Geld, Land und Nahrung

Die Lüge von der Bevölkerungsbombe

In Zeiten der Dauerkrise ist die Klage vor "zu vielen Menschen" eine ebenso beliebte wie verklärende Strategie, um von den wahren Gründen für Armut, Hunger und Naturzerstörung abzulenken. Von Patrick Spät

Von Patrick Spät Montag, 19.01.2015, 8:25 Uhr|zuletzt aktualisiert: Freitag, 23.01.2015, 8:56 Uhr Lesedauer: 15 Minuten  |  

„Die Schattenseite des Überflusses ist der überflüssige Mensch.“ (Ilija Trojanow)

Ständig schüren Medien und Politiker Ängste, dass Europa überrannt wird. Jüngstes Beispiel sind die menschenfeindlichen und rassistischen Pegida-Demonstrationen. Zuvor warnte der rechtspopulistische Thilo Sarrazin, SPD-Mitglied und waschechter Sozialdarwinist, bekanntermaßen davor, dass Deutschland sich „abschaffe“. Und Horst Seehofer, CSU-Vorsitzender und Ministerpräsident von Bayern, hetzte am 9. März 2011 beim politischen Aschermittwoch der CSU:

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„Wogegen wir größte Vorbehalte und Bedenken haben – und da werden wir uns in der Berliner Koalition sträuben bis zur letzten Patrone, liebe Freunde, und niemals nachgeben –, dass wir eine Zuwanderung in die deutschen Sozialsysteme bekommen. Das wollen wir nicht, liebe Freunde.“

Gesagt, getan: Die EU tut alles dafür, dass jährlich tausende Flüchtlinge im Mittelmeer ertrinken, damit sie auch ja nicht unseren Wohlstand antasten. Die Grenzpolizei Frontex gleicht einer Todesschwadron. Nachdem im Herbst 2013 innerhalb weniger Tage über 400 Flüchtlinge im Mittelmeer ertranken, startete die italienische Regierung die Operation „Mare Nostrum“ (welch patriotischer Name) zur Seenotrettung von Flüchtlingen. Die Operation dauerte ein Jahr, über 150.000 Menschen wurden gerettet! Die Kosten für „Mare Nostrum“ beliefen sich auf rund 112 Millionen Euro. Es ist höchst makaber, angesichts des Schreckens mit solchen Zahlen zu rechnen – aber noch viel katastrophaler ist die EU-Politik selbst. Also: Die EU gibt damit umgerechnet 80 Euro pro Menschenleben aus. Und das ist der EU seit dem Herbst 2014 zu teuer! Der EU-Haushalt liegt bei über 140 Milliarden Euro. Und ein Menschenleben ist schlichtweg unbezahlbar!

Ein kurzer Vergleich in Sachen Geld: Das EU-Parlament zieht jeden Monat einmal zwischen Brüssel und Straßburg hin und her. Alle Abgeordneten machen diesen wohl größten Wanderzirkus der Welt mit. Aktenordner und Computer werden in zig LKWs herumtransportiert. Und was kostet der Spaß? Laut Europäischem Rechnungshof belaufen sich die Kosten pro Jahr auf über 200 Millionen Euro! Das sind europäische Werte: Wir schicken Abgeordnete mit Lastwägen und Zügen durch Europa. Aber Boote schicken, wenn Menschen – darunter viele Kinder – ertrinken, das ist der EU zu teuer. So viel zum Friedensnobelpreisträger Europäische Union.

Gleichzeitig investiert die EU zig Millionen Euro in Frontex bzw. ins neue Programm Frontex+, bei dem der deutsche Bundesinnenminister Thomas de Maizière „weder das Mandat und noch die Ressourcen“ für Seenotrettungen sieht. Die Menschen sollen nach dem Willen de Maizières nicht gerettet, sondern abgeschoben und abgedrängt werden: „Wir müssen die Umsetzung unserer gemeinsamen Rückführungspolitik […] innerhalb der EU mit den Drittstaaten verbessern. Eine solche Arbeit der Identitätsermittlung würde, zusammen mit der Rückkehrpolitik, auch ein integraler Bestandteil der Operation Frontex + sein.“

Kein Wort darüber, dass die Flüchtlinge ein Recht darauf haben, einen Asylantrag zu stellen. Und kein Wort darüber, dass Flüchtlinge nicht aus Jux und Tollerei fliehen, sondern weil sie verfolgt und vertrieben werden und notleidend sind.

Die wenigen Menschen, die an den Grenzschützern vorbeikommen, geraten vom Regen in die Traufe: Deutschland, Schweiz, Frankreich, … die reichsten Länder der Welt lassen Flüchtlinge in heruntergekommenen Unterkünften zusammenpferchen, berauben sie ihrer mobilen Freiheit und ihrer Menschenwürde. Viele müssen unter freiem Himmel schlafen und eine ärztliche Versorgung gibt es nur in lebensbedrohlichen Notfällen. Kinder bekommen keine Spielsachen und durchleben Todesängste. In Deutschland wird Kindern erst ab dem 12. Lebensjahr eine Zahnbürste zugebilligt. Und obendrein werden die Flüchtlingsunterkünfte von Sicherheitsdiensten überwacht, deren Personal oft aus Hooligans und Neonazis besteht, die Flüchtlinge drangsalieren, schikanieren und oft genug auch schlagen. All diese Grauen erleben jene, die es bis nach Deutschland geschafft haben, dass sich mit der Dublin-III-Verordnung abschotten will: Asyl können Flüchtlinge nur in dem EU-Land beantragen, das sie zuerst betreten haben. Aufgrund seiner geographischen Lage bräuchte man schon ein Katapult, um die BRD zu betreten, ohne sich zuvor durch Griechenland, Italien, Polen oder andere Länder zu bewegen. Doch schon das ist schwierig: Die reichen Industrienationen schotten sich systematisch ab. Gesellschaft Meinung

