Kirschbäume und Stacheldraht
Besuch an der bulgarisch-türkischen Grenze
Aufgrund der steigenden Flüchtlingszahlen hat sich SPD-Europaabgeordnete Birgit Sippel auf den Weg gemacht, um sich einen persönlichen Eindruck von den EU-Grenzen zu machen. Ihre Beobachtungen und Lösungsansätze schildert sie im MiGAZIN.
Von Birgit Sippel Montag, 04.05.2015, 8:25 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 16.07.2023, 12:01 Uhr Lesedauer: 9 Minuten |
Ende März lud mich meine sozialdemokratische Abgeordnetenkollegin Iliana Iotova für eine Delegationsreise nach Bulgarien ein, um vor Ort ein Bild von der Lage der Flüchtlinge zu bekommen. Wenig später veröffentlichte Pro Asyl den Bericht „Erniedrigt, misshandelt, schutzlos – Flüchtlinge in Bulgarien“, der ein dramatisches Bild der Situation zeichnet und einen Abschiebestopp für Flüchtlinge aus Bulgarien fordert. Vor diesem Hintergrund und weltweit steigenden Flüchtlingszahlen, die eine Herausforderung für alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union darstellen, möchte ich hier meine Eindrücke darlegen und auf die Frage eingehen, welche europäische Lösungsansätze es aus meiner Sicht gibt.
Die Entdeckung von Bulgarien als Außengrenze
Mitte 2013 stieg die Zahl der Flüchtlinge in Bulgarien plötzlich an, begünstigt durch die Befestigung der griechisch-türkischen Landgrenze mit einem Zaun und der weiter schwierigen Lage u.a. in Syrien und Irak. Zählte Bulgarien 2008 noch 745 Asylbewerber, waren es 2014 schon über 11 000. 1 Der plötzliche Flüchtlingsanstieg traf mit Bulgarien den ärmsten Mitgliedstaat der EU. Mit Einwanderung hat das Land jedoch wenig Erfahrung, die OECD beziffert den Ausländeranteil auf gerade einmal 0,6 Prozent. Auch in den 90er Jahren, als in Deutschland der Zusammenbruch Jugoslawiens zu Rekordzahlen bei den Asylanträgen führte, war Bulgarien kaum betroffen.
Im Januar 2014 veröffentlichte die UN-Flüchtlingsagentur UNHCR einen erschreckenden Bericht zur Lage der Migranten und Asylbewerber in Bulgarien. Im darauffolgenden April stellte der UNHCR in einem Nachfolgebericht zwar Verbesserungen der Lage der Asylbewerber fest, allerdings gab es immer noch viele Probleme. Für meine Reise stellte sich daher die Frage: Wie ist die Lage der Asylbewerber inzwischen – auch im Vergleich zur Situation der eigenen Bevölkerung?
Blühende Landschaften
Wir landen in Sofia. Mit nur zwei, maximal drei Gepäckbändern vermittelt der Flughafen eher den Eindruck einer Klein- als einer Hauptstadt. Von Sofia bis zur Grenze sind es gut drei Stunden; am Straßenrand blühen weiße Kirschen. Nachdem wir Plovdiv, die zweitgrößte Stadt Bulgariens, passiert haben, fahren wir von der Autobahn ab. Am Orteingang einer kleinen Stadt empfangen uns die halb verwitterten Skelette der ehemaligen kommunistischen Produktionsstätten.
Hinter Gittern
Die Region um Elhovo, in die wir unterwegs sind, ist ehemaliges Grenzland an der Konfrontationslinie zwischen der Einflusszone der Sowjetunion und den NATO-Staaten. Dieser Teil des Landes wurde deshalb nur begrenzt industrialisiert und Jahrzehnte lang von der Politik vernachlässigt. All dies führte dazu, dass die Menschen hier noch ärmer sind als in anderen Gegenden. Mehrfach sehen wir handgezimmerte Pferdekutschen auf der Straße, Sinnbild einer armen Region.
In Elhovo befindet sich nicht nur die regionale Polizeizentrale für die Grenzüberwachung, sondern auch das Elhovo Triage Zentrum, ein so genanntes „geschlossenes“ Aufnahmezentrum. Hier kommen die Neuankömmlinge an und werden erstmals befragt. Bei unserer Ankunft dort schaut uns eine ganze Familie durch die vergitterten Fenster beim Aussteigen zu. Später erfahren wir, dass besonders schutzbedürftige Personen, wie alleinerziehende Mütter oder unbegleitete Minderjährige, sofort in eines der sieben Aufnahmezentren der staatlichen Flüchtlingsagentur (SAR) 2 transferiert werden. Auch innerhalb des Zentrums sind Familien und alleinstehende Männer bereits getrennt.
