Flüchtlingskinder
Das Menschenrecht auf Bildung gilt für alle – auf dem Papier
Nach der Kinderkonvention der Vereinten Nationen haben alle Kinder einen Rechtsanspruch auf einen Schulplatz. Dieses Recht steht auch Flüchtlingskindern in Deutschland zu, steht in der Praxis aber nur auf dem Blatt.
Von Mercedes Pascual Iglesias und Ariane Dettloff Montag, 13.04.2015, 8:25 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 03.04.2024, 7:01 Uhr Lesedauer: 8 Minuten |
„Die Schulpflicht ist unabhängig vom Aufenthaltsstatus zu regeln. Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) verlangt, dass alle Kinder mit ihrer Ankunft in Deutschland Unterricht erhalten.“ Damit fordert Marlis Tepe als Vorsitzende der GEW schlichtweg ein Menschenrecht ein – das Menschenrecht auf Bildung –, denn die Realität sieht allzu oft für geflüchtete Kinder und Jugendliche anders aus, auch in Nordrhein-Westfalen.
Flüchtlingswohnheim Herkulesstraße, Köln Ehrenfeld. Die Nichtbeschulung ist offenkundig. Kinder im Schulalter streifen vormittags durch die tristen Gänge des früheren Verwaltungsgebäudes und heute größtem Heim der Stadt mit über 600 Bewohnern. Enis (12), Zejnebe (10) und Ebubeker (6) sind drei von ihnen. Seit sechs Monaten lebt die Familie Asimi hier, und seitdem warten die drei Kinder auf einen Schulplatz. Weil sie noch keine Zuweisung nach Köln haben, werden sie nicht von der Meldestelle ans Schulamt weiter-gemeldet.
Dreimal pro Woche können sie aber an einem zweistündigen Deutschkurs in ihrer Notunterkunft teilnehmen. Er wird von Lehramtsstudenten durchgeführt. Die Familie Asimi hat sich jüngst wie fünf weitere Familien an die Kölner Initiative „Schulplätze für alle“ gewandt, damit deren Kinder endlich nach Monaten einen Schulplatz in Köln bekommen.
Kornelia Meder von der Initiative beschreibt das Dilemma: „Nach dem Schulgesetz von NRW haben die Kinder von Asylbewerbern erst dann eine Schulpflicht, wenn sie einer Kommune zugewiesen sind. Dauert die Zuweisung wie bei diesen Kölner Familien etliche Monate, dann gehen die Kinder in dieser Zeit auch nicht in die Schule.“
Das Kommunale Integrationszentrum, das zuständig ist für die Beratung und Beschulung von Kindern, die neu nach Köln einwandern, hat die Familie Asimi mit einem Zettel weggeschickt, auf dem steht: „Anmeldung bei der Stadt Köln (Eine Zuweisung nach Köln ist erforderlich)“. Eine riesige Enttäuschung für die Eltern und die Kinder Asimi, die alle drei im Kosovo leistungsstarke Schüler waren.
Für die Initiative steht fest: „Auch wenn die Schulpflicht noch nicht greift, haben diese Kinder einen Rechtsanspruch auf einen Schulplatz nach der UNO Kinderkonvention. Die Familien brauchen eine gute Beratung und die Kinder müssen schnellstmöglich einen Schulplatz bekommen. Es ist schließlich nicht so, dass die Kinder statt Schule andere pädagogisch wertvolle integrative Angebote zur Integration und Traumabearbeitung in den Flüchtlingsheimen erhalten.“
Diese Sichtweise teilt auch das Kommunale Integrationszentrum der Städteregion Aachen. Deren Leiterin Andrea Genten verweist zwar ebenfalls auf das Dilemma, dass „nichtzugewiesene“ Kinder zunächst nicht erfasst werden. „Doch wenn sie zu uns kommen, werden sie genauso behandelt wie die Kinder von EU-Bürgern und die Kinder von zugewiesenen Asylbewerbern. Sie werden von uns beraten und wir suchen nach einem Schulplatz für sie.“
Hürden Trauma und Sprachbarrieren
Mohammad Hasan hat Glück gehabt. Seine Eltern sind mit ihm dem Krieg in Syrien entflohen und bekamen hier Asyl. Jetzt besucht der zwölfjährige Junge die vierte Klasse der Grundschule in Kölns „Belgischem Viertel“. Doch einfach ist das für ihn nicht. Mohammad hat in Syrien nur in arabischer Schrift Schreiben gelernt. Deutsch fällt ihm noch sehr schwer.
