Rezension zum Wochenende
Wenn dumpfe Neonazi-Parolen auf ein Flüchtlings-Mädchen treffen
Peer Martin erzählt in seinem Debütroman eine ungewöhnliche Liebesgeschichte zweier unterschiedlicher Menschen. Viele ineinander verwobene Ereignisse in sehr bildlicher Sprache faszinieren und fesseln den Leser bis zur letzten Seite wie ein spannender Krimi.
Von Rukiye Cankıran Freitag, 06.03.2015, 14:40 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 16.04.2015, 16:03 Uhr Lesedauer: 5 Minuten |
Nuri stammt aus Syrien und lebt mit ihrer Familie und anderen Flüchtlingen in einem Asylantenheim. Calvin ist Mitglied einer rechten Jugendclique und wohnt nur einige Häuserblocks weiter. Die beiden lernen sich bei der betagten Sozialarbeiterin Frau Silbermann kennen und verlieben sich.
Während die Neonaziclique von Calvin einen Brandanschlag auf das Asylantenheim plant, bei dem „alles irgendwann in Schutt und Asche liegen wird“, versuchen die dort lebenden Menschen den Krieg in ihrer Heimat zu vergessen und ein neues Zuhause zu finden. Sie sind den frustrierten und arbeitslosen Jugendlichen Cindy, Jason, Kimberley, Pascal und auch Calvin ein Dorn im Auge. Deren Meinung nach „bekommen die Asylanten Waschmaschinen. Wenn man als Hartz-IV-Empfänger eine neue Waschmaschine beantragt, dauert das Jahre. Den Ausländern schieben sie es in den Arsch.“ Und dann kommt noch die andersartige, fremde Sprache hinzu. „In Deutschland gibt es eine Sprache, eine völlig perfekte Sprache, niemand braucht noch eine zweite. Und wem diese Sprache nicht gut genug ist, die Sprache von Goethe und Schiller und Hitler, der kann gerne gehen. Der hat hier nichts verloren.“ Das ist die Überzeugung der Jugendgang.
Das Leben von Calvin wird von Vorurteilen, Frust und Fremdenhass bestimmt. Arbeitslosigkeit und finanzielle Not sind für ihn Alltag. Ebenso eine kranke, überforderte Mutter, die geschieden ist von seinem Vater, einen neuen Freund und zweite weitere kleine Kinder hat. Die Verantwortung für die beiden muss Calvin tragen. Die Welt von Nuri besteht aus Angst, Flucht und Kriegstrauma. Schwarze Schatten und Flügel verfolgen sie. Sie sind überall um Nuri herum, manchmal denkt Nuri sogar, dass diese Schatten von ihr selbst stammten, aus ihr heraus entstehen. So ungleich Nuri und Calvin sind, beide verbindet die Zukunftsangst. Beide sind auf der Suche nach einem Zuhause, das ihnen Schutz und Geborgenheit bietet. Sie fragen nach dem Sinn des Lebens. Heimlich treffen sie sich und sind immer mehr voneinander fasziniert. Ihren Familien müssen sie ihre Liebe verheimlichen.
Dem Autor Peer Martin ist eine ungewöhnliche Liebesgeschichte, eingebettet in aktuelle Themen gelungen. Er arbeitete viele Jahre als Sozialpädagoge in Berlin, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern mit Jugendlichen. Im Rahmen seiner Arbeit begegnete er vielen Calvins. Die Idee zu diesem Buch entstand bei einem Spaziergang an der Ostseeküste mit seiner Hündin. „Sie waren zu weit weg, um Genaues zu erkennen: ein Pärchen am Strand, ein Mädchen mit Kopftuch und ein blonder Junge mit verdächtig kurzem Haar und eindeutiger Kleidung. Sie standen dicht beieinander, hielten sich an den Händen und sahen sich an. Das erste, was ich dachte, war: das geht doch nicht…Vielleicht habe ich mir das alles nur eingebildet.“ Wie auch immer, jedenfalls ist aus diesem Bild der Roman entstanden. Der 47jährige Autor kritisiert gesellschaftliche und politische Missstände. Mit seiner unkonventionellen Liebesgeschichte zeigt er, welche Veränderungen Liebe bei Menschen bewirken kann. Calvin und Nuri gehen aufeinander zu und lernen das Leben des anderen kennen. Sie sind offen für das Fremde und erfahren, dass ihre Vorurteile nicht der Realität entsprechen. Die atmosphärischen Schilderungen von Nuri verzaubern Calvin, lassen ihn an seinem Verhalten zweifeln, stellen seinen Alltag, der aus Gewalt und Hass besteht, in Frage.
