Eren Güvercin über Birlikte

„Die Menschen haben ihr Soll erfüllt, von der Politik erwarte ich mehr“

Zehntausende haben in Köln des NSU-Anschlags vor zehn Jahren gedacht. Wir sprachen mit dem Buchautor und Journalisten Eren Güvercin über seine Eindrücke rund um das Mega-Event. Sein Fazit fällt gemischt aus - die Menschen auf der einen, die Politiker auf der anderen Seite.

Dienstag, 10.06.2014, 8:24 Uhr|zuletzt aktualisiert: Freitag, 13.06.2014, 7:06 Uhr Lesedauer: 4 Minuten  |  

MiGAZIN: Gestern vor zehn Jahren ereignete sich der NSU Bombenanschlag in der Keupstraße in Köln. Sie leben in Köln und sind geborener Rheinländer. Wie haben Sie die Gedenkveranstaltung Birlikte erlebt?

Eren Güvercin: Es war eine Gedenkveranstaltung mit Festivalcharakter. Die Teilnahme von Künstlern, Musikern und der Bevölkerung war enorm. Jung und Alt strömten in die Keupstraße. Die Zivilgesellschaft hat damit ein klares Zeichen gesetzt. Das hat den betroffenen Bewohnern und Geschäftsleuten in der Keupstraße gutgetan. Denn lange Jahre standen sie unter einem enormen Druck und wurden stigmatisiert, da man ja zunächst von politischer Seite immer wieder einen fremdenfeindlichen Hintergrund ausschloss und stattdessen türkische oder kurdische kriminelle Milieus mit dieser Tat bezichtigte. Das hat die Menschen sehr belastet.

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Auch die Politik war ja vertreten. Ministerpräsidentin Kraft bat sogar um Vergebung.

Das war natürlich eine emotionale Äußerung. Das klang fast schon nach einer Beichte. Aber wer ein schlechtes Gewissen hat, kann in die Kirche gehen. Warum bittet Kraft um Vergebung? Natürlich dafür, wie die Politik auf diese Tat reagiert hat. Aber bei allem Respekt, ich erwarte von den politischen Verantwortlichen keine wachsweichen Sonntagsreden, sondern eine lückenlose Aufklärung. In Nordrhein-Westfalen soll es bald einen Untersuchungsausschuss geben – zweieinhalb Jahre nach Bekanntwerden der eigentlichen Täter. In der Zwischenzeit wurden massenweise Akten geschreddert, Innenminister und verantwortliche Beamte in den Verfassungsschutzämtern oder beim BKA hatten plötzlich Erinnerungslücken, Widersprüche reihten sich eine nach dem anderen. Das ist keine Aufklärung. Man kann etwas gedenken oder meinetwegen für etwas um Vergebung bitten, wenn man die Ausmaße und die Verstrickungen staatlicher Behörden nicht kennt.

Auch Bundespräsident Joachim Gauck war am letzten Tag von Birlikte anwesend.

Die Anwesenheit vom obersten politischen Vertreter war natürlich ein wichtiges Signal. Im Gegensatz zur Bundeskanzlerin hat Gauck des Öfteren seine Anteilnahme mit den Opfern gezeigt. Nur auch da muss ich sagen, dass er emotional seine Anteilnahme formuliert hat, aber kein kritisches Wort verloren hat zur miserablen Aufklärungsarbeit seitens der Bundesregierung. Von einem Bundespräsidenten erwarte ich mehr.

Unser Justizminister teilte gestern auf einer Podiumsdiskussion etwa mit, dass er sich dafür schäme, dass der deutsche Staat seine Bürger nicht schützen konnte. Alles schön und gut, Schamgefühl ist eine gute Eigenschaft, nur wieso schämt er sich für etwas, wofür er nicht verantwortlich war, und warum schämt er sich nicht, was jetzt in seiner Amtszeit passiert?

Die Bürger – egal ob mit dem berühmt berüchtigten Migrationshintergrund oder nicht – haben das Vertrauen in den Staat verloren. Wenn man etwa Stefan Austs brillantes Buch „Heimatschutz – Der Staat und die Mordserie des NSU“ mit seinen fast 900 Seiten durchliest, dann merkt man, dass so etwas wie ein „tiefer Staat“ nicht mehr so weit weg ist. Die offizielle Version, wie der NSU funktioniert haben soll, ist so abenteuerlich eine Verschwörungstheorie. Es ist doch bezeichnend, dass der Geheimdienstkoordinator Fritsche vor einiger Zeit im Untersuchungsausschuss sagte: „Es dürfen keine Staatsgeheimnisse bekannt werden, die ein Regierungshandeln unterminieren.“ Opfergedenken ohne eine lückenlose Aufklärung wird eine Farce bleiben.

Muslime zeigten sich von Gaucks Worten beeindruckt, wie etwa Aiman Mazyek vom Zentralrat der Muslime.

Migrantenvertreter oder Islamfunktionäre sehen die Statements von Politikern manchmal zu übereilt durch die rosarote Brille, wenn sie mal mit ihnen gemeinsam auf der Bühne und somit auch im Rampenlicht stehen. Man hat dann manchmal das Gefühl, dass ihre kritische Haltung sehr schnell verloren geht. So kommt es zumindest rüber. Da finden eher kritische Journalisten, Schriftsteller oder andere viel deutlichere Worte, die gerade in diesem ganzen NSU-Verfassungsschutz-Komplex bitter nötig sind. Wir können die ganzen dubiosen Machenschaften nicht einfach mit ein paar Sontagsreden vergessen machen. Ich beobachte oft, dass gerade die Menschen, die keinen sogenannten Migrationshintergrund haben, oft viel kritischer sind als die Betroffenen selber. Staatsgläubigkeit ist wohl doch noch sehr verbreitet.

Es wird oft von Pannen bei den Sicherheitsbehörden gesprochen. Wie schätzen sie es ein?

Journalisten haben schon viel recherchiert und viel herausgearbeitet. Wie gesagt, die staatlich-offizielle Legende, die immer wieder erzählt wird, klingt doch sehr abenteuerlich. Mir fehlen die Argumente und Beweise, um daran zu glauben. Mit kosmetischen kleinen Reformen beim Verfassungsschutz ist es nicht getan. Man muss die Sicherheitsbehörden insgesamt infrage stellen. Ich glaube nicht an Pannen und ich glaube nicht an plötzlich auftretende Amnesie bei den Schlüsselpersonen. Aktuell Interview

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  1. Kai Diekelmann sagt:

    Dann gehöre ich wohl zur hier nicht erwähnten Minderheit von Bürgern, die das Vertrauen in den Staat noch nicht verloren haben. Auch glaube ich nicht daran, dass durch Staat-Bashing irgendwas besser wird.
    Die kritisierten Vergebungs- und Scham-Bekundungen von Politiker_innen waren bei Berlikte genau das, worauf die Menschen mit türkischen Wurzeln in großer Zahl sehnsüchtig gewartet haben und die den größten Applaus auslösten. Es scheint etwas Ur-Menschliches zu sein, dass wir vor allem emotional „abgeholt“ werden möchten. Ob Ermittlungsbehörden oder Untersuchungsausschüsse letztlich die ganze Wahrheit (?) ans Tageslicht bringen, wird dann schon fast zweitrangig.