Transnationale Perspektiven
Türkei nach den Kommunalwahlen: Erdoğan fest im Sattel?
Die Partei des türkischen Premierministers Recep Tayyip Erdoğan hat die Kommunalwahlen trotz Stimmverlusten mit deutlichem Abstand gewonnen. Fest sitzt er trotzdem nicht im Sattel. Seine große Herausforderung sind die anstehenden Verhandlungen mit der PKK - von Yaşar Aydın
Von Dr. Yaşar Aydın Donnerstag, 24.04.2014, 8:21 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 27.04.2014, 23:10 Uhr Lesedauer: 4 Minuten |
Aus den Kommunalwahlen am 30. März 2014, die in einer spannungsgeladenen Atmosphäre stattfanden, ging die Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) erneut als die stärkste politische Kraft hervor. Der Wahlausgang sorgte in Deutschland für Überraschung, weil die Regierungspartei mit Korruptionsenthüllungen konfrontiert und aufgrund rechtswidriger Eingriffe in Justiz, Bürokratie und Druck auf Medien in der Kritik stand.
Der Wahlsieg und seine Ursachen
Verantwortlich für den Wahlerfolg der AKP und die geringen Zuwächse für die Oppositionsparteien sind verschiedene Faktoren. Einer davon ist die starke politische Polarisierung seit den Gezi Park Protesten im Sommer 2013. Erdoğan hat es geschafft, die Proteste und die Korruptionsvorwürfe als zusammenhängende Teile eines Plans, seine Regierung zu stürzen, zu präsentieren. So konnte er die eigenen Reihen enger schließen und Kritik unterbinden. Zudem überschattete der Machtkampf zwischen der AKP und der Gülen-Bewegung alle anderen Themen und führte dazu, dass die Republikanische Volkspartei (CHP) und zum Teil auch die Partei der nationalistischen Bewegung (MHP) in den Augen breiter Massen zu „Anhängseln“ der Gülen-Bewegung gerieten.
Ein weiterer Faktor ist die nach wie vor ungebrochene Popularität Erdoğans, die nicht nur auf seiner Redekunst und Volksnähe beruht. Er symbolisiert für einen Großteil der Bevölkerung Wachstum, Wohlfahrt und sozialen Aufstieg, und er ist eine Identifikationsfigur für religiös-konservative Bevölkerungsschichten, die sich von säkularen Eliten ausgegrenzt fühlten. Entscheidend für den Wahlausgang waren auch die Ängste dieser konservativen Bevölkerungsschichten vor einem „kemalistischen Comeback“ im Falle eines Wahlsieges der CHP und der MHP.
Beim genaueren Hinsehen stellt man allerdings fest, dass der Wahlsieg der AKP auch Schattenseiten hat. Sie konnte zwar gegenüber den Kommunalwahlen von 2009 ihren Stimmenanteil um 6 Prozentpunkte verbessern, gegenüber den letzten Parlamentswahlen 2011 hat sie jedoch fünf Prozentpunkte verloren. Trotz einer stärkeren Wahlbeteiligung und eines Zuwachses von zweieinhalb Millionen Stimmberechtigten hat die AKP zwei Millionen Wähler verloren.
Dass sie aber trotz Stimmeneinbußen weitere Großstadtbürgermeisterschaften gewinnen konnte, lässt sich teilweise mit einer 2012 durchgeführten Gesetzesänderung erklären. Damit wurden nicht nur 13 neue Großstädte geschaffen, sondern zugleich festgelegt, dass die Grenzen von Großstädten mit den Provinzgrenzen zusammenfallen und die Großstadtbürgermeister auch von der Landbevölkerung, die eher konservativ ist, gewählt werden.
Aufgrund der aufgeheizten Atmosphäre wurden Befürchtungen geäußert, dass das Wahlergebnis manipuliert werden könnte, und bereits bei der Erstellung des Wählerverzeichnisses wurden Einsprüche erhoben, um zu verhindern, dass Personen an Orten wählen, an denen sie nicht wohnten. In den Medien wurden über Stromausfälle berichtet, die mit der Stimmauszählung in Verbindung gebracht wurden und so den Manipulationsverdacht schürten.
Warum Erdoğan nicht fest im Sattel sitzt
Tatsache ist, wenngleich diese Vorfälle am deutlichen Gesamtsieg der AKP nichts ändert, dass die Kommunalwahlen eine Entschärfung der politischen Polarisierung nicht herbeiführen konnten. Die Wahlergebnisse haben auch gezeigt, dass eine spannungsgeladene Frontenbildung die Identifikation mit dem eigenen politischen Lager, mit der eigenen Partei stärkt und alles Inhaltliche überlagert. Es wird befürchtet, dass Erdoğan diese Strategie fortsetzt, was für das politische Klima des Landes und für den sozialen Frieden gefährlich sein könnte.
Mehr zum Thema: Türkei: Kommunalwahlen als Referendum für Erdoğan – Trotz Wahlsieg sitzt der türkische Premier nicht so fest im Sattel, demnächst im SWP-Aktuell.
Mit dem Wahlsieg scheint Erdoğan vorerst seine Machtposition gefestigt zu haben und hat realistische Aussichten auf das Amt des Staatspräsidenten. Doch um sich beim ersten Wahlgang zum Staatspräsidenten wählen zu lassen, ist er auf die Unterstützung der prokurdischen Partei für Frieden und Demokratie (BDP) angewiesen. Die Kompromisse, die er hierzu eingehen müsste, könnten ihm wichtige Stimmen kosten. Zwar hat sich Abdullah Öcalan, der Führer der illegalen PKK, für die Fortsetzung der Verhandlungen ausgesprochen, gleichzeitig aber für den Aussöhnungsprozess einen gesetzlichen Rahmen gefordert. Dies käme einer politischen Anerkennung der PKK gleich und könnte die AKP vor einer Zerreißprobe stellen. Die Regierungspartei hat bereits bei den Kommunalwahlen Stimmen an die Partei der nationalistischen Bewegung (MHP) verloren.
Zudem konnten die Korruptionsvorwürfe nicht entkräftet werden und drohen, Zweifel auch unter den konservativen Bevölkerungsschichten auszulösen. Dies und weitere Anzeichen, die darauf hindeuten, dass Erdoğan doch nicht so fest im Sattel sitzt, wie er vorgibt.
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Eine umsichtige und gut begründete Analyse.
Doch mir fehlt ein wesentlicher Punkt. Erdogan hat schon letztes Jahr öffentlich verkündet, dass er Gewaltenteilung grundsätzlich ablehnt; offensichtlich strebt er nach der charismatisch gepowerten Alleinherrschaft. Seine vielen Anhänger scheinen dies durchaus zu unterstützen: Der Büyük Lider soll alle Macht in seine Hand bekommen. Regierung, Parlament, Justiz und Medien sollen sich ihm unterordnen – ihm, der als Person den Volkswillen und die Türkei repräsentiert.
Wir werden Zeuge, wie die Türkei zu einem autokratisch regierten Land wird, in dem das Wort des Büyük Lider das Gesetz sein wird.
Was könnte Erdogans „Aufstieg“ noch bremsen – oder, wenn der „Aufstieg“ denn nächstes Jahr geschafft sein sollte, den Alleinherrscher stürzen?
Ich sehe nur eine Chance dafür: die Wirtschaft. Das heißt die ökonomischen Nebenfolgen der Allein- und Willkürherrