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Bade, Klaus J. Bade, Prof. Bade, Klaus Bade
Prof. Dr. Klaus J. Bade, Gründungsvorsitzender des Sachverständigenrates deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR) 2008-2012

Bades Meinung

Zur Karriere und Funktion abschätziger Begriffe in der deutschen Asylpolitik

In der politischen Polemik gegen "Asylmissbrauch" haben gefährliche Kampfbegriffe Karriere gemacht: von der Prägung in denunziatorischer Absicht über den Alltagsgebrauch bis zur Bestätigung durch lexikalische Festschreibungen. Von Prof. Klaus J. Bade

Von Montag, 29.06.2015, 8:25 Uhr|zuletzt aktualisiert: Samstag, 30.11.2024, 10:33 Uhr Lesedauer: 20 Minuten  |  

Artikel 16, Absatz 2, Satz 2 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland von 1949 umfasste bewusst nur vier Worte: „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“. Das war die generöse Antwort auf die Erfahrung der Aufnahme, aber auch Nichtaufnahme (z.B. in der Schweiz) der von den Nationalsozialisten Verfolgten. Das Grundrecht war bewusst so umfassend und ohne jede Einschränkung formuliert worden, trotz aller Bedenken in der intensiven Diskussion im Parlamentarischen Rat im Winter 1948/49. 1 Hermann von Mangoldt (CDU) betonte ausdrücklich, „wenn wir irgend eine Einschränkung aufnehmen würden, wenn wir irgendetwas aufnehmen würden, um die Voraussetzungen für die Gewährung des Asylrechts festzulegen, dann müsste an der Grenze eine Prüfung durch die Grenzorgane vorgenommen werden. Dadurch würde die ganze Vorschrift völlig wertlos.“ 2

Historische Erfahrungen

Schutzbedürftigkeit hatte es im nationalsozialistischen Deutschland und später im von Deutschland besetzten Europa während des Zweiten Weltkriegs für aus politischen, religiösen, rassistischen und anderen Gründen Unterdrückte, Entrechtete und Verfolgte gegeben, unter ihnen besonders Menschen jüdischen Glaubens. Nicht wenige Länder der Welt hatten dem bald tödlichen antisemitischen Terror in Deutschland lange tatenlos zugesehen oder aus den verschiedensten Gründen auch demonstrativ weggesehen.

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Auf der Konferenz von Evian 1938 verhandelten zwar Vertreter von 32 Staaten und von vielen, auch jüdischen Hilfsorganisationen über die Erleichterung der Einreise für die vom NS-Staat terrorisierten und zunehmend in tödlicher Gefahr lebenden Juden aus Deutschland. Unterhalb wohlklingender humanitärer Erklärungen gab es auf der Ebene der konkreten Hilfs- und Aufnahmebereitschaft vorwiegend ablehnende Voten oder hinhaltende Ausflüchte, nicht selten auch rassistische Stellungnahmen und sogar die Rede vom „Missbrauch des Asylrechts“ durch einreisewillige NS-Verfolgte. 3

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Der österreichische Schriftsteller Alfred Polgar schrieb unter dem Eindruck der Konferenz von Evian 1938: Internationale Verhandlungen, die zur Erörterung der Frage „Wie schützt man die Flüchtlinge?“ einberufen worden seien, beschäftigten sich in Wahrheit vor allem mit der Frage: „Wie schützen wir uns vor ihnen?“ 4 Einige Jahrzehnte nach der Aufnahme des offensten Asylrechts der Welt in das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland 1949 zeichnete sich in Deutschland und in der Europäischen Union eine durchaus ähnliche Ambivalenz ab. 5

Daran erinnerte 2008 eine vom Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin und der Bundesarbeitsgemeinschaft für Flüchtlinge Pro Asyl veranstaltete Berliner Konferenz unter dem Titel „Festung Europa. 70 Jahre nach Evian. Menschenrechte und Schutz von Flüchtlingen“. Der Vorstandssprecher von Pro Asyl, Heiko Kauffmann, erklärte auf dieser Konferenz: Mit ihrem Konzept von Abschottung und Abweisung erinnere die Politik der EU sieben Jahrzehnte nach Evian „fatal an die heuchlerische humanitäre Beschwörungs- und Mitleidsrhetorik und an ihren in der Sache jedoch unerbittlich harten Abwehrkurs gegenüber Flüchtlingen vor 70 Jahren.“ 6

Asylangebot, Asylbegrenzung und wachsende Abwehrhaltungen

In der jungen Bundesrepublik Deutschland hatte man zunächst auch den Zustrom von deutschen Flüchtlingen aus dem Osten mithilfe von Art. 16 GG zu regeln versucht. Das führte schon im Winter 1949/50, wenige Monate nach der Staatsgründung, zu einer ersten großen Debatte über die Praktikabilität des Asylrechts. Es ging dabei besonders um „Wirtschaftsflüchtlinge“ unter den Deutschen aus dem Osten, deren Zuwanderung man durch die Einführung des Notaufnahmeverfahrens 1950/51 zu begrenzen suchte, bei dem DDR-Bürger als Deutsche und nicht mehr nach Art. 16 GG aufgenommen wurden.

