Bade, Klaus J. Bade, Prof. Bade, Klaus Bade
Prof. Dr. Klaus J. Bade, Gründungsvorsitzender des Sachverständigenrates deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR) 2008-2012

Bades Meinung

Zur Karriere und Funktion abschätziger Begriffe in der deutschen Asylpolitik

In der politischen Polemik gegen "Asylmissbrauch" haben gefährliche Kampfbegriffe Karriere gemacht: von der Prägung in denunziatorischer Absicht über den Alltagsgebrauch bis zur Bestätigung durch lexikalische Festschreibungen. Von Prof. Klaus J. Bade

Von Montag, 29.06.2015, 8:25 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 02.07.2015, 17:06 Uhr Lesedauer: 20 Minuten  |  

Artikel 16, Absatz 2, Satz 2 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland von 1949 umfasste bewusst nur vier Worte: „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“. Das war die generöse Antwort auf die Erfahrung der Aufnahme, aber auch Nichtaufnahme (z.B. in der Schweiz) der von den Nationalsozialisten Verfolgten. Das Grundrecht war bewusst so umfassend und ohne jede Einschränkung formuliert worden, trotz aller Bedenken in der intensiven Diskussion im Parlamentarischen Rat im Winter 1948/49. 1 Hermann von Mangoldt (CDU) betonte ausdrücklich, „wenn wir irgend eine Einschränkung aufnehmen würden, wenn wir irgendetwas aufnehmen würden, um die Voraussetzungen für die Gewährung des Asylrechts festzulegen, dann müsste an der Grenze eine Prüfung durch die Grenzorgane vorgenommen werden. Dadurch würde die ganze Vorschrift völlig wertlos.“ 2

Historische Erfahrungen

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Schutzbedürftigkeit hatte es im nationalsozialistischen Deutschland und später im von Deutschland besetzten Europa während des Zweiten Weltkriegs für aus politischen, religiösen, rassistischen und anderen Gründen Unterdrückte, Entrechtete und Verfolgte gegeben, unter ihnen besonders Menschen jüdischen Glaubens. Nicht wenige Länder der Welt hatten dem bald tödlichen antisemitischen Terror in Deutschland lange tatenlos zugesehen oder aus den verschiedensten Gründen auch demonstrativ weggesehen.

Auf der Konferenz von Evian 1938 verhandelten zwar Vertreter von 32 Staaten und von vielen, auch jüdischen Hilfsorganisationen über die Erleichterung der Einreise für die vom NS-Staat terrorisierten und zunehmend in tödlicher Gefahr lebenden Juden aus Deutschland. Unterhalb wohlklingender humanitärer Erklärungen gab es auf der Ebene der konkreten Hilfs- und Aufnahmebereitschaft vorwiegend ablehnende Voten oder hinhaltende Ausflüchte, nicht selten auch rassistische Stellungnahmen und sogar die Rede vom „Missbrauch des Asylrechts“ durch einreisewillige NS-Verfolgte. 3

Der österreichische Schriftsteller Alfred Polgar schrieb unter dem Eindruck der Konferenz von Evian 1938: Internationale Verhandlungen, die zur Erörterung der Frage „Wie schützt man die Flüchtlinge?“ einberufen worden seien, beschäftigten sich in Wahrheit vor allem mit der Frage: „Wie schützen wir uns vor ihnen?“ 4 Einige Jahrzehnte nach der Aufnahme des offensten Asylrechts der Welt in das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland 1949 zeichnete sich in Deutschland und in der Europäischen Union eine durchaus ähnliche Ambivalenz ab. 5

Daran erinnerte 2008 eine vom Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin und der Bundesarbeitsgemeinschaft für Flüchtlinge Pro Asyl veranstaltete Berliner Konferenz unter dem Titel „Festung Europa. 70 Jahre nach Evian. Menschenrechte und Schutz von Flüchtlingen“. Der Vorstandssprecher von Pro Asyl, Heiko Kauffmann, erklärte auf dieser Konferenz: Mit ihrem Konzept von Abschottung und Abweisung erinnere die Politik der EU sieben Jahrzehnte nach Evian „fatal an die heuchlerische humanitäre Beschwörungs- und Mitleidsrhetorik und an ihren in der Sache jedoch unerbittlich harten Abwehrkurs gegenüber Flüchtlingen vor 70 Jahren.“ 6

Asylangebot, Asylbegrenzung und wachsende Abwehrhaltungen

In der jungen Bundesrepublik Deutschland hatte man zunächst auch den Zustrom von deutschen Flüchtlingen aus dem Osten mithilfe von Art. 16 GG zu regeln versucht. Das führte schon im Winter 1949/50, wenige Monate nach der Staatsgründung, zu einer ersten großen Debatte über die Praktikabilität des Asylrechts. Es ging dabei besonders um „Wirtschaftsflüchtlinge“ unter den Deutschen aus dem Osten, deren Zuwanderung man durch die Einführung des Notaufnahmeverfahrens 1950/51 zu begrenzen suchte, bei dem DDR-Bürger als Deutsche und nicht mehr nach Art. 16 GG aufgenommen wurden.

