Livia Patrizi
Um Tanz zu verstehen, muss man das Alphabet des Tanzes kennen
„Mich beschäftigt noch immer Ihre Frage, ob mein Hintergrund eine Rolle spielt. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur in Bezug auf mich, dass ich die Fähigkeit habe, mit vielen unterschiedlichen Menschen klarzukommen.“ - Livia Patrizi im Gespräch mit MiGAZIN.
Von Anika Schwalbe Freitag, 18.03.2011, 8:30 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 31.10.2011, 19:44 Uhr Lesedauer: 10 Minuten |
Anika Schwalbe: Frau Patrizi, Sie kommen ursprünglich aus Italien. Was hat Sie nach Deutschland verschlagen?
Livia Patrizi: Ich hatte mich in Paris in einen jungen Mann verliebt, der in Münster wohnte. Damals war ich auf der Suche nach einer Tanzausbildung im Ausland und Münster war in der Nähe von Essen, wo es eine Tanzschule gab, die Folkwang Hochschule. Also habe ich mich dort beworben. Als ich genommen wurde, war ich total froh: Ich konnte tanzen und in seiner Nähe sein.
Schwalbe: Sind Sie mit dem jungen Mann heute noch zusammen?
Patrizi: Nein, das war ja 1985. Aber wir kennen uns noch.
Schwalbe: Spielt Ihr eigener nichtdeutscher Hintergrund für die Schüler, die Sie unterrichten, und für die Lehrer der Schulen eine Rolle?
Patrizi: Das weiß ich nicht genau. Ich vermute ja. Für mich sind solche Fragen immer schwierig. Ich habe in so vielen Ländern gelebt, spreche mehrere Sprachen und bin es einfach gewöhnt, mit Leuten umzugehen, die nicht meine Sprache sprechen. Ich merke es gar nicht mehr. Es kann sein, dass es für die Leute wichtig ist. Für mich ist es das nicht.
Schwalbe: Die Tanzlehrer von TanzZeit kommen auch aus sehr unterschiedlichen Ländern. Ist das Absicht?
Patrizi: Das ist für Tanz ganz typisch. Viele Tänzer studieren im Ausland und machen eine internationale Karriere. Sie können theoretisch überall auf der Welt tanzen. In dieser Kunst gibt es keine Probleme mit Texten oder Ähnlichem.
Livia Patrizi ist Choreographin und Gründerin von „TanzZeit – Zeit für Tanz an Schulen“. Ein Projekt, das Kindern und Jugendlichen an Schulen die Möglichkeit gibt, von ausgebildeten Tänzern und Choreographen Tanzunterricht zu erhalten. Schulen mit kleinen bzw. gar keinen finanziellen Mitteln können dank Unterstützung von diversen Institutionen und Vereinen genauso daran teilnehmen wie Schulen mit großem finanziellem Spielraum. Vor TanzZeit war Livia Patrizi viele Jahre mit großen Tanzensembles als professionelle Tänzerin in vielen Ländern unterwegs. Heute nach sechs Jahren spricht sie noch immer enthusiastisch von ihrem Tanzprojekt und verfolgt ganz klare Ziele.
Schwalbe: Müssen die Tänzer für dieses Projekt Deutsch sprechen?
Patrizi: Es ist mit Sicherheit von Vorteil. Allerdings haben wir auch ein paar, die nicht so gut Deutsch sprechen und trotzdem unterrichten. Beim Tanz geschieht viel über den Körper und außerdem unterrichten wir immer zu zweit, sodass sich die Tanzlehrer gegenseitig helfen können.
Schwalbe: Haben Sie das Gefühl, dass Ihr Projekt leicht als Integrationsprojekt abgestempelt wird?
Patrizi: Ja, das wird gerne genutzt.
Schwalbe: Finden Sie das gut?