Als Ergebnis der Überprüfung der Fluchtgründe von DDR-Zuwanderern im Notaufnahmeverfahren dominierten eindeutig „politische“ Motive; denn nur „echte“ Flüchtlinge, d.h. solche, die im Aufnahmegespräch politische Ausreise- bzw. Fluchtmotive angaben, kamen in den Genuss der begehrten Eingliederungshilfen. Die Statistik verzeichnete deshalb nicht eine Abnahme des Zustroms von „Wirtschaftsflüchtlingen“, sondern nur eine „Zunahme erklärter politischer Fluchtgründe“. 7

Die Politisierung der „Ausländerfrage“ seit dem „Anwerbestopp“

Generelle Aufnahmebereitschaft, hier nach Art. 16 GG und der Genfer Flüchtlingskonvention, galt zur Zeit des Kalten Krieges für die als vorwiegend politisch motiviert verstandene Ost-West-Migration von Ausländern aus dem übrigen „kommunistischen Machtbereich“. Sie wurde in der Konkurrenz der politischen Systeme als Abstimmung mit den Füßen zugunsten des Westens begrüßt und war zur Zeit des deutschen Wirtschaftswunders zugleich ein durchaus erwünschter Arbeitskräftezuwachs. Als der Zustrom von Arbeitskräften aus der DDR durch den Mauerbau 1961 blockiert wurde, stiegen ersatzweise die Zahlen der angeworbenen ausländischen Arbeitswanderer („Gastarbeiter“) abrupt in die Millionen.

Die Wirtschaftswunder-Euphorie endete 1973 mit der Ölpreiskrise und dem Anwerbestopp für ausländische Arbeitskräfte. Er erwies sich am Arbeitsmarkt als Bumerang: Mit der oktroyierten Alternative zwischen fortgesetztem Inlandsaufenthalt oder dauerhafter Abwanderung ins Herkunftsland ohne Rückkehrchance beendete der Anwerbestopp die transnationale Mobilität der ausländischen Arbeitnehmer und forcierte die schon stark angelaufene Familienzusammenführung in Deutschland. Mit dem verstärkten Nachzug nicht erwerbstätiger Familienangehöriger wiederum sank die anfangs hohe Erwerbsquote der „Gastarbeiter“.

Die Folgen des Anwerbestopps beendeten nicht nur den soziale Kosten sparenden Export von Arbeitslosigkeit durch die Rückwanderung von Arbeitslosen in ihre Herkunftsländer. Sie förderten insgesamt den unerwünschten Übergang von der Arbeitswanderung zur Einwanderung und damit ein politisches, soziales und mentales Paradox: Auf der kommunalen Ebene wurde der Übergang zur echten Einwanderungssituation pragmatisch verwaltet. Auf der Bundesebene und weithin auch auf den Länderebenen aber galt bis Anfang der 1990er Jahre die Devise, Deutschland sei „kein Einwanderungsland“, verbunden mit dem Bemühen um die „Förderung der Rückkehrbereitschaft“ der ausländischen Arbeitnehmer.

Die „Gastarbeiterfamilien“ aber blieben mit zunehmender Aufenthaltsdauer immer häufiger im Land, obgleich sie wegen ihrer oft geringen oder nur angelernten Qualifikationen von der bald steigenden Arbeitslosigkeit zuerst und am stärksten betroffen waren. Mit dem kontinuierlichen Anstieg der Arbeitslosenzahlen erschienen beschäftigte Ausländer bald als unerwünschte Konkurrenten am Arbeitsmarkt, während arbeitslose „Gastarbeiter“ als soziale „Kostgänger“ diskreditiert wurden. 8

Ähnliche Abwehrhaltungen traten gegenüber der ebenfalls soziale Kosten verursachenden Aufnahme von Asylbewerbern hervor, als deren Zahl seit dem letzten Drittel den 1970er Jahre scharf anstieg und die Antragsteller nun nicht mehr vornehmlich aus den „Ostblockstaaten“, sondern aus der „Dritten Welt“ stammten. Dabei entstand das „Asylantenproblem“ nicht etwa allein als Folge der zunächst nur zeitweise und erst später anhaltend starken Zunahme von Asylanträgen. Es wurde bei der Politisierung der „Ausländerfrage“ auch bewusst geschaffen durch die Eröffnung einer zweiten Front neben der „Gastarbeiterfrage“.