Als Ergebnis der Überprüfung der Fluchtgründe von DDR-Zuwanderern im Notaufnahmeverfahren dominierten eindeutig „politische“ Motive; denn nur „echte“ Flüchtlinge, d.h. solche, die im Aufnahmegespräch politische Ausreise- bzw. Fluchtmotive angaben, kamen in den Genuss der begehrten Eingliederungshilfen. Die Statistik verzeichnete deshalb nicht eine Abnahme des Zustroms von „Wirtschaftsflüchtlingen“, sondern nur eine „Zunahme erklärter politischer Fluchtgründe“. 7

Die Politisierung der „Ausländerfrage“ seit dem „Anwerbestopp“

Generelle Aufnahmebereitschaft, hier nach Art. 16 GG und der Genfer Flüchtlingskonvention, galt zur Zeit des Kalten Krieges für die als vorwiegend politisch motiviert verstandene Ost-West-Migration von Ausländern aus dem übrigen „kommunistischen Machtbereich“. Sie wurde in der Konkurrenz der politischen Systeme als Abstimmung mit den Füßen zugunsten des Westens begrüßt und war zur Zeit des deutschen Wirtschaftswunders zugleich ein durchaus erwünschter Arbeitskräftezuwachs. Als der Zustrom von Arbeitskräften aus der DDR durch den Mauerbau 1961 blockiert wurde, stiegen ersatzweise die Zahlen der angeworbenen ausländischen Arbeitswanderer („Gastarbeiter“) abrupt in die Millionen.

Die Wirtschaftswunder-Euphorie endete 1973 mit der Ölpreiskrise und dem Anwerbestopp für ausländische Arbeitskräfte. Er erwies sich am Arbeitsmarkt als Bumerang: Mit der oktroyierten Alternative zwischen fortgesetztem Inlandsaufenthalt oder dauerhafter Abwanderung ins Herkunftsland ohne Rückkehrchance beendete der Anwerbestopp die transnationale Mobilität der ausländischen Arbeitnehmer und forcierte die schon stark angelaufene Familienzusammenführung in Deutschland. Mit dem verstärkten Nachzug nicht erwerbstätiger Familienangehöriger wiederum sank die anfangs hohe Erwerbsquote der „Gastarbeiter“.

Die Folgen des Anwerbestopps beendeten nicht nur den soziale Kosten sparenden Export von Arbeitslosigkeit durch die Rückwanderung von Arbeitslosen in ihre Herkunftsländer. Sie förderten insgesamt den unerwünschten Übergang von der Arbeitswanderung zur Einwanderung und damit ein politisches, soziales und mentales Paradox: Auf der kommunalen Ebene wurde der Übergang zur echten Einwanderungssituation pragmatisch verwaltet. Auf der Bundesebene und weithin auch auf den Länderebenen aber galt bis Anfang der 1990er Jahre die Devise, Deutschland sei „kein Einwanderungsland“, verbunden mit dem Bemühen um die „Förderung der Rückkehrbereitschaft“ der ausländischen Arbeitnehmer.

Die „Gastarbeiterfamilien“ aber blieben mit zunehmender Aufenthaltsdauer immer häufiger im Land, obgleich sie wegen ihrer oft geringen oder nur angelernten Qualifikationen von der bald steigenden Arbeitslosigkeit zuerst und am stärksten betroffen waren. Mit dem kontinuierlichen Anstieg der Arbeitslosenzahlen erschienen beschäftigte Ausländer bald als unerwünschte Konkurrenten am Arbeitsmarkt, während arbeitslose „Gastarbeiter“ als soziale „Kostgänger“ diskreditiert wurden. 8

Ähnliche Abwehrhaltungen traten gegenüber der ebenfalls soziale Kosten verursachenden Aufnahme von Asylbewerbern hervor, als deren Zahl seit dem letzten Drittel den 1970er Jahre scharf anstieg und die Antragsteller nun nicht mehr vornehmlich aus den „Ostblockstaaten“, sondern aus der „Dritten Welt“ stammten. Dabei entstand das „Asylantenproblem“ nicht etwa allein als Folge der zunächst nur zeitweise und erst später anhaltend starken Zunahme von Asylanträgen. Es wurde bei der Politisierung der „Ausländerfrage“ auch bewusst geschaffen durch die Eröffnung einer zweiten Front neben der „Gastarbeiterfrage“.

  1. Für kritische Anregungen danke ich Dr. Susanne C. Meyer, Heiko Kauffmann. M.A., und Prof. Dr. Jochen Oltmer.
  2. Hierzu mit Belegen: Klaus J. Bade, Ausländer, Aussiedler, Asyl. Eine Bestandsaufnahme, München 1994, S. 93-95.
  3. Heiko Kauffmann, Von Evian nach Brüssel. Das Scheitern der Konferenz 1938 und die Krise der europäischen Asylpolitik 2008, in: Wolfgang Benz/Claudia Curio/Heiko Kauffmann (Hrsg.), Von Evian nach Brüssel. Menschenrechte und Flüchtlingsschutz 70 Jahre nach der Konferenz von Evian, Karlsruhe 2008, S. 46.
  4. Ebenda (Anm. 3), S. 39.
  5. Zur Geschichte von Asylrecht und Asylpolitik in Deutschland im Überblick: Jochen Oltmer, Politisch verfolgt? Asylrecht und Flüchtlingsaufnahme in der Bundesrepublik, in: Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (Hrsg.), Immer bunter. Einwanderungsland Deutschland. Begleitbuch zur Ausstellung im Haus der Geschichte, Mainz 2014, S. 106-123.
  6. Robert Probst, Die Ahnungslosen von Evian, in: Süddeutsche Zeitung (SZ), 4.7.2008.
  7. Peter Steinbach, Geschichte des Asylrechts und der Flüchtlingspolitik in den Anfängen der Bundesrepublik, in: Frankfurter Rundschau (FR), 26./27. 9. 1989; Volker Ackermann, Der „echte“ Flüchtling. Deutsche Flüchtlinge und Vertriebene aus der DDR 1945-1961, Osnabrück 1995.
  8. Klaus J. Bade/Michael Bommes, Migration und politische Kultur im ’Nichteinwanderungsland‘, in: Klaus J. Bade, Sozialhistorische Migrationsforschung, hrsg. v. Michael Bommes/Jochen Oltmer, Göttingen 2004, S. 437-472.
Leitartikel Meinung

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