In einem kleinen Büro mit vergilbter Tapete und Blick auf den Pausenhof der Schule nebenan erläutert uns der Direktor des Zentrums in Elhovo das Verfahren: Werden Personen beim „illegalen Grenzübertritt“ aufgegriffen, kommen sie zunächst auf die lokale Polizeistation, wo sie bis zu 24 Stunden festgehalten werden können. Dann kommen sie nach Elhovo, wo sie sich einem Sicherheits-Screening unterziehen müssen und vorregistriert werden. Nach offiziell drei, in Realität bis zu sieben Tagen werden sie auf die restlichen Aufnahmezentren des Landes verteilt: Sofern sie einen Asylantrag stellen, kommen sie in eines der sieben „offenen“ Asylbewerberheime der SAR, wie Charmanli; anderenfalls gelangen sie in eines der zwei „geschlossenen“ Zentren zur Rückführung, auch SCTAFs genannt, de facto Haftanstalten 3.
Wie integriert man Menschen, die weg wollen?
Wir fahren weiter nach Charmanli, wo sich das größte der sieben Aufnahmelager der staatlichen Flüchtlingsagentur SAR befindet. Zu dem Zeitpunkt befinden sich 1 600 Menschen in der Unterkunft, meist Syrer, darunter auch besonders schutzbedürftige Personen. Die Anerkennungsquote für syrische Flüchtlinge liegt in Bulgarien bei über 80 Prozent 4.
Wir laufen über den zentralen Weg, vorbei an Containerhütten, auf denen das UNHCR-Logo prangt. Bis vor Kurzem standen hier noch Zelte im Schlamm. Ein Trupp Neugieriger folgt uns, darunter auch Kinder, die sich das Lachen nicht nehmen lassen. Mittlerweile gibt es hier Strom und fließend Wasser, auch wenn sich die Wasserzellen in einem separaten Trakt befinden. In umgebauten Militärbaracken weiter hinten befinden sich weitere Unterkünfte. Vor den Fenstern flattern die Kleider zum Trocknen im Wind.
Wir fragen nach Integrationsmaßnahmen, nach dem Alltag. Gehen die Kinder zur Schule? Haben die Erwachsenen Sprachunterricht, können sie arbeiten? Das Problem sei, so der Leiter des Zentrums, dass die Leute nicht bleiben wollten. Die meisten wollten weiter, nach Deutschland oder Schweden. Daran ändert auch die europäische Dublin-Regelung wenig, nach der im Normalfall der Ankunftsstaat für einen Asylbewerber zuständig ist. Bulgarischer Sprachunterricht interessiere auch nur die wenigsten. Die Flüchtlinge wollten nur ein paar Alltagsworte lernen, um sich im Supermarkt zu verständigen, danach lieber Deutsch. Zur Schule gehe nur ein Kind.
Zwar gibt es seit Juli 2014 eine Integrationsstrategie der Regierung, ein Implementierungsplan folgte allerdings nie. Nun will die stellvertretende Ministerpräsidentin Kuneva erneut eine Integrationsstrategie vorlegen. Ob diese jedoch tatsächlich umgesetzt wird, ist völlig unklar.
Zudem ist nicht nur bei den Flüchtlingen die Bereitschaft zur Integration gering, auch die Anwohner reagieren nicht gerade positiv auf die neuen Nachbarn. Bürgermeister Mihail Liskov erzählt von Zwischenfällen, bei denen Asylbewerber im Supermarkt oder an der Tankstelle Essen mitgenommen hätten, ohne zu zahlen. Das sorge für Spannungen. Die Leistungen, die die Asylbewerber vom Staat erhalten, sorgen zusätzlich für Neid: Asylbewerber erhalten 65 BGN, umgerechnet rund 33 Euro im Monat 5, genau so viel wie das garantierte Mindesteinkommen (Sozialhilfe) 6.
Sprachgebrauch und Realität
Am Abend erreichen wir die letzte Etappe: die bulgarisch-türkische Grenze. Direkt vor uns zerschneidet ein Zaun die Hügellandschaft, „protective facility“ genannt, zu Deutsch „Schutzvorrichtung“. Bei den drei Lagen so genannten „Nato-Drahts“ handelt es sich um mit messerscharfen Rasierklingen versehenen Stacheldraht, dessen Klingen nur in eine Richtung zeigen: die Türkei. Der im letzten Jahr gebaute, 33 km lange Zaun, wird nur auf der europäischen Seite von ca. 130 Polizeibeamten bewacht, viele sind befristet aus Regionen im Inland beordert. Auf der türkischen Seite sehen wir keinen einzigen Grenzbeamten. Bis Ende des Jahres soll der Zaun die gesamte Länge der Grenze mit der Türkei abdecken.