Das zeigte sich erstmals deutlich im Wahlkampf 1980 bei einem Höchststand an Asylgesuchen im Zeichen von Wirtschaftskrise, steigenden Arbeitslosenzahlen und Entdeckung der Einwanderungssituation hinter der „Gastarbeiterfrage“. Die populistischen Argumente in der politischen Diskussion um Asylrecht und Asylrechtspraxis, die in den Medien skandalisierend fortgeschrieben wurden, hatten dabei mit der Realität oft wenig zu tun. Das zeigte sich z.B. darin, dass sogar noch Anfang der 1980er Jahre, bei kurzzeitig wieder sinkenden Asylbewerberzahlen, in den Reihen von CDU und CSU weiter die Rede ging vom „Asylmissbrauch“ im Schatten einer angeblich „anhaltenden Flut von Scheinasylanten und Wirtschaftsflüchtlingen“. 9

Die lautstarke Asyldebatte lenkte ab von der Konzeptions- und Perspektivlosigkeit in der „Ausländerpolitik“ und von den vorwiegend deklamatorischen Bemühungen um eine verstärkte „Integration“ der „Ausländerbevölkerung“ im Kontext der – in den 1980er Jahren immer wieder folgenlos angekündigten – Novellierung des Ausländerrechts. Das wurde 1985/86 aufs Neue deutlich: Die Diskussion um Lage, Probleme und Zukunft der ausländischen Arbeitnehmer und ihrer Familien wurde immer verhaltener, diejenige um den „Missbrauch des Asylrechts“ umso schriller. 10

Begleitet wurde all dies asylrechtlich von einer zunehmenden Engführung des Begriffs der „politischen“ Verfolgung und auf der politischen Bühne von dem wachsenden Streit um eine Einschränkung der Möglichkeiten zur Inanspruchnahme des Rechts auf Asyl durch eine Änderung des Grundgesetzes. Das führte schließlich zum ‚Asylkompromiß’ vom Dezember 1992, der am 1. Juni 1993 Gesetzeskraft erlangte in Gestalt der restriktiven Veränderungen durch Art. 16a GG. Sie erschienen den einen als rettende Reform, anderen als Ende des grundgesetzlich verbrieften Asylrechts.

Hinzu kamen flankierende, in den Bundesländern unterschiedlich umgesetzte und zum Teil wiederholt veränderte Maßnahmen zur Verringerung von „Fluchtanreizen“ und zur Abschreckung von Asylbewerbern mit insgesamt drei Zielrichtungen: Erschwerung der Einreise von Flüchtlingen und Asylsuchenden, Beschleunigung der Asylverfahren und Verschlechterung der Lebensbedingungen von Asylbewerbern. In diesen Kontext gehörte auch der von Bundeskanzlerin Merkel einmal benutzte und 2009 bei der Entscheidung über das „Unwort des Jahres“ in die engere Wahl gezogene Begriff „Flüchtlingsbekämpfung“.

All dies geschah in der Vorstellung, Fluchtbewegungen würden vorwiegend durch die Anziehungskraft von Zielgebieten bewirkt und weniger durch die Schubkraft der Krisensituationen in den Ausgangsräumen. Die vermeintlich abschreckenden Lebensbedingungen für Asylbewerber bewirkten wenig und trafen meist die falschen, nämlich „echte“ Flüchtlinge, während gewiefte Asylbetrüger, Schleuser, Schlepper und Menschenhändler durch solche Manöver bekanntlich wenig zu beeindrucken sind.

Konsens der Abwehr

Auf europäischer Ebene begann zeitgleich, als Kehrseite der europäischen Integration im Innern, die Abgrenzung der „Festung Europa“ nach außen. In der „Festung“ gab es zwar mancherlei Ideen über die Bekämpfung der Ursachen unfreiwilliger Wanderungen in den Ausgangsräumen. In der Praxis aber dominierte die Abwehr der – wegen der Zuwanderungsblockaden illegalen – Flüchtlingszuwanderung, die immer mehr zu einem regelrechten Krieg gegen Flüchtlinge vor den Grenzen Europas geriet. Er kostete seit 1990 rund 30.000 Todesopfer im Mittelmeer und überstieg damit das Niveau eines mittleren Krieges – wobei die unbekannten, auf dem Weg durch die Wüsten Afrikas Verdursteten, Verhungerten oder Ermordeten gar nicht berücksichtigt sind, deren Zahl noch höher liegen könnte als die der Toten im Meer.

