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Performance der kanadischen Künsterlin Su-Feh Lee © Migrant Bodies

Konferenz: Migrant Bodies

Tunesische Mütter, die keinen Fisch mehr kochen

Die Konferenz "migrant bodies" im italienischen Bassano del Grappa ist anders. Dort gibt es nicht nur Theorie, sondern Erfahrung mit Tanz und Theater, begehbare Videoinstallationen und Erzählungen, die unter die Haut gehen.

Von Mittwoch, 08.07.2015, 7:24 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 09.07.2015, 16:47 Uhr Lesedauer: 3 Minuten  |  

Ich bin falsch angezogen – schwarzer Rock, helle Bluse sind für gewöhnlich genau das richtige Outfit für eine Konferenz, aber „migrant bodies“ in Bassano del Grappa bei Venedig ist anders. Hier geht es nicht nur theoretisch um den Körper und was Migration mit ihm macht. Hier sollen sich die Konferenzteilnehmer auch auf physischer Ebene mit dem Phänomen der Migration auseinandersetzen.

Für mich heißt das Notizheft und Stift wieder wegpacken und stattdessen mit anderen Konferenzteilnehmern wild durch die Gegend tanzen. Roberto Casarotta – Leiter des lokalen Tanztheaters und Mitveranstalter der Konferenz – hat den Innenhof des städtischen Museums kurzerhand zur Tanzfläche erklärt. Nicht alle Konferenzteilnehmer lassen sich auf das Experiment ein, aber die, die es tun, strahlen zufrieden am Ende der 45 Minuten. „In der heutigen digitalen Zeit vergessen wir allzu leicht, dass wir einen Körper haben. Wir Tänzer und Choreografen wissen aber, dass Worte, Sätze und Theorien allein den Kern eines Phänomens gar nicht erfassen.“

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Und so sind begehbare Videoinstallationen, Tanztheaterstücke und live Performances genauso Teil dieser Abschlusskonferenz wie Gesprächsrunden mit Experten. „Schon von Anfang an im Jahr 2013 wollten wir mit dem Projekt ‚migrant bodies‘ mit dem Begriff Migration spielerischer und vor allem physischer umgehen“, erzählt Elisabetta Bisaro. Sie arbeitet für ein Kulturzentrum in den Außenbezirken von Paris. „Um uns herum gibt es eine große asiatische Community aber auch viele Araber. Als wir beschlossen das Projekt zu unterstützen, war das wichtigste für uns mit diesen Gruppen in Kontakt zu kommen.“ Und genau diese Kontaktaufnahme ist in den Arbeiten der Tänzer, Choreografen und Video-Künstler teilweise auf beeindruckende Art und Weise gelungen.

Der Kroate Antonio Gabelic filmt aus dem Auto heraus. Zu sehen sind Mittelstreifen von Straßen, Stoppschilder, Zäune, Fußgängerübergänge, Grenzhäuser – all diese Orte menschenleer und monoton. In präzisen Untertiteln stellt er dann einige der wichtigsten Fragen der europäischen Migrationspolitik. Interessiert sich Europa überhaupt für die Fluchtgeschichten derer, die nach Europa kommen? Oder existieren Migranten nur noch als Zahlenwerk und Quotenregelung?

Jacques Hoeppfner lässt die Migranten selbst von ihren bitteren Erfahrungen berichten. So fasst eine Italienerin, die in Paris lebt, den Rassismus im Alltag so zusammen: „Sobald ein Makler den arabischen Nachnamen meines Freundes hört, ist das Gespräch beendet! Wenn das so weiter geht, werden die Außenbezirke von Paris immer braun und arm bleiben und die Innenbezirke weiß und reich sein.“

Um diese sozialen und politischen Implikationen von Migration dreht sich auch die Expertenrunde. Auffällig dabei, die geladenen Politiker und NGO-Vertreter sprechen zwar über Ankünfte von Flüchtlingsbooten über das Mittelmeer, aber meiden alle den Begriff des „Flüchtlingsstroms“.

Der Vizebürgermeister von Lampedusa beschreibt die Lage so: „Durch unsere Nähe zu Afrika retten wir immer wieder Menschen aus Seenot. Aber Tatsache ist: Lampedusa ist nicht die Insel der vielen Überlebenden, sondern die Insel der vielen Toten.“ Tatsächlich schafft nur ein Bruchteil der Bootsflüchtlinge die Überfahrt nach Europa. Carlo Zagato arbeitet für eine regierungsunabhängige Flüchtlingsorganisation und formuliert das so: „Wir haben zu wenig Fakten und zu viele Mythen, wenn es um das Thema Migration geht. Fakt ist zum Beispiel, dass es bisher nicht eine Untersuchung darüber gibt, wie viele Menschen bei der Überfahrt nach Europa tagtäglich ertrinken.“

Was diese Ignoranz bedeutet, wird mir auf eine sehr intensive Weise in der Live-Performance der kanadischen Künsterlin Su-Feh Lee deutlich. Sie empfängt uns in einem abgedunkelten Raum. Nie mehr als 20 Personen dürfen auf den Bierbänken Platz nehmen. Auf dem Boden sitzt die Künstlerin mit ihrem Laptop und trägt vor. Es sind Geschichten rund um die eigene Migration aus Malaysia, aber auch Geschehnisse und Gedichte, die sie während der letzten zwei Jahre Arbeit am Projekt „migrant bodies“ gesammelt hat. Und so berichtet sie von den Müttern in tunesischen Fischerdörfern, die keinen Fisch mehr kochen. Es sei das Fleisch ihrer Söhne und Töchter, die bei der Überfahrt nach Europa verstorbenen sind. Aktuell Feuilleton

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