Sein Vater Delkhwash Hasan wünscht sich dringend Nachhilfe für seinen Sohn und dessen 13-jährige Schwester Zainab. Sie besucht die Realschule, kommt aber in Mathematik schlecht mit. In Syrien, wirft ihre Mutter ein, sei sie dagegen in Mathe richtig gut gewesen.
Mohammad berichtet, dass er manchmal von anderen Schülern beschimpft wird. Trotzdem gehen er und seine beiden Schwestern – Yasmin ist in der 3. Grundschulklasse – gerne in die Schule. Ihre Lehrer seien nett.
Delkhwash Hasan ist weniger zufrieden mit dem Unterricht: „Mohammad hat in den vier Monaten kaum etwas gelernt“, findet sein Vater. Wirklich verwunderlich ist es bei 27 Schülern in der Klasse nicht, dass ein Kind mit speziellem Zusatzbedarf zurückbleibt. Und zwei Monate hat es gedauert, bis die schulpflichtigen Hasan-Kinder in Köln überhaupt zur Schule gehen konnten. Sie haben durch ihr Fluchtschicksal eine lange, belastende Lernunterbrechung hinter sich. „Mohammad hat auch keine Schulbücher“, wundert sich sein Vater. „Wie soll er da lernen und vorankommen? Ich habe seine Lehrerin gefragt, warum er als Einziger in der Klasse keine Bücher hat. Sie meinte: ,Das muss für ihn nicht sein.'“
Und in der kleinen Zwei-Zimmer-Wohnung, in der die sechsköpfige Familie derzeit wohnt, finden die Schulkinder keine Ruhe, um Hausaufgaben zu machen. Besonders der quirlige Dreijährige, Abdullah, lenkt sie gerne ab. Einen Kindergartenplatz gibt es für Abdullah bisher nicht, obwohl der Rechtsanspruch darauf auch für geflohene Kinder gilt.
Sein großer Bruder Mohammad hat schlechte Noten und daraufhin eine Hauptschulempfehlung bekommen. Seine Eltern sind deswegen besorgt. „Wir wissen nicht, ob da vielleicht Jungen sind, die ihn auch schlagen würden“, äußert Frau Hasan. Und überhaupt: Ist eine Hauptschulkarriere geeignet, seinem Sohn später berufliche Chancen zu bieten, fragt sich Vater Delkhwash Hasan. Weiß er denn, dass Eltern ein Mitspracherecht bei der Schulwahl haben und eventuell auch gegen das Votum der Pädagogen entscheiden können? „Nein, ich habe mich darauf verlassen, was die Lehrer sagen: Mohammad wäre zu schlecht für die Realschule. Und ich kann ja auch mit den Lehrkräften nicht reden, weil wir die Sprache nicht verstehen.“
Wie so viele Kinder, die fliehen mussten, hat auch Mohammad Furchtbares erlebt. Um die Kriegsszenen, die er mit ansehen musste, zu verarbeiten, wäre eine traumapädagogische Intervention sinnvoll, auch für seine Geschwister. „Sie können sich auch schwer konzentrieren, weil sie all diese Dinge auf dem Flüchtlingsschiff gesehen haben“, klagt Frau Hasan. Das Boot, das sie von Syrien nach Italien brachte, war völlig überfüllt. Viele Passagiere seien gestorben. Doch für Traumapädagogik ist das Schulpersonal hier nicht ausgebildet.
Zu wenig Lehrkräfte
Traumatisierende Erlebnisse und ihre Folgen wie etwa Kopfschmerzen, Schlafstörungen, Konzentrationsschwierigkeiten, Depressionen, Aggressionen und Angstzustände machen vielen Kindern zu schaffen und behindern schulisches Lernen. Es wäre notwendig, ihre Lehrer durch Fortbildungen darauf vorzubereiten, solchen Schwierigkeiten angemessen zu begegnen.
Die Kölner Schuldezernentin Agnes Klein erklärte Anfang März dazu: „Viele sind schwer traumatisiert, manche noch nicht einmal alphabetisiert oder haben vor der Flucht nur unregelmäßig die Schule besucht. Nur durch das enorme Engagement der Lehrkräfte in den Vorbereitungsklassen kann die Integration dieser Kinder und Jugendlichen gelingen.“
Was viele Lehrer freut, ist die oft überdurchschnittliche Lernmotivation von Flüchtlingskindern gerade kurz nach ihrer Ankunft in der Bundesrepublik Deutschland. Doch diese Motivation schwindet, wenn die Wartezeit auf einen Schulplatz – wie allzu oft – sehr lange dauert. „In dem Lager kannst du nichts machen – nur schlafen und essen. Dabei dachte ich, in Deutschland kann ich endlich zur Schule gehen“, äußert ein 18-jähriger Geflüchteter aus Sierra Leone frustriert, nachdem er ohne Eltern in einem Flüchtlingslager gestrandet ist.