Wie in Europa insgesamt, so bewirkten auch in Deutschland die Abschreckungsmaßnahmen auf Dauer keine Verringerung des Zuwanderungsdrucks. Sie verstärkten aber in weiten Kreisen der Bevölkerung die Abwehrhaltungen gegenüber Flüchtlingen und Asylbewerbern. Sie wurden in und seit den 1980er Jahren, besonders zu Wahlkampfzeiten, forciert durch die anhaltende politische und mediale Agitation gegen den „Missbrauch des Asylrechts“ durch angebliche „Sozialbetrüger“, „Sozialschmarotzer“ und „Asyltouristen“ im grenzüberschreitenden „Asylhopping“ bzw. später auch durch asylsuchende „Sozialtouristen“ (Unwort des Jahres 2013), wobei die drei letztgenannten Schandworte aus dem Jargon der Ausländerbehörden bzw. der ministerialen Migrationsbürokratie zu stammen scheinen.

Ein markantes Beispiel dafür war die populistische Anti-Asyl-Agitation im Hoch- und Spätsommer 1991. Sie hatte, wie durch eine Indiskretion Anfang Oktober 1991 bekannt wurde, mit einer von dem damaligen CDU-Generalsekretär Volker Rühe geradezu generalstabsmäßig organisierten bundesweiten Inszenierung zu tun. Sie zielte auf die Gegner der von CDU und CSU geforderten Einschränkung des Asylrechts, insbesondere auf die SPD. Sie schoss aber weit darüber hinaus und trug zweifelsohne bei zu der immer gefährlicheren Emotionalisierung der Asyl-Thematik, die in dafür empfänglichen Kreisen letztlich in blanken Fremdenhass umschlug:

In der Kampagne mitgeliefert wurden Argumentationsleitfäden, Musterpresseerklärungen, standardisierte Parlamentsanträge und -anfragen sowie zur Verteilung und zum Versand an die kommunalen Behörden bestimmte Musteranfragen, die offen an Neid- und Konkurrenzgefühle appellierten. Mit diesen Anfragen bzw. deren Ergebnissen, so kommentierte Die Tageszeitung (taz), die die Kampagne aufgedeckt hatte, sollten „die Christdemokraten die Verwaltungen bombardieren und vor Ort die Stimmung anheizen. Daß nicht zuletzt durch diese eiskalt inszenierte Asyldebatte die radikalen Ausländerhasser ermuntert wurden und werden, nun selbst mit Brandflaschen zur Tat zu schreiten, steht für viele Kenner der Täterszene außer Frage.“ 11

Die weitere Entwicklung gab den Warnungen vor den Folgen populistischer Anti-Asyl-Agitation Recht: Die politischen Parteien lähmten sich im Asylstreit schließlich gegenseitig soweit, dass Bundeskanzler Kohl vom „Staatsnotstand“ sprach und davon, dass das Land „unregierbar“ geworden sei. Es folgten die weltweit Abscheu erregenden, über den ‚Asylkompromiss’ von 1993 hinweg fortlaufenden blutigen Exzesse auf deutschen Straßen, mit denen sich gewaltbereite Minderheiten zu Sprechern einer schweigenden Mehrheit glaubten aufschwingen zu sollen.

Umfrageergebnisse meldeten schockierende Meinungsbilder: 13 % der befragten Deutschen bewerteten im August 1992 Gewalt gegen Asylbewerber als „berechtigten Ausdruck des Volkszorns“. Die „Schuld an den sich häufenden Ausschreitungen gegen Asylbewerber und deren Unterkünfte sahen 80 % „bei den Politikern“. 12

Es folgten aber auch die berühmten Lichterketten, mit denen sich die bis dahin schweigende Mehrheit gegen diese Exzesse, aber auch gegen den fahrlässigen Umgang von Politik mit den umstrittenen Fragen wandte. Politiker, die sich hier einreihen wollten, wurden mitunter demonstrativ ausgeschlossen, was wiederum oft die Falschen traf, während asylkritische populistische Agitatoren mit Hohn und Spott auf die in Wahrheit sehr öffentlichkeitswirksamen Lichterketten blickten.