Patrizi: Es ist traurig, dass offensichtlich ein Bedarf besteht, es noch im Jahr 2011 in Europa als Integrationsprojekt zu bezeichnen. Und was ist eigentlich Integration? Ich bin da ein bisschen skeptisch. Wir arbeiten in der Tat viel mit Migrantenkindern, weil wir viel in benachteiligten Schulen arbeiten. Das Problem, dass diese Schulen haben, ist für mich aber eher ein Problem von bildungsfernen Häusern, von sozialen Problemen und nicht vom Migrationshintergrund der Schüler.
Schwalbe: Wie würden Sie es selbst bezeichnen?
Patrizi: Es ist ein künstlerisches Projekt. Wenn Kunst erfolgreich vermittelt wird, kann es integrativ wirken und die Sozialkompetenz stärken. Wir nennen das “Kollateral-Gewinn“. Es als Integrationsprojekt oder auch soziales Projekt allein zu sehen, würde bedeuten, die Kraft, die der Kunst allein innewohnt zu mindern.
Schwalbe: Wie war Ihre Schulzeit?
Patrizi: Meine Mutter war eine sehr gebildete aber nicht eingebildete Frau, und als ich fünf Jahre alt war, schickte sie mich auf eine ganz normale Schule, eine Schule, die man mit denen in Kreuzberg oder Neukölln vergleichen kann. Ich hatte beide Welten. Für mich waren die Fremden die Kinder, die kein Italienisch sprachen. Sie sprachen auch zu Hause nur napolitanisch, also kein Hochitalienisch. Aber nach kurzer Zeit war es für mich eine Bereicherung, zu merken, dass ich mit denen auch befreundet sein kann. Es war für mich normal, mit den Kindern der Freunde meiner Mutter über Bücher zu sprechen und mit den anderen Kindern auf der Straße zu spielen.
Schwalbe: Ist das in Deutschland so anders?
Patrizi: Ja, so etwas gibt es hier nicht. Die Kinder werden hier früh getrennt, sie bleiben nur unter sich. Es ist ein soziales Problem, ein Schichtenproblem. Ich bin auch Migrant, ich bin bestens integriert. Als ich in Essen die Schule besucht habe, hat mir meine Mutter Geld für das Studium gegeben. Viele Kinder, deren Eltern von Italien als Gastarbeiter nach Deutschland kamen, landen auf der Sonder- oder Hauptschule, weil ihre Eltern mit dem Schulsystem nicht zurechtkommen. Es sind eben nicht nur die Kinder der muslimischen oder türkischen Eltern. Deutschland muss sich fragen, warum das so ist und was man dagegen tun kann. Ich glaube, dass Kinder grundsätzlich für andere Menschen und Erfahrungen offen sind, auch wenn es ihre Eltern nicht sind. Und daran müsste man arbeiten.
Schwalbe: Unterrichten Sie auch in Gymnasien?
Patrizi: Ja, auch diese Kinder sollen in den Genuss von Tanz kommen. Wir haben festgestellt, dass es viele Kinder gibt, die sehr verkopft sind, wo der Körper schon so früh keine Rolle mehr spielt. Und das ist sehr schade. Sport ist einfach nicht das Gleiche. Wir haben zum Beispiel neulich in einer Schule mit der Jugendcompany einen Workshop gegeben. Dort gab es ein Mädchen, das sehr groß und dick war, aber sich wahnsinnig gut bewegte. Und ich glaube, sie hat noch nie für eine Aktivität, die sie mit ihrem Körper gemacht hat, ein Kompliment bekommen. Sie war total überrascht. Es zeigt, dass im Tanz der Körper jenseits von der offensichtlichen Ästhetik, die uns heute bestimmt, helfen kann, sich wohler im eigenen Körper zu fühlen. Man kann sich ganz anders ausdrücken. Es besitzt eben eine Schönheit, eine Kraft jenseits von diesem Kanon.
Schwalbe: Haben Sie das Gefühl, dass tanzen in Deutschland unterbewertet ist?