Ganz auf sich gestellt
Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge haben es besonders schwer. Ganz auf sich gestellt müssen sie sich in der ihnen fremden Umgebung zurechtfinden. Nach einer gefahrvollen und nicht selten Jahre dauernden Reise sehen sie sich hierzulande mit verschiedenen aufenthalts- und asylrechtlichen Gesetzen konfrontiert, die ihnen den Zugang zum Bildungs- und Ausbildungssystem erschweren. Asylsuchende und „Geduldete“ haben keinen Anspruch auf Bafög oder Berufsausbildungsbeihilfe.
Wenn die Geflüchteten 18 Jahre alt sind, fallen sie aus der Schulpflicht heraus (außer in Bayern, das die Berufsschulpflicht für diese Zielgruppe auf 21 Jahre ausgeweitet hat). So lernen sie oft kaum Deutsch. Deshalb können sie häufig keinen Schulabschluss erreichen. Und auch ein Ausbildungsplatz kommt für sie kaum in Frage, weil sie oftmals keine Arbeitserlaubnis erhalten und weil ihnen, wenn sie nur „geduldet“ sind, stets die Abschiebung droht. Viele Arbeitgeber lehnen darum ein Ausbildungsverhältnis ab.
Diesen Misstand bekämpft unter anderen auch die Initiative „Jugendliche ohne Grenzen“. Die Selbstorganisation junger Flüchtlinge verlangt unter anderem kostenlose Sprachförderung für alle, das Recht, einen Schulabschluss nachzuholen, die Abschaffung von Studien-, Arbeits- und Ausbildungsverboten, einen Anspruch auf Ausbildungsförderung von Anfang an sowie Bildung und Förderung auch für Menschen ohne gültige Aufenthaltspapiere. Neben vielen weiteren Organisationen unterstützen die Arbeiterwohlfahrt, die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft und Pro Asyl die Kampagne „Bildung(s)los“ der jungen Flüchtlinge. (siehe www.jugendliche-ohne-grenzen.de)
Bildungspotenzial nutzen
Derzeit leben in Deutschland ca. 24.000 Minderjährige mit einer Duldung, knapp 10.000 haben eine Gestattung als Asylsuchende, insgesamt macht das rund 34.000 Heranwachsende im schulpflichtigen Alter mit ungesichertem Aufenthaltsstatus. Und diejenigen ohne Papiere sind offiziell gar nicht existent. Etliche Schulen nehmen sie aber dennoch auf. In manchen Bundesländern wie zum Beispiel in Nordrhein-Westfalen sind sie sogar schulpflichtig bis zu ihrer Ausreise. Aber auch den Kindern von Geflüchteten mit einer Aufenthaltserlaubnis wird es nicht leicht gemacht, eine normale Bildungskarriere zu durchlaufen. Mit ein paar Extrastunden Deutsch ist es nicht getan.
Was die jungen Menschen vor allem brauchen, beurteilt die Ethnologin Elham Asfahani aus ihrer eigenen Erfahrung heraus so: „Wichtig ist vor allem eine Struktur in ihrem Alltag. Unbedingt benötigen sie einen Platz in der Schule und aufmerksame Lehrer, die diesen Kindern Raum bieten, wieder Kind sein zu dürfen und dazuzugehören. Dafür brauchen sie aber auch eine gute Betreuung und Förderung. Die Schule könnte der Ort sein, an dem diese Kinder zur Ruhe kommen können.“
Wo keine empathische individuelle Förderung stattfindet, ist Scheitern oft vorprogrammiert. Doch nicht nur die Lernbedingungen entscheiden über Erfolg oder Misserfolg. Wo die Lebensverhältnisse so lernfeindlich sind wie in beengten Flüchtlingsheimen, wo es keine Ruhe gibt, um konzentriert Hausaufgaben zu erledigen, können auch intelligente, lernwillige Kinder schulisch scheitern. Viele Bildungshürden also. „Mischen wir uns ein“, verlangt die GEW-Vorsitzende Marlis Tepe, „treten wir rassistischen Ausgrenzungen entgegen!“ Gesellschaft Leitartikel
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