„Ich denke an Allah. Allah, wo bist du? Sitzt du im Bus…? Ich bin ein sehr feiger, kleiner Mensch. Ich möchte nicht ausgelöscht werden. Ich möchte auch nicht mehr mutig sein und demonstrieren. Lass mich zurückkehren zu den Weintraubenfeldern, zurück zur Wüste und den Armen meines Vaters, in meine Kindheit.“ Nuri sehnt sich nach ihrer Heimat, sie möchte zurück. Ihre Worte werfen ein völlig anderes Licht auf die Flüchtlinge. Calvin ist irritiert. Zum ersten Mal fühlt er Liebe, er kann seine Emotionen nicht kontrollieren, das erschreckt ihn.
Der Roman umfasst knapp 500 Seiten. Eigentlich könnten es mehrere Romane sein:
Zunächst die Geschichte der Flucht von Nuri und ihrer Familie, der Bürgerkrieg in Syrien, der lange und traurige Weg nach Deutschland und das Leben im Asylantenheim. Die Sehnsucht nach Frieden. Peer Martin hat gut recherchiert, schreibt viele Details zum Schrecken des Bürgerkriegs über Gewalt, Folter, Angst, Tod und Trauer.
Dann ist „Sommer unter schwarzen Flügeln“ die Geschichte von Calvin und seiner rechten Jugendgang, ihrem tristen Alltag in den trostlosen Plattenbauten, auch abwertend sozialer Brennpunkt oder politisch korrekt Quartiere mit Potential genannt. In dem Roman fühlt man den Pädagogen Peer Martin. Er kennt die Lebensumstände und Schwierigkeiten der Menschen, die in benachteiligten Stadtteilen wohnen. Seine Sprache ist klar und transportiert Bilder mit vielen kleinen Details.
Am Rande ist das Buch auch ein kleines Stück deutsche Nachkriegsgeschichte, die Biographie von Frau Silbermann. „Ich bin die einzige Frau Silbermann, die anderen haben den Krieg nicht überlebt.“ An anderer Stelle sagt die Sozialarbeiterin: “ Wer überlebt, hat Verantwortung, muss Dinge ändern. Tot sein ist so, als ob man eine Party vor dem Ende verlässt. Die, die bleiben, müssen aufräumen.“
Insgesamt ist das Buch auch wie ein spannender Krimi. Bis zur letzten Seite bleibt es spannend und selbst wenn man es fertig gelesen hat, beschäftigt es den Leser. „Sommer unter schwarzen Flügeln“ ist ein Jugendbuch, empfohlen ab 16 Jahren. Rechte Gewalt und Fremdenhass sind zentrale Themen. „Dauerrauchende, trinkende, ständig Schule schwänzende 16-jährige, die in ihrem Leben nie eine Chance hatten, andere Kulturen, oder auch nur die eigene, kennenzulernen“ waren Problemfälle mit denen Peer Martin gearbeitet hat. Er ist der Meinung, dass man die Augen vor Jugendgewalt nicht verschließen darf. „Leider gibt es überall Gewalt, und nicht nur in den sogenannten Brennpunktvierteln, sondern gleich um die Ecke. Das ist ein Fakt, den Jugendliche durchaus realisieren sollten. Die ausländischen Jugendlichen, mit denen ich zusammen gearbeitet habe, waren ebenfalls keine lieben, braven Opfer. Aus diesem Grund gibt es in meinem Buch Kamal, Nuris Bruder, mit seinem Messer in der Tasche und seinen durchaus wehrhaften Fäusten. Wir alle können unter bestimmten Voraussetzungen zu Gewalttätern werden. Das ist ja das Beunruhigende.“
„Sommer unter schwarzen Flügeln“ ist eine Liebesgeschichte, vielleicht eine moderne Version von Romeo und Julia, eine Liebe, die eigentlich keine Chance hat, da die Familien des Liebespaares aus verfeindeten Lagern stammen. Ist das Unmögliche möglich? Lesen Sie es selbst! Der Roman ist absolut lesenswert und wie gesagt bis zur letzten Seite spannend! Aktuell Rezension
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Schöne Rezension. Von Peer Marting gibt es ferner eine sehr informtative Website mit Hintergrundinfos, Leseprobe, News und Unterrischtsmaterial unter http://unter-schwarzen-fluegeln.com
Grüße,
Tom Muenster