„Wie funktioniert das, wenn da jetzt einer kommt?“, will eine Mitreisende wissen. Der Grenzpolizist erklärt, die meisten kämen über die so genannte „grüne Grenze“, den noch offenen Teil. Genannt wird das „incidents“ oder „Zwischenfälle“. Durch das „integrierte System“ für die Kontrolle und Überwachung der Grenze, das bis Mai dieses Jahres auf die gesamte Grenzlänge erweitert werden soll, sind die Migranten leicht zu orten. Sie werden – so wird uns gesagt – angehalten, befragt und auf die Polizeistation gebracht. Wenn sie Asyl beantragen, kommen sie in die Aufnahmezentren der SAR. Ungeachtet dieser Darstellung wird Bulgarien von Nichtregierungsorganisation beschuldigt, völkerrechtswidrige Zurückweisungen, sogenannte „push-backs“, durchzuführen 7. Erst kürzlich wurde der Fall von zwei Irakern bekannt, die bei einer Kollektivzurückweisung Mitte März zu Tode gekommen sein sollen.
Ohne sichere und legale Wege für Flüchtlinge in die EU bleibt die Frage offen, was passiert, wenn die Grenze erst lückenlos geschlossen ist? Werden die Grenzbeamten an den legalen Überwegen tatsächlich sagen: „Herzlich Willkommen, bitte kommen Sie doch herein“?
Europäische Dimension und Lösungsansätze
Bulgarien steht angesichts seiner ökonomischen Situation und der allgemeinen Armut im Land vor Herausforderungen, auch und gerade im Bereich Asyl. Es ist vor diesem Hintergrund und angesichts gestiegener Flüchtlingszahlen in Bulgarien notwendig, dass das Land über die ihm in den kommenden sieben Jahren zustehenden 10 Millionen Euro aus dem Asyl-, Flüchtlings- und Migrationsfonds hinaus weitere Notfallhilfen erhält. Allein 2013 flossen über 8,5 Millionen Euro Notfallunterstützungsgelder der EU, für 2015 sind nach Aussage der Kommission weitere Mittel in Millionenhöhe geplant. Darüber hinaus braucht Bulgarien logistische Unterstützung, auch bei der Implementierung von Menschenrechtstandards. Die Arbeit des europäischen Asylunterstützungsbüros ist dafür weiterhin unerlässlich, unter anderem bei der Ausbildung von Asylexperten vor Ort.
Des Weiteren stellt sich die Frage nach Lösungen für das Dublin-Dilemma. Es kann nicht sein, dass der ärmste EU-Mitgliedstaat in der EU 10 000 Flüchtlinge aufnimmt, während etwa die baltischen Staaten über die Hunderter nicht hinaus kommen. Der Ausbau des Grenzzaunes mag die Zahl der neu ankommenden Flüchtlinge für Bulgarien reduzieren. Doch Flüchtlinge haben ein Recht auf Schutz. Wir müssen legale und sichere Wege als Alternative schaffen. Da sind wir in den Debatten mit den Mitgliedstaaten immer noch am Anfang. Stimmen, die sich zuletzt wieder für so genannte „Willkommenszentren“ auf dem afrikanischen Kontinent ausgesprochen haben, lagern das Problem aus – und schotten Europa weiter ab.
Auf europäischer Ebene müssen wir an diesen drei Fragen arbeiten: finanzielle und logistische Unterstützung für überforderte Mitgliedstaaten; eine solidarische Verteilung von Asylbewerbern in der gesamten EU und die Schaffung von legalen Schutzwegen für Flüchtlinge. Nur so können wir den Vorwurf der „Festung Europa“ entkräften. Wir dürfen allerdings auch die lokalen Vertreter nicht aus der Verantwortung lassen, gerade wenn es darum geht, Ressentiments abzubauen und Integrationsmöglichkeiten zu schaffen. Wir haben also noch viel Arbeit vor uns: auf europäischer Ebene, aber auch in Deutschland, Bulgarien und den anderen Mitgliedstaaten.
- Quelle: eurostat.
- Banya, Sofia, Charmanli, Pastragor, Voenna Rampa, Vrazdebhna und Kovachevtsi
- Busmantsi und Lyubimets
- Eurostat, Zahlen von Juni 2014, Pressemitteilung STAT/14/98
- UNHCR Observations: Current Situation of Asylum in Bulgaria – April 2014, p. 7
- Quelle: Missoc
- Siehe: PRO ASYL 2014: Bulgarien: Brutale Push Backs an der türkischen Grenze; Human Rights Watch 2014: Containment Plan. Bulgaria’s Pushbacks and Detention of Syrian and Other Asylum Seekers and Migrants: 14ff.; Bordermonitoring Bulgaria 2014: Child beaten at EU border: Brutal Push Backs continue in Bulgaria. 25.4.2014.; Human Rights Watch 2014: Bulgaria: New Evidence Syrians forced back to Turkey.
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Ja, liebe EU-Technokraten, mit dem Leben anderer Menschen kann man/frau seine Spielchen treiben..