an den Bundestagswahlen beteiligen. In Berlin können ca. 14 %, in Hessen ca. 13 %, in Bremen ca. 12 % und in Nordrhein-Westfalen ca. 11 % der Menschen im wahlberechtigten Alter sich nicht an den Landtagswahlen beteiligen. In sechs Bundesländern liegt diese nicht-Wahlberechtigten-Quote bei über 10 %.

Nimmt man Kommunalwahlen unter die Lupe, wird die Notwendigkeit für die Neuordnung des Wahlrechts noch deutlicher. Obwohl Unionsbürger bei Kommunalwahlen mitwählen dürfen, ist die nicht-Wahlberechtigten-Quote in manchen Kommunen sehr hoch: in Frankfurt a. M. liegt sie bei 16 %, in München bei 15 % und in Köln bei 13 %.

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Diese demokratische/partizipative Schieflage darf nicht weiter außer Acht gelassen werden. Nur durch eine Ausweitung des Wahlrechts auf formalrechtliche Ausländer, die in Deutschland residieren, auf der Bundes-, Landes- und Kommunalebene, kann die BRD einen wahren Schritt in Richtung echte Demokratie machen 1.

Wer rechtsunterworfen ist sollte mitbestimmen dürfen

Das Wahlrecht wird im Grundgesetz und in Bundes-, Landes- und den kommunalen Wahlgesetzen geregelt. Das Bundeswahlgesetzt und die Landeswahlgesetze unterscheiden sich kaum voneinander. Sie setzen das Wahlvolk mit dem Staatsvolk gleich. Dagegen wird das Wahlvolk bei den Kommunalwahlen um EU-Staatsbürger erweitert. Dieser Fortschritt erfolgte im Zuge der EU-Integration in den Anfängen der 1990er Jahre durch den Maastrichter-Vertrag. Allerdings führt diese Situation bei der Wohnbevölkerung bezüglich des Wahlrechts zu einer Schichtung der Gesellschaft: An der Spitze stehen deutsche Staatsbürger, die in drei Ebenen wählen dürfen, gefolgt werden sie von den Unionsbürgern, die sich an Kommunalwahlen beteiligen dürfen. Drittstaatsangehörige haben hingegen gar kein Wahlrecht.

De facto verliert die Staatsbürgerschaft ihren inklusionären Charakter und erhält einen ausgrenzenden. Durch das existierende Wahlrecht wird eine „sozial gefährliche“ und „moralisch herabwürdigende“ 2 Situation mit einer Gesellschaftsgruppe geschaffen, die zwar rechtsunterworfen ist, also den Gesetzen folgen und Steuern bezahlen muss, jedoch ohne selbst ein Mitspracherecht zu haben.

Deswegen reicht die Ausweitung des Wahlrechts auf formalrechtliche Ausländer auf kommunaler Ebene nicht aus, denn die Entscheidungen auf Landes- sowie Bundesebene, zum Beispiel in Bereichen wie Steuer-, Gesundheits- und Bildungspolitik, sind mindestens genauso wichtig, wie die auf kommunaler Ebene.

Die hessische Landtagswahl in 1999 dient als gutes Beispiel. Zu dieser Zeit war die doppelte Staatsbürgerschaft bundesweit scharf im Visier. Als Roland Koch (teilweise dank einer CDU-FDP-überfremdungsangstgesteuerten Kampagne gegen den Doppelpass) die Landtagswahl gewann, änderte sich ebenso die Zusammenstellung des Bundesrats. Die Rot-Grünen verloren ihre Mehrheit und damit ihre Chance auf Liberalisierung des Doppelpasses. Die erste echte Chance das Staatsangehörigkeitsgesetz von 1913 zu ändern, wurde durch eine Landtagswahl, an dem ungefähr 730.500 Menschen 3 oder 12% der hessischen Bevölkerung nicht teilnehmen konnten, abgeschafft.

Demokratie gilt nicht für alle

Richtet man den Blick auf das Thema aus der Perspektive der gelebten Demokratie, so entsteht eine Gesellschaftsgruppe, die viel von „Demokratie“ hört, aber ein wichtiges Ritual dessen nicht ausüben darf. Der Volksentscheid über die Zukunft des Tempelhofer Feldes als konkretes Beispiel zeigt, wie ein Teil der Wohnbevölkerung, 487.000 4 formalrechtliche Ausländer, zu einer Entscheidung über ein Thema, die ihr direktes Lebensumfeld betrifft, aus dem direktdemokratischen Entscheidungsprozess ausgeschlossen wurde. Was bedeutet solch ein Vorgehen für die Demokratie in Deutschland? Oder ist das Demokratie-Label ein Mythos?

Das Institutionsvertrauen kann durch Wahlrecht gestärkt werden

(Post-)Migranten werden in Deutschland in vielen Institutionen unterrepräsentiert, vor allem in den staatlichen. Dies mitunter erklärt, weshalb besonders aus (post-)migrantischer Perspektive ein schwaches Institutionsvertrauen existiert. Die NSU-Katastrophe hat dieses Vertrauen nachhaltig geprägt beziehungsweise rechtfertigt ihn. Nur durch das Gefühl, Teil des Systems zu sein, auch des legislativen (und das ist nicht die einzige Bedingung), kann ein positiver Einfluss auf das Institutionsvertrauen ausgeübt werden, wofür auch weitere Reformen nötig sind. Hier ist es wichtig zu betonen, dass die Last des steigernden Vertrauens nicht von (Post-)Migranten getragen werden sollte, sondern von den Institutionen – die Institution Wahlrecht, die Institution Verfassungsschutz, die Institution Racial Profiling etc.