Patrizi: Nicht nur in Deutschland, das ist ein Phänomen der westlichen Welt. Tanzen ist hier eine der ärmsten Kunstformen, die am wenigsten Anerkennung erfährt.
Schwalbe: Mit dem Tanzen ist es wie mit dem gemeinsamen Singen. Beides ist Teil der Kultur. Warum verschwindet es?
Patrizi: Dafür gibt es viele Gründe. Das Grundwissen, das man bei Musik, Kunst und Theater hat, wird in Bezug auf das Tanzen eigentlich nirgendwo vermittelt. Tanzen ist in der Schule kein eigenständiges Fach, es soll laut Lehrplan im Sport- oder Musikunterricht vermittelt werden. Aber dies geschieht häufig nicht, weil die Lehrer in ihrer Ausbildung nichts oder nur rudimentär vom Tanz erfahren haben.
Schwalbe: Kann man Tanz nicht einfach so unterrichten?
Patrizi: Nicht wirklich. Mit dem Tanz ist es wie mit einem Gedicht. Wenn Sie nicht wissen, dass es eine Form wie Gedichte gibt, wundern Sie sich, warum es so komisch geschrieben ist. Erst, wenn Sie also das Alphabet des Tanzes kennen, verstehen Sie Tanz. Sie können entscheiden, was Ihnen gefällt. Tanz als Kunstform ist den meisten Menschen nicht bekannt und es gibt einfach zu wenig Menschen, die etwas davon verstehen und bereits heute oder später Entscheidungsträger in der Politik und in Stiftungen sind. Das ist ein Teufelskreis.
Schwalbe: Dennoch will man die Erfolge prüfbar machen. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung hat an der Freien Universität eine Studie in Auftrag gegeben, die die Wirkung Ihres Projektes untersuchen soll. Wird Ihre Arbeit dadurch in Frage gestellt?
Patrizi: Im Gegenteil, es ist sogar positiv. An und für sich wird zu künstlerischer Arbeit an Schulen sehr wenig geforscht und von Tanz ganz zu schweigen. Ich glaube, die Studie zeigt Interesse an Tanzprojekten in Schulen. Wir haben uns sehr gefreut, weil wir und andere Projekte nicht die Mittel haben, so eine Studie von Externen durchführen zu lassen. Aus Erfahrung weiß ich jedoch, dass für eine solche Untersuchung viel mehr Zeit eingeräumt werden müsste. Aber es ist trotzdem toll, da das Bundesministerium für Bildung und Forschung im Vergleich zu anderen Untersuchungen schon einen deutlich längeren Zeitraum eingeplant hat.
Schwalbe: Es gibt neben den Projekten an Schulen auch eine Jugendcompany. Reicht der Unterricht an Schulen nicht?
Patrizi: Wir haben uns gefragt, was passiert, wenn das Projekt in der Schule aufhört und Jugendliche weitertanzen wollen. So kamen wir auf die Idee der Jugendcompany, die nicht nur für Schüler ehemaliger TanzZeit-Klassen ist. Viele Jugendliche kommen über Freunde und Bekannte. Die Idee ist, eine Gruppe zu schaffen, die sehr gemischt ist: junge Menschen aus ganz verschiedenen Elternhäusern und ganz verschiedenen Ländern. Diese können so auch als Vorbild für Jüngere und für Schulklassen dienen.
Schwalbe: Inwiefern?
Patrizi: Einige unterrichten mittlerweile selbst. Es ist einfach etwas anderes, wenn man von einem Gleichaltrigen etwas lernt. Gerade an Schulklassen in sogenannten sozialen Brennpunkten macht es einen Unterschied, ob ein 30-jähriger professioneller Tänzer sie unterrichtet oder ein junger, türkischer Mann. Die Schüler merken: Das ist einer von uns, obwohl er diese vielleicht komische Art zu tanzen mag. Und er ist richtig gut und kann toll unterrichten.