Im Schatten der politischen und medialen Polemik gegen angeblichen oder tatsächlichen „Asylmissbrauch“ verstärkten sich die bellizistischen Begriffskarrieren: Sie führten von der Prägung denunziativer Kampfbegriffe in der politischen und medialen Diskussion über deren zunehmend unreflektierten Alltagsgebrauch bis zur semantischen Gültigkeitsbestätigung in Gestalt lexikalischer Festschreibungen.

Dies geschah zuerst mit dem Kampfbegriff des „Asylanten“, der offenbar aus dem Jargon der ministerialen Ausländerbürokratie stammte, Anfang der 1970er Jahre als abschätzige Alternative zu den Begriffen „Flüchtling“ und „Asylbewerber“ Eingang in den allgemeinen Sprachgebrauch fand, sich dort rasch etablierte und zunehmend als Ersatz dafür fungierte: Der Begriff „Asylant“ wurde 1980 in dem jährlichen semantischen Ranking der Gesellschaft für deutsche Sprache e. V. unter den „Wörtern des Jahres“ zweitplatziert und zeitgleich in die 18. Auflage des Rechtschreib-Dudens mit der neutralen Definition „Bewerber um Asylrecht“ aufgenommen. Der Begriff behielt zwar seinen negativen Beigeschmack, die Begleitumstände seiner Schöpfung aber waren in der kollektiven Erinnerung bald verblasst. 13

Der Begriff „Asylant“ fand später nicht selten Eingang sogar in die Diktion von Initiativen zum Flüchtlingsschutz. Ein nicht minder frappierender Beleg für den Einzug des Kampfbegriffes in den allgemeinen Sprachgebrauch war die Tatsache, dass in Gestalt der Rede von „Scheinasylanten“ eine denunziative Verdoppelung des ursprünglich ohnehin in dieser Absicht geschaffenen Begriffs „Asylant“ entstand.

Eine ähnliche und doch in einiger Hinsicht andere Laufbahn erlebte der Begriff „Wirtschaftsflüchtling“, der, wie gezeigt, schon eine beachtliche historische Karriere hinter sich hatte, bevor er im Kontext der Asyldebatte auftauchte. Auch hier standen denunziative Intentionen am Beginn. Im Gegensatz zum Begriff des „Asylanten“, der eine skeptische Distanz zu Asylbewerbern insgesamt insinuierte, zielte der Begriff „Wirtschaftsflüchtling“ auf eine spezielle Form des „Asylmissbrauchs“: Es ging um vermeintlich nur vorgeschützte politische Fluchtgründe im Sinne von Art 16 GG bzw. Art. 16a GG (seit 1993) bei angeblich vorrangig wirtschaftlichen und sozialen Migrationsmotiven.

Wirtschaftswanderer und „Wirtschaftsflüchtlinge“

Im Gegensatz zum Begriff des Asylbewerbers, der a priori nur Flucht- und Zwangswanderungen (zum Beispiel Vertreibungen), also „unfreiwillige“ Wanderungen adressiert, war der in der deutschen Asyldiskussion in und seit den 1990er Jahren wieder verstärkt vordringende Begriff des „Wirtschaftsflüchtlings“ in der Regel mit einer anderen Vorstellung verbunden: mehr oder minder „freiwillige“ Mobilität in Gestalt der Suche nach besseren wirtschaftlichen und sozialen Existenzbedingungen als Wanderungsmotiv.

Die Unterscheidung zwischen „freiwilligen“ und „unfreiwilligen“ Wanderungen bleibt aber vordergründig, weil es jenseits von Vertreibung oder Flucht wegen politischer Verfolgung oft fließende Grenzen zwischen freiwilligen und unfreiwilligen Wanderungen auch aus wirtschaftlichen und sozialen Gründen gibt; denn Verfolgung kann auch in gruppenspezifischer oder persönlicher Ausgrenzung, Unterdrückung sowie in wirtschaftlicher und sozialer Benachteiligung Ausdruck finden, die dann für Wanderungsentschlüsse mitbestimmend oder gar letztlich auslösend werden. 14

Das zeigt auf der begrifflichen Ebene auch die im wissenschaftlichen Sprachgebrauch geläufige Unterscheidung zwischen „betterment“ und „subsistance migration„: Während Mobilität zur Verbesserung der wirtschaftlichen und sozialen Lebensumstände („betterment migration„) in den Bereich der „freiwilligen“ Wanderungen gehört, ist die Flucht aus unerträglichen Existenzbedingungen („subsistance migration„) ein Teilbereich der „unfreiwilligen“ Wanderungen. So betrachtet, könnte der Begriff „Wirtschaftsflüchtling“ also eine wertneutrale Beschreibung von unfreiwilliger Migration aus wirtschaftlichen und sozialen Notlagen sein. Er begegnet in diesem Sinn auch gelegentlich in begrifflichen bzw. lexikalischen Bestimmungen. 15