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  1. Realist sagt:

    Eine Zuwanderung in die Sozialsysteme schadet letztlich den Migranten selbst. Je mehr man verteilt, desto weniger bleibt übrig. Da hilft die selbst definierte „Moral“ nichts, auch kein „Recht“, sondern nur der Realismus einer Partei wie der CSU! Wenn man unbegrenzte Zuwanderung für alle will, bitteschön, dann soll man aber auch nicht jammern.

  2. Thomas Rindt sagt:

    Hervorragender Artikel!!

    …und er lässt mich ziemlich ratlos zurück – wissen und nicht handeln ist eigentlich schon eine Missetat! Ich weiß – und spätestens nach diesem Artikel kann jeder wissen – und dennoch „genieße“ ich den Überfluss unserer Industriegesellschaft – ich rede gegen „unsere“ Flüchtlingspolitik, kritisiere den Kapitalismus – dieses Grundübel und Monster unserer Zeit – aber handele ich radikal genug? Ganz bestimmt nicht! Nicht mal ansatzweise!

  3. H.P.Barkam sagt:

    @ Realist

    Zuwanderung in die Sozialsysteme? Abgesehen davon, dass Fakten und Zahlen anderes belegen, gerade auch hier immer wieder nachzulesen,
    geht es doch wohl in erster Linie um Zuwanderung in die Menschlichkeit,
    solange es weltweit über 45 Millionen Verfolgte und Kriegsflüchtlinge gibt.
    Übrigens, dass die meisten Nörgler in den neuen Bundesländern sitzen und als Pegida oder gleich als Nazis über die Ausnutzung deutscher Sozialsysteme meckern, liegt ja wohl daran, dass gerade vieler dieser Rechtsextremen selbst die Sozialkassen plündern – die sie für scheinbar als ihr Eigentum betrachten, ohne je selbst darin eingezahlt zu haben oder sich direkt als V-Leute und Informanten vom Staat bezahlen lassen.

    In diesem Sinne

  4. Poser sagt:

    Das Hauptproblem liegt darin, dass wir Menschen denken intelligenter und weniger instinktgeleitet zu sein als Tiere. Aber schlussendlich leben wir auch nur nach dem Motto „survival of the fittest“. Wir sind nicht sozialere oder bessere Erdenbewohner als der Hund der in einem youtube-video einen anderen Hund von der Autobahn zieht. Wir besitzen nur die Arroganz zu behaupten wir wären was besseres und könnten mehr leisten.

  5. Realist sagt:

    @ H.P. Barkham „Abgesehen davon, dass Fakten und Zahlen anderes belegen“

    Ihre Aussage verstehe ich nicht. Ich habe nur behauptet, dass eine Zuwanderung in die Sozialsysteme schlecht ist. Wo mehr verteilt wird als vorher, muss folgerichtig weniger pro Kopf verteilt werden. Diese Tatsache werden Sie ja wohl kaum abstreiten. Wer so sozial ist, dass er an alle verteilt, handelt im Endeffekt zwar theoretisch sozial, aber nicht praktisch sozial. Was soll an dieser Haltung besonders „menschlich“ sein?
    Der „Ossi“ kennt dieses System. Die Ostdeutschen haben sich den Sozialismus als System nicht ausgesucht. Wenn sie heute relativ arm oder wirklich arm sind, dann ist das nicht die Schuld irgendwelcher Großkapitalisten, sondern das der SED-Sozialisten. Der Sozialismus funktioniert nicht, weil er von falschen Grundannahmen ausgeht, deren Richtigkeit noch niemals belegt werden konnte. Im Übrigen möchte ich darauf hinweisen, dass die meisten Pegidaanhänger ganz normale Arbeitnehmer sind. Hier marschiert der Mittelstand!

  6. Stogumber sagt:

    „Wenn in milliardenschweren Schwellenländern wie Indien oder China jeder Bewohner ein Auto, ein Haus, ein Smartphone und ein Steak haben möchte, wer vermag ihm dann diesen Wunsch abzustreiten, solange “wir” dieses Übermaß vorleben und sonntags unseren Zweitwagen waschen?“

    Eine sehr „weiße“ Überlegung. Wir sollen also unseren Zweitwagen abschaffen (ich hab gar kein Auto), damit sich die Bewohner der Schwellenländer ein Beispiel nehmen und ebenfalls auf weiteres Wirtschaftswachstum verzichten. Die Probleme der Afrikaner lassen sich dann anschließend durch bloße Umverteilung erledigen.

    Das zentrale Problem, was der Verfasser bekämpft, ist offenbar nicht die Armut, sondern das Wachstum.