Schwalbe: Sie sehen gerade so nachdenklich aus.
Patrizi lächelt: Mich beschäftigt noch immer Ihre Frage, ob mein Hintergrund eine Rolle spielt. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur in Bezug auf mich, dass ich die Fähigkeit habe, mit vielen unterschiedlichen Menschen klarzukommen. Die Erfahrung, die ich während meiner Companyzeit in den vielen Ländern mit unterschiedlichen Menschen, die nicht meine Sprache sprachen, gesammelt habe, hilft mir. Ich kommuniziere anders. Und ich glaube, das hat einen positiven Einfluss darauf, wie ich in diesem Projekt mit den Schülern und Lehrern umgehe.
Schwalbe: Verfolgen Sie zurzeit ein konkretes Ziel mit Ihrem Projekt?
Patrizi: Wir verfolgen immer Ziele. Es gibt viel zu viel Neues, was wir anstoßen können und ich bin nicht der Typ, der sich zufriedengibt, wenn es einfach nur Jahr für Jahr gut läuft. Was ich längerfristig verfolge, ist der Aufbau einer guten Angebotskette: Man fängt in den Schulen an, bietet außerhalb des Lehrplans Projekte wie die Jugendcompany und ermöglicht eine Art Vorausbildung, um Einblicke in Berufe rund um den Tanz zu erhalten und sich danach entscheiden zu können, was man machen möchte. Sodass man ein Angebot von A bis Z rund um das Thema Tanz schafft.
Schwalbe: Was bedeutet Tanz für Sie?
Patrizi: Ich glaube, ich kann das heute besser sagen als früher, weil ich jetzt nicht mehr selber tanze.
Schwalbe: Sie tanzen gar nicht mehr?
Patrizi: Nein, das hat sich durch das Projekt einfach so ergeben. Aber ich glaube, es kommt wieder. Ich weiß nur nicht in welcher Form. Ich hab vorher mit großen Companies getanzt, aber nach der Geburt meiner Kinder war es schwierig für mich, dieses Leben weiterzuführen. Man ist lange auf Tournee und erzieht seine Kinder gar nicht mehr selbst. Ich hatte Gott sei Dank früh genug mit dem Projekt TanzZeit angefangen und mit der Arbeit in Companies aufgehört, als mein erstes Kind in die Schule kam. Ich bin mir sicher, ich werde wieder tanzen. Man kann ja auch tanzen, wenn man älter ist.
Schwalbe: Fehlt Ihnen der Tanz?
Patrizi: Ja. Aber jetzt, wo ich keine Zeit habe, merke ich, dass ich es nicht wegen der Bühne und dem Publikum vermisse, das habe ich lang genug gehabt. Ich merke einfach, wie wichtig es ist, Dinge, die einen beschäftigen, anders als mit Worten auszudrücken, mit dem Körper zu verinnerlichen. Das vermisse ich. Tanz ist eine Gabe, um das, was ich bin, was ich erlebe und vielleicht auch, was ich mir wünsche, auszudrücken. Wir sind eben nicht nur das, was wir sagen. Es gibt Vieles, was wir nicht sagen oder nicht sagen können. Es ist Geschenk, tanzen zu können. Feuilleton Interview
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Für den schönen Beitrag „Danke Schön“. Zu Livia Patrizi: Bravo….
Livia Patrizi hat absolut recht. Jeder, der sich in Europa ein wenig auskennt, wird das bestätigen. Der Kontakt zwischen den Schichten funktioniert woanders deutlich leichter und unbefangener. Das ist in der Tat SO anders, auch wenn Anika Schwalbe das nicht recht glauben mag.
Aber der Akademiker hierzulande arbeitet dran, an seiner intersozialen Kompetenz. Was der Deutsche von Geburt nicht hat, muß er sich immer erarbeiten. Der neueste Trend ist: Fußball statt Geige, Spielplatz statt Hochbegabtenförderung.