Auffällig ist deshalb der denunziative Beigeschmack des Begriffs „Wirtschaftsflüchtling“ in der politischen und öffentlichen Asyldiskussion in Deutschland. Dies umso mehr, als wirtschaftliche und soziale Beweggründe von lokalen, regionalen, transnationalen und interkontinentalen Migrationsbewegungen auch aus der deutschen Migrationsgeschichte bestens bekannt sind, was den Begriff eigentlich vor Missbrauch schützen könnte. 16

So waren zum Beispiel die gewaltigen interregionalen Massenwanderungen in der aufbrechenden Industriegesellschaft im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert fast durchweg wirtschaftlich und sozial bedingt. Das galt auch für die deutschen transatlantischen Massenwanderungen, die im 19. Jahrhundert rund 5,5 Millionen Menschen allein in die Vereinigten Staaten führten. Es wäre in der zeitgenössischen Diskussion absurd gewesen, diesen Massenexodus als ‚nur’ wirtschaftlich und sozial motivierte Bewegung von „Wirtschaftsflüchtlingen“ zu denunzieren; denn bei der Vision der Neuen Welt ging es nicht nur um den Traum von persönlicher Freiheit, sondern auch um die Hoffnung auf chancenreiche wirtschaftliche und soziale Mobilität. Bei der Zuwanderung aus SBZ und DDR spielten, wie gezeigt, neben politischen auch wirtschaftliche und soziale Motive eine wesentliche Rolle. Und bei der Anwerbung der in der öffentlichen Diskussion „Gastarbeiter“ genannten ausländischen Arbeitswanderer von der Mitte der 1950er bis zum Beginn der 1970er Jahre dominierten ohnehin wirtschaftliche Interessen auf beiden Seiten.

Die denunziative Konnotation des Begriffs „Wirtschaftsflüchtling“ in Deutschland hat mit all diesen Wanderungsbewegungen in, aus und nach Deutschland nichts zu tun. Sie stammt vielmehr aus dem Kontext der Folgen von Migrations- und Asylpolitik: Bei dem seit 1973 gültigen, wenn auch zunehmend durchlöcherten „Anwerbestopp“ blieb wirtschaftlich und sozial motivierten Zuwanderungswilligen, die nicht unter die „Ausnahmeverordnungen“ fielen, zur legalen Zuwanderung bzw. zur Legalisierung ihres Aufenthalts in Deutschland oft nur das Nadelöhr des Asylverfahrens.

Auf dem Weg durch dieses Nadelöhr gab und gibt es mancherlei flüchtlingsrechtliche Hilfestellungen. So lag die gesamte Schutzquote – trotz der sehr niedrigen Anerkennungsquote nach Art. 16a GG (ca. 2-3 %) – durch Berücksichtigung anderweitiger Fluchtgründe und unter Berufung auf humanitäre, soziale und weitere völkerrechtliche Standards je nach Berechnung lange bei 20-40 Prozent und zuletzt sogar bei 48,5 Prozent. 17 Das gilt trotz aller populistischen Agitation für eine „zügige“ und „konsequente Abschiebung“, hinter der oft Vorstellungen stehen, die mit der deutschen und europäischen Rechtsordnung nicht vereinbar sind.

Der Begriff des „Wirtschaftsflüchtlings“ konnte in diesem Zusammenhang seine denunziative Konnotation nur entfalten, weil Wirtschaftswanderer keine andere Zuwanderungsmöglichkeit hatten oder sahen als diesen Weg durch ein Asylverfahren. Dort aber war die begründete Vermutung vorrangig wirtschaftlicher Motive gleichbedeutend mit dem Anfangsverdacht auf „Asylbetrug“. Das wiederum weckte in weiten Kreisen der Bevölkerung die falsche Vorstellung, dass angesichts der sehr niedrigen Anerkennungsquote nach Art. 16a GG in Höhe von durchschnittlich nur knapp 3 Prozent die restlichen 97 Prozent der Antragsteller allesamt „Wirtschaftsflüchtlinge“ seien.

