Plädoyer
Mehr Ethik mit Flüchtlingen und für Flüchtlinge
Die Flüchtlingsarbeit in Deutschland ist geprägt von systematischer Verletzung der Menschenwürde und massiver Unterbesetzung der Flüchtlingssozialarbeit - Prof. Claus Melter plädiert für mehr soziale Verantwortung durch mehr soziale Arbeit.
Von Claus Melter Donnerstag, 16.10.2014, 8:23 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 16.10.2014, 17:09 Uhr Lesedauer: 4 Minuten |
Was bedeutet der Satz des Bundesverfassungsgerichts von 2012, dass die Menschenwürde nicht durch migrationspolitische Absichten oder Regelungen eingeschränkt werden darf? Was bedeutet es, wenn Personen mit deutscher Staatsangehörigkeit ein Anrecht auf 40 bis 45 Quadratmeter Wohnraum haben und Flüchtlinge im Asylverfahren höchstens ein Anrecht auf 7,5 Quadratmeter? Was bedeutet es, wenn in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte Bewegungsfreiheit als Menschenrecht genannt wird, die immer noch gültige Residenzpflicht Flüchtlinge einschränkt? Was bedeutet es, wenn das Asylrecht mit den Einschränkungen von 1993 und 2014 Menschen nur noch minimale Möglichkeiten bietet, Zuflucht vor Verfolgung und Todesgefahren bietet?
Was bedeutet es, wenn Flüchtlinge in Bürgerkriegsgebieten nicht in die geringen Kontingente von Bürgerkriegsflüchtlingen gelangen (aktuell sind es 76.000 Anträge auf Zuflucht aus Syrien; das entsprechende bundesweite Kontingent für Bürgerkriegsflüchtlinge beträgt mittlerweile 20.000 Personen), da sie z.B. keine Übernahmeerklärung für die Krankenversicherung haben? Mitte Juni 2014 waren aufgrund der bürokratischen Hürden erst 4.600 Flüchtlinge aus dem syrischen Bürgerkrieg in der BRD aufgenommen worden (vgl. ebd.). 2,5 Millionen Syrer sind seit dem Beginn des Bürgerkrieges in Nachbarländer geflohen.
Was bedeutet es, wenn wie in Baden-Württemberg Flüchtlingssozialarbeitende in Erstaufnahmeeinrichtungen in einem Personalschlüssel von etwa 1 zu 136 Flüchtlinge arbeiten und keine Beratung vor der wichtigen Asylanhörung machen können? Ist Flüchtlingssozialarbeit politisch gewollt so unterbesetzt, damit die Flüchtlinge selbst die wenigen ihnen gegebene gesetzliche Rechte nicht angemessen in Anspruch nehmen können?
Die rechtliche Gleichstellung von Flüchtlingen gegenüber Staatsbürgern ist nicht gewährleistet, behandelt werden Flüchtlinge nur bei akuten Krankheiten, die Unterbringungssituation ist wegen geringer Größe und teils problematischen Hygienebedingungen Menschenwürde-widrig, da der Bund die Kommunen nicht ausreichend finanziell ausstattet und restriktive Unterbringungsregeln gesetzlich festgelegt hat, obwohl Kommunen, Zivilgesellschaft und Flüchtlingssozialarbeitende dies auszugleichen suchen. Das Recht auf Bildung wird bei Kinderflüchtlingen unzureichend während des Asylverfahrens gewährleistet.
Und es gibt vermehrte Übergriffe von gewalttätigen Mitarbeitenden von Sicherheitsfirmen in Flüchtlingsunterkünften.
Und die EU plant das Programm „Mare Nostrum“ der italienischen Regierung einzustellen, da sie dies nicht finanziell unterstützen will und durch ein wesentlich kleineres Programm der auf Flüchtlingsabschreckung und -überwachung spezialisierten Frontex-Organisation zu reduzieren.
Diese Liste ließe sich beliebig fortsetzen.
Der „Wettlauf der Schäbigkeiten“, wie Pro Asyl vor einigen Jahren schrieb, setzt sich in der kolonialen Tradition fort, die das Leben unterschiedlicher Menschengruppen in „lebenswert“ und „nicht schützenswert“ einteilt.
