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Zwischen Abschaffen und neuem "Wir".

Vom Werden und vom Selbstverständnis eines Einwanderungslandes

Inzwischen bezeichnet sich Deutschland als Einwanderungsland. Aber stimmt das? Prof. Thomas Kunz ist überzeugt, das Gegenteil ist der Fall: In Wahrheit charakterisieren Begrenzung, Selektion, Abwehr, Erschwerung und Illegalisierung das herrschende Zuwanderungsregime.

Von Thomas Kunz Montag, 24.11.2014, 8:25 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 27.11.2014, 23:22 Uhr Lesedauer: 14 Minuten  |  

Die Entwicklung der Bundesrepublik hin zu einem sich über die Bedeutung des Migrationsgeschehens bewusst seienden „Einwanderungslandes“ war ein relativ langer und widersprüchlicher Prozess, der sich über Jahrzehnte erstreckte und sich idealtypisch in mehrere Phasen unterteilen lässt – und der andauert. Die Phasenteilung hat sich in wissenschaftlichen Analysen etabliert, wenn auch mit Unterschieden hinsichtlich der Anzahl der Phasen, den zugeordneten Zeiträumen und inhaltlichen Schwerpunktsetzungen (vgl. Bade/Oltmer, 2004; Meier-Braun, 2006; Butterwegge, 2011). In den laufenden gesellschaftlichen Debatten um Migrationsgeschehen in der Bundesrepublik zeichnete sich die Frage nach einem einer Einwanderungsgesellschaft angemessenen gesellschaftlichen Selbstverständnis schon länger ab. Es deutet einiges daraufhin, diese Frage als Dreh- und Angelpunkt und prägend für die unabgeschlossene gegenwärtige Phase des Entwicklungsprozesses des Einwanderungslandes Deutschland zu begreifen.

Das späte Eingeständnis, Einwanderungsland zu sein

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Das Jahr 1998 markierte einen Wendepunkt in der bundesrepublikanischen Debatte um das Selbstverständnis, ein Einwanderungsland zu sein. Mit der damaligen Wahl einer rot-grünen Bundesregierung wurde das Bekenntnis, eben ein Einwanderungsland zu sein, programmatische Grundlage der Ausländerpolitik auf Bundesebene. Zugleich zeichnete sich ab, integrationspolitischen Aspekten auf Bundesebene zukünftig ausdrücklich stärkere Bedeutung beizumessen. All dies materialisierte sich in Gestalt der Erarbeitung, parlamentarischen Verhandlung und schließlich dem Inkrafttreten des sogenannten Zuwanderungsgesetzes im Jahr 2005 – dem eine heftige innenpolitische Kontroverse sowie ein verfassungsrechtlicher Streit voraus gingen. Besonderheit dieses Gesetzes war neben der Bündelung verschiedener ausländerrechtlicher Regelungen in einem einzigen Gesetz der exponierte Einbezug integrationspolitischer Maßnahmen. (Vgl. Meier-Braun, 2006, S. 206f.; Butterwegge, 2011, S. 25f.). Gleichzeitig wurden die Diskussionen um Details und die Ausgestaltung durch 9/11, d.h. die Anschläge auf das World Trade Center in New York im Jahr 2001 beeinflusst. Ein Ereignis, welches ebenso eine Zäsur markierte, da fortan Fragen der Inneren Sicherheit in Gestalt der sogenannten Terrorbekämpfung den Migrationsdiskurs mehr als ohnehin schon beeinflussten. 9/11 bedeutete eine weitere inhaltliche Verschiebung hin zu Sicherheitsfragen sowie eine Intensivierung teils schon bekannter Bedrohungsrhetoriken (vgl. Kunz, 2012), deren tragende Konstrukte sich insbesondere durch eine Kontextsetzung mit islamischer Religionszugehörigkeit auszeichneten. Beides wirkt(e) sich auf das Zuwanderungsgesetz im Speziellen und die gesellschaftliche Diskussion des Migrationsthemas im Allgemeinen aus.

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Deutschland – widerwilliges Einwanderungsland

Auch wenn die Bundesrepublik sich auf politischer Ebene und parteienübergreifend Einwanderungsland nennt: diese Selbstbezeichnung ist angesichts anhaltender Einwände und seitens Einwanderungsskeptikern und –gegnern propagierten Bedrohungsszenarien ein Euphemismus. Sie ist ein Euphemismus, soweit damit nahelegt wird, die Bundesrepublik sei ein Land, welches Zu- bzw. Einwanderung leicht mache oder gar befördere. Das Gegenteil ist der Fall: Begrenzung, Selektion, Abwehr, Erschwerung und Illegalisierung sind Stichworte, welche viel eher das herrschende Zuwanderungsregime charakterisieren. So betrachtet erscheint die Bezeichnung „widerwilliges Einwanderungsland“ (Bade, 2007, S. 33) auch weiterhin angemessener. Dieser Widerwillen wird auch an der Bezeichnung des nach einigem innenpolitischen Hin- und Her in Kraft getretenen Gesetzes deutlich. Zwar wird es im öffentlichen Sprachgebrauch „Zuwanderungsgesetz“ genannt, der tatsächliche und vollständige Titel lautet indes „Gesetz zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern“ (ZuwandG, BGBl. I S. 1950).

„9/11 bedeutete eine weitere inhaltliche Verschiebung hin zu Sicherheitsfragen sowie eine Intensivierung teils schon bekannter Bedrohungsrhetoriken, deren tragende Konstrukte sich insbesondere durch eine Kontextsetzung mit islamischer Religionszugehörigkeit auszeichneten.“

Aber auch die Quasi-Verpolizeilichung der EU-Flüchtlings- und Asylpolitik in Gestalt der Einrichtung und Arbeit der Europäische Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen, bekannt unter dem Akronym FRONTEX (abgeleitet von „Frontières extérieures“, dem französischen Wort für Außengrenzen), ist ein Beispiel für diese Dynamik, deren abwehrender Charakter sich mit dem Stichwort „Festung Europa“ holzschnittartig aber treffend beschreiben lässt. Zunehmend wird auch EU-Binnenmigration als bedrohlich gerahmt, nachdem die Eurokrise und die daraus resultierenden gesellschaftlichen Konflikte in den betroffenen Mitgliedstaaten zu einer Zunahme des Wanderungsgeschehens geführt haben. Der Begriff Festung ist jedoch insofern irreführend, als damit keine pauschale Abschottung gegen Zuwanderung gemeint ist, als vielmehr ein nach Nützlichkeits- und Verwertungskriterien differenzierendes, durchaus flexibel und dynamisch agierendes Zuwanderungsregime. Auf insbesondere ökonomisch indizierte Arbeitskräftebedarfe in den Mitgliedsstaaten wird mit selektiver Durchlässigkeit reagiert, Zuwanderungsversuche von als nicht wünschenswert identifizierten Migranten werden an den EU-Außengrenzen mit umfassenden paramilitärischen Mitteln bekämpft bzw. EU-Freizügigkeitsrechte enger ausgelegt.

Vom Eingeständnis zum angemessenen Selbstverständnis

Nachdem das widerwillige Eingeständnis, Einwanderungsland zu sein, gewissermaßen Staatsdoktrin wurde, gewinnt in der gegenwärtigen Phase des Migrationsdiskurses der gesellschaftliche Anpassungs- und Umstellungsprozess, den dieses Eingeständnis erforderlich macht, in Gestalt der Frage nach dem Selbstverständnis, stark an Bedeutung. Mehr noch: dieser Sachverhalt lässt sich identifizieren als entscheidendes, phasenprägendes Moment. Leitartikel Meinung

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