Die umlaufenden asylfeindlichen Schreckbilder schienen auf politisch höchstrangiger Ebene bestätigt zu werden: Ausgerechnet der neue Bundesinnenminister der rot-grünen Koalition, Otto Schily (SPD), machte nach seiner Amtsübernahme zunächst mit populistisch wirkenden  Statements auf sich aufmerksam. Er erklärte 1999 einerseits wiederholt: „Die Grenzen der Belastbarkeit durch Zuwanderung sind überschritten“ und wies dabei auf die hohen jährlichen Zuwanderungszahlen hin, allerdings ohne die ebenfalls hohen Abwanderungszahlen zu erwähnen. 18 Er behauptete andererseits: „Jedes Jahr kommen etwa 100.000 Flüchtlinge nach Deutschland. Davon sind nur drei Prozent asylwürdig. Der Rest sind Wirtschaftsflüchtlinge.“ 19

Schilys Statements erregten enormes Aufsehen. Sie stießen auf Widerspruch in den eigenen Reihen, bei der Integrationsbeauftragten der Bundesregierung Marieluise Beck (Bündnis 90/Die Grünen) sowie bei Kirchen, Gewerkschaften, Flüchtlingshilfsorganisationen und kritisch engagierten Wissenschaftlern. 20 Sie fanden Beifall in konservativen Kreisen, bei denen der Bundesinnenminister damit auch um Vorschussvertrauen warb, um die vorbereitete Reform von Staatsangehörigkeitsrecht und des Aufenthaltsrecht (Zuwanderungsgesetz) politisch einzubetten, die für die einen grundlegend, für andere grundstürzend war. Die politische Rechnung ging nicht auf: Die Statements des Bundesinnenministers verstärkten die asylfeindlichen Abwehrhaltungen und dienen bis heute rechtsextremistischen geistigen und praktischen Brandstiftern als regierungsamtliche Berufungsinstanz. 21

Abwehr allein ist kein Gestaltungsprinzip

Wenn man der denunziativen Verbindung von Wirtschafts- und Fluchtwanderung zur semantischen Missgeburt des „Wirtschaftsflüchtlings“ den Boden entziehen will, dann würde dies zweifelsohne am ehesten gelingen, wenn Flucht- und Wirtschaftswanderungen stärker unterscheidbar würden. Das aber setzt voraus: Mehr reguläre Zuwanderungswege nach Europa eröffnen und für Informationen über solche regulären Zugänge im Vorfeld von Wanderungs- bzw. Fluchtentscheidungen sorgen. Der Weg dahin erscheint noch weit.

Eine List der Bevölkerungs- und Wirtschaftsgeschichte wird aber, allen Widerständen zum Trotz, darin liegen, dass das vermeintliche Paradies in der Mitte Europas unter dem Druck des demographischen Wandels im aufgeklärten Eigeninteresse schrittweise zu einem doppelten Kurswechsel gezwungen sein dürfte: einerseits in Richtung Eröffnung weiterer regulärer Zuwanderungswege und andererseits in Richtung auf eine stärkere und frühere Eingliederung von Flüchtlingen in den Arbeitsmarkt.

Es gilt zweierlei zu verstehen: Für das demographisch alternde und schrumpfende Deutschland sind Wirtschaftswanderungen keine Bedrohung, sondern ein Gewinn. Und die Flüchtlingsaufnahme ist nicht nur eine kostenintensive humanitäre Verpflichtung. Sie kann auch als kulturelle und zugleich wirtschaftliche Bereicherung verstanden werden. Je mehr dies erkannt wird, desto eher werden Schandworte wie „Wirtschaftsflüchtling“ und „Scheinasylant“ in ihrer demagogischen Wirkung verblassen.

Das alles wird aber nur möglich sein, wenn es zu einer grundlegenden Reform des inhumanen und überdies dysfunktional gewordenen Asylrechts in Europa kommt. Die Reform müsste zudem von anderen Kurswechseln begleitet werden, z. B. in der wachstumsblockierenden und krisentreibenden EU-Handels- und Agrarpolitik gegenüber den Herkunftsländern der illegalen und oft unfreiwilligen Zuwanderungen nach Europa.

Nötig ist darüber hinaus, wie 70 Jahre nach Evian auf der eingangs erwähnten Berliner Konferenz von 2008 gefordert, eine UN-Weltkonferenz zu Migration, Flucht und Asyl, analog zu den großen Weltkonferenzen seit den 1990er Jahren. Über allem muss die Erkenntnis stehen, dass Abwehr allein kein Gestaltungsprinzip ist.