Wo bleibt der sytematische Aufschrei der Flüchtlingssozialarbeit gegen diese Politik gegen Flüchtlinge an den Rändern der EU und in den Ländern der EU? Wo bleiben Interventionen gegen restriktive Asylrechtseinschränkungen und die Menschenrechtsverstöße gegen Flüchtlinge bei der ärztlichen Versorgung, der Unterbringung und Verfahrensrechten? Wo bleibt der Aufschrei gegen die eigenen schlechten Arbeitsbedingungen durch viel zu kleine Personalschlüssel, so dass Mindeststandards pädagogischer Professionalität im Sinne des Schutzes der körperlichen, psychischen, kognitiven sowie rechtlichen und sozialen Integrität der Adressaten nicht ansatzweise gewährleistet werden können? Der professionelle Ethos Sozialer Arbeit, der auch in moralisches Handeln münden muss, wird durch das tendenzielle Schweigen zu Unrecht gegenüber Adressaten und verunmöglichter oder eingeschränkter Professionalität der Sozialen Arbeit, die ja zu Recht gesetzlich und politisch mittels konkreter Handlungsaufträge und Standards eingefordert wird, (vgl. Landesregierung Baden-Württemberg (2014): Verordnung des Integrationsministeriums über die Durchführung des Flüchtlingsaufnahmegesetzes (DVO FlüAG) Vom 8. Januar 2014. Stuttgart) beschädigt. Die geforderten Leistungen können bei diesen Personalschlüsseln gar nicht oder nur sehr unzulänglich erbracht werden.
Gefragt werden kann auch, wo die gerechtigkeitsorientierten Stimmen der Sozialdemokraten, aber auch der Kirchenvertreter zum Beispiel auf der Demo gegen Judenhass – eine Woche vor der Asylrechtsverschärfung – waren. Das Roma und Sinti in Serbien, Bosnien-Herzegowina und Montenegro verfolgt werden ist auch durch diverse Studien belegt.
Es gibt demnächst einige Veranstaltungen zu Flüchtlingssozialarbeit und zur Lage der Flüchtlinge sowie Herausforderungen für die Kommunen. Im Zentrum steht dabei oftmals der Überlastungsdiskurs der Kommunen hinsichtlich knappen Wohnraums. Die Rechte und Bedürfnisse der Flüchtlinge stehen selten im Mittelpunkt.
Es ist Zeit für die (so ist zu hoffen und zu prüfen) an den Menschenrechten und Grundrechten orientierte Soziale Arbeit gemeinsam mit Flüchtlingen Farbe für Grund- und Menschenrechte sowie eine gerechtigkeitsorientierte professionelle Soziale Arbeit zu bekennen! Bundesregierung und Landesregierungen müssen ihre Politik und Praxis der bewussten Ressourcenknappheit beenden.
Für die Flüchtlingssozialarbeit stellt sich die Frage, ob sie nur als (durchaus sinnvolle) „Feuerwehr-Institution“ agiert oder auf systematische und umfangreiche Verbesserungen der Lebenssituation der Flüchtlinge sowie der eigenen unakzeptablen Arbeitsbedingungen drängt. Und die Wohlfahrtskonzerne Caritas und Diakonie haben durchaus auch politischen Einfluss. Entstehen weitere Kooperationen seitens der Sozialen Arbeit und Flüchtlingsräten mit Flüchtlingen, die für ihre Rechte protestieren, und der zunehmenden Flüchtlingsselbstorganisation?
Positioniert sich Flüchtlingssozialarbeit als heuchlerisches Feigenblatt für politisch hergestellte Krisen oder arbeitet sie im Sinne der „Menschenrechtsprofession Soziale Arbeit“ bzw. der an Menschenrechten orientierten Sozialen Arbeit im Sinne der „advokatorischen Ethik“ (Brumlik, Micha 2004) mehr mit Flüchtlingen sowie Flüchtlingsorganisationen zusammen und für die Menschen- und Grundrechte der Flüchtlinge? Aktuell Meinung
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