
Flüchtlingskinder
Das Menschenrecht auf Bildung gilt für alle – auf dem Papier
Nach der Kinderkonvention der Vereinten Nationen haben alle Kinder einen Rechtsanspruch auf einen Schulplatz. Dieses Recht steht auch Flüchtlingskindern in Deutschland zu, steht in der Praxis aber nur auf dem Blatt.
Von Mercedes Pascual Iglesias und Ariane Dettloff Montag, 13.04.2015, 8:25 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 04.06.2015, 12:45 Uhr Lesedauer: 8 Minuten |
„Die Schulpflicht ist unabhängig vom Aufenthaltsstatus zu regeln. Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) verlangt, dass alle Kinder mit ihrer Ankunft in Deutschland Unterricht erhalten.“ Damit fordert Marlis Tepe als Vorsitzende der GEW schlichtweg ein Menschenrecht ein – das Menschenrecht auf Bildung –, denn die Realität sieht allzu oft für geflüchtete Kinder und Jugendliche anders aus, auch in Nordrhein-Westfalen.
Flüchtlingswohnheim Herkulesstraße, Köln Ehrenfeld. Die Nichtbeschulung ist offenkundig. Kinder im Schulalter streifen vormittags durch die tristen Gänge des früheren Verwaltungsgebäudes und heute größtem Heim der Stadt mit über 600 Bewohnern. Enis (12), Zejnebe (10) und Ebubeker (6) sind drei von ihnen. Seit sechs Monaten lebt die Familie Asimi hier, und seitdem warten die drei Kinder auf einen Schulplatz. Weil sie noch keine Zuweisung nach Köln haben, werden sie nicht von der Meldestelle ans Schulamt weiter-gemeldet.
Dreimal pro Woche können sie aber an einem zweistündigen Deutschkurs in ihrer Notunterkunft teilnehmen. Er wird von Lehramtsstudenten durchgeführt. Die Familie Asimi hat sich jüngst wie fünf weitere Familien an die Kölner Initiative „Schulplätze für alle“ gewandt, damit deren Kinder endlich nach Monaten einen Schulplatz in Köln bekommen.
Kornelia Meder von der Initiative beschreibt das Dilemma: „Nach dem Schulgesetz von NRW haben die Kinder von Asylbewerbern erst dann eine Schulpflicht, wenn sie einer Kommune zugewiesen sind. Dauert die Zuweisung wie bei diesen Kölner Familien etliche Monate, dann gehen die Kinder in dieser Zeit auch nicht in die Schule.“
Das Kommunale Integrationszentrum, das zuständig ist für die Beratung und Beschulung von Kindern, die neu nach Köln einwandern, hat die Familie Asimi mit einem Zettel weggeschickt, auf dem steht: „Anmeldung bei der Stadt Köln (Eine Zuweisung nach Köln ist erforderlich)“. Eine riesige Enttäuschung für die Eltern und die Kinder Asimi, die alle drei im Kosovo leistungsstarke Schüler waren.
Für die Initiative steht fest: „Auch wenn die Schulpflicht noch nicht greift, haben diese Kinder einen Rechtsanspruch auf einen Schulplatz nach der UNO Kinderkonvention. Die Familien brauchen eine gute Beratung und die Kinder müssen schnellstmöglich einen Schulplatz bekommen. Es ist schließlich nicht so, dass die Kinder statt Schule andere pädagogisch wertvolle integrative Angebote zur Integration und Traumabearbeitung in den Flüchtlingsheimen erhalten.“
Diese Sichtweise teilt auch das Kommunale Integrationszentrum der Städteregion Aachen. Deren Leiterin Andrea Genten verweist zwar ebenfalls auf das Dilemma, dass „nichtzugewiesene“ Kinder zunächst nicht erfasst werden. „Doch wenn sie zu uns kommen, werden sie genauso behandelt wie die Kinder von EU-Bürgern und die Kinder von zugewiesenen Asylbewerbern. Sie werden von uns beraten und wir suchen nach einem Schulplatz für sie.“
Hürden Trauma und Sprachbarrieren
Mohammad Hasan hat Glück gehabt. Seine Eltern sind mit ihm dem Krieg in Syrien entflohen und bekamen hier Asyl. Jetzt besucht der zwölfjährige Junge die vierte Klasse der Grundschule in Kölns „Belgischem Viertel“. Doch einfach ist das für ihn nicht. Mohammad hat in Syrien nur in arabischer Schrift Schreiben gelernt. Deutsch fällt ihm noch sehr schwer.
Sein Vater Delkhwash Hasan wünscht sich dringend Nachhilfe für seinen Sohn und dessen 13-jährige Schwester Zainab. Sie besucht die Realschule, kommt aber in Mathematik schlecht mit. In Syrien, wirft ihre Mutter ein, sei sie dagegen in Mathe richtig gut gewesen.
Mohammad berichtet, dass er manchmal von anderen Schülern beschimpft wird. Trotzdem gehen er und seine beiden Schwestern – Yasmin ist in der 3. Grundschulklasse – gerne in die Schule. Ihre Lehrer seien nett.
Delkhwash Hasan ist weniger zufrieden mit dem Unterricht: „Mohammad hat in den vier Monaten kaum etwas gelernt“, findet sein Vater. Wirklich verwunderlich ist es bei 27 Schülern in der Klasse nicht, dass ein Kind mit speziellem Zusatzbedarf zurückbleibt. Und zwei Monate hat es gedauert, bis die schulpflichtigen Hasan-Kinder in Köln überhaupt zur Schule gehen konnten. Sie haben durch ihr Fluchtschicksal eine lange, belastende Lernunterbrechung hinter sich. „Mohammad hat auch keine Schulbücher“, wundert sich sein Vater. „Wie soll er da lernen und vorankommen? Ich habe seine Lehrerin gefragt, warum er als Einziger in der Klasse keine Bücher hat. Sie meinte: ,Das muss für ihn nicht sein.'“
Und in der kleinen Zwei-Zimmer-Wohnung, in der die sechsköpfige Familie derzeit wohnt, finden die Schulkinder keine Ruhe, um Hausaufgaben zu machen. Besonders der quirlige Dreijährige, Abdullah, lenkt sie gerne ab. Einen Kindergartenplatz gibt es für Abdullah bisher nicht, obwohl der Rechtsanspruch darauf auch für geflohene Kinder gilt. Gesellschaft Leitartikel
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