Im Jahre 1990 erklärte das Bundesverfassungsgericht die Gesetze von Schleswig-Holstein und Hamburg zur Ausweitung des Kommunalwahlrechts auf formalrechtliche Ausländer für verfassungswidrig. Ein Hauptargument des Gerichts bezog sich auf die Gleichsetzung von Staatsvolk und Wahlvolk. Weil formalrechtliche Ausländer nicht zum Staatsvolk gehören, wurde ihnen die Zugehörigkeit zum Wahlvolk abgesprochen. Auch der Staatsgerichtshof der Freien Hansestadt Bremen lehnte im Januar 2014 das Gesetz der Bremischen Bürgerschaft, das das aktive und passive Wahlrecht den Unionsbürgern auf Landesebene und Drittstaatsangehörigen auf kommunaler Ebene ermöglichen sollte, mit dem selben Argument des Bundesverfassungsgerichts ab.

Wenn dieses Gleichnis nüchtern betrachtet wird, dann erkennt man, dass bereits die Kongruenz von Staatsvolk und Wahlvolk nicht existiert. Minderjährige und Wahlberechtigte, deren Wahlrecht durch einen Richterspruch entzogen wird, gehören zwar zum Staatsvolk, aber nicht zum Wahlvolk. Menschen im wahlberechtigten Alter mit einer geistigen Behinderung, denen durch einen Gerichtsbeschluss eine Betreuung aller Lebensbereiche bestimmt wurde und Personen, die sich aufgrund einer Anordnung in einem psychiatrischen Krankenhaus befinden, gehören nicht dem Wahlvolk an, obwohl sie zum Staatsvolk zugehören. Sogenannte Unionsbürger gehören auch nicht zum Staatsvolk, jedoch auf kommunaler Ebene zum Wahlvolk. Dieses Gleichnis Staatsvolk = Wahlvolk ist heute de facto nicht gültig. Was führt dann zu der Barriere formalrechtliche Ausländer nicht wählen zu lassen? Weshalb wird die Verbindung zwischen Staatsvolk und Wahlvolk als Grund der Entrechtung für formalrechtliche Ausländer benutzt, aber nicht für EU-Bürger. Dieses offenbare Paradox würde mit einer Entkopplung des Wahlrechts von dem sog. Staatsvolk aufgehoben werden. 5

Die Erweiterung des Wahlrechts ist keine juristische Frage, sondern eine politische. So wie sich das Frauenwahlrecht zu einem unveränderbarem Axiom entwickelt hat, so ist die Erweiterung des Wahlrechts auf formalrechtliche Ausländer zu sehen. Sie ist als eine natürliche Folge der Migration zu sehen und ist eng mit der Frage um Gleichberechtigung, politische Teilhabe, echte Demokratie und dem Umgang mit Vielfalt in einem Einwanderungsland verbunden.

  1. Der vorliegende Artikel lehnt sich an die Aufsätze: Aced, Miriam & Düzyol, Tamer (2014). Wahlrecht für formalrechtliche Ausländer*innen – Die Notwendigkeit einer Reformierung des Wahlrechts, in: Aced, Miriam et al. (Hg.), Migration, Asyl und (Post-)Migrantische Lebenswelten in Deutschland. Bestandsaufnahme und Perspektiven migrationspolitischer Praktiken. Münster: Lit, 245-263; Aced, Miriam & Düzyol, Tamer (2013). Delinking the Right to Vote from National Citizenship. Thoughts on Germany. Open Citizenship 4(2), 22-37.
  2. Etienne Balibar bewertete diese Situation der formalrechtlich ausländischen Arbeiter ohne Wahlrecht in Frankreich als “sozial gefährlich” und “moralisch herabwürdigend” (Balibar, Etienne [1993]. Die Grenzen der Demokratie. Hamburg: Argument, S. 33).
  3. Tischler, Lothar C. et al. (2002). Migrationsreport Hessen 2002: Bevölkerung, Ausbildung und Arbeitsmarkt Schrader Stiftung URL: http://archiv.schader-stiftung.de/docs/migrationsreport_hessen_2002.pdf [PDF-Datei] [Stand: 23.02.2015].
  4. Amjahid, Mohamed (2014). Volksentscheid: 487000 dürfen nicht mitmachen. Der Tagesspiegel. [Stand: 16.02.2015].
  5. Es ist wichtig hier zu erwähnen, dass die Autorin und der Autor keineswegs die Entrechtung des Wahlrechts von Minderjährigen, Menschen mit geistiger Behinderung oder Menschen, deren Wahlrecht durch einen Richterspruch entnommen wurde, unterstützen.
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  2. Alexei sagt:

    Da kriege ich Magenkrämpfe.Das würde doch Drittstaaten die Möglichkeit geben Deutsche Politik beziehlt zu beeinflussen.Das Erdogan türkischstämmige Deutsche für seine Interessen einspannen will kommt schon mal vor.Man stelle sich das aber mal bei gewissen anderen Staaten vor.Da schüttelt es einen ja richtiggehend.