  1. Für kritische Anregungen danke ich Dr. Susanne C. Meyer, Heiko Kauffmann. M.A., und Prof. Dr. Jochen Oltmer.
  2. Hierzu mit Belegen: Klaus J. Bade, Ausländer, Aussiedler, Asyl. Eine Bestandsaufnahme, München 1994, S. 93-95.
  3. Heiko Kauffmann, Von Evian nach Brüssel. Das Scheitern der Konferenz 1938 und die Krise der europäischen Asylpolitik 2008, in: Wolfgang Benz/Claudia Curio/Heiko Kauffmann (Hrsg.), Von Evian nach Brüssel. Menschenrechte und Flüchtlingsschutz 70 Jahre nach der Konferenz von Evian, Karlsruhe 2008, S. 46.
  4. Ebenda (Anm. 3), S. 39.
  5. Zur Geschichte von Asylrecht und Asylpolitik in Deutschland im Überblick: Jochen Oltmer, Politisch verfolgt? Asylrecht und Flüchtlingsaufnahme in der Bundesrepublik, in: Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (Hrsg.), Immer bunter. Einwanderungsland Deutschland. Begleitbuch zur Ausstellung im Haus der Geschichte, Mainz 2014, S. 106-123.
  6. Robert Probst, Die Ahnungslosen von Evian, in: Süddeutsche Zeitung (SZ), 4.7.2008.
  7. Peter Steinbach, Geschichte des Asylrechts und der Flüchtlingspolitik in den Anfängen der Bundesrepublik, in: Frankfurter Rundschau (FR), 26./27. 9. 1989; Volker Ackermann, Der „echte“ Flüchtling. Deutsche Flüchtlinge und Vertriebene aus der DDR 1945-1961, Osnabrück 1995.
  8. Klaus J. Bade/Michael Bommes, Migration und politische Kultur im ’Nichteinwanderungsland‘, in: Klaus J. Bade, Sozialhistorische Migrationsforschung, hrsg. v. Michael Bommes/Jochen Oltmer, Göttingen 2004, S. 437-472.
  9. Bade (Anm.2), S. 100f.
  10. Franz Nuscheler, Migration. Flucht und Asyl, 0pladen 1995, S. 21ff.
  11. CDU plante die Anti-Asyldebatte. Internes Papier gibt Einblick, wie alle CDU-Mandatsträger in die Kampagne gegen das Asylrecht eingespannt wurden, in: Die Tageszeitung (taz), 8.10.1991; vgl. Bade (Anm. 2), S. 113-115, 120.
  12. Bade (Anm. 2), S. 120f.
  13. Jürgen Link, Asylanten – ein Schimpfwort, in: Heiko Kauffmann (Hrsg.), Kein Asyl bei den Deutschen. Anschlag auf ein Grundrecht, Reinbek 1986, S. 55-59 (Belege); vgl. ders., „Asylanten“. Zur Erfolgsgeschichte eines deutschen SchlagWorts, in: Christoph Butterwegge, Siegfried Jäger (Hrsg.), Europa gegen den Rest der Welt? Flüchtlingsbewegungen – Einwanderung – Asylpolitik, Köln 1993, S. 111-126.
  14. Jan Lucassen, Free and Unfree Labour before the Twentieth Century: A Brief Overview, in: Tom Brass, Marcel van der Linden (Hrsg.), Free and Unfree Labour: The Debate Continues, Bern 1997.
  15. Vgl. z. B. das ‚Project Economic Refugee’ (www.economicrefugee.net/about-project-economic-refugee/, 10.04.2015)
  16. Vgl. Klaus J. Bade, Leo Lucassen, Peter C. Emmer, Jochen Oltmer (Hrsg.), Enzyklopädie Migration in Europa vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Paderborn 2007 (engl. Ausg. Cambridge UP 2011).
  17. Roland Preuß, Die Mär vom großen Missbrauch, in: Süddeutsche Zeitung (SZ), 1.2.2015.
  18. Süddeutsche Zeitung (SZ), 3.11.1999.
  19. Berliner Zeitung (BZ), 8.11.99.
  20. Asylpolitik: Härtefall Schily, in: SpiegelOnline, 21.11.1999 (http://www.spiegel.de/politik/deutschland/asylpolitik-haertefall-schily-a-53361.html, 10.4.2015); Klaus J. Bade, Kritik und Gewalt. Sarrazin-Debatte, ‚Islamkritik’ und Terror in der Einwanderungsgesellschaft, Schwalbach/Ts. 2013, S. 225.
  21. Vgl. z.B.: Michael Mannheimer Blog: Beitrags-Archiv für die Kategory ‚Asylanten und Wirtschaftsflüchtlinge als Mittel der Islamisierung Europas’, Eintrag über Schilys Zitat, 08.03.2015 (http://michael-mannheimer.net/2015/03/08/schily-1999-von-den-nach-deutschland-kommenden-asylanten-sind-97-prozent-wirtschaftsfluechtlinge-und-daher-nicht-asylwuerdig/, 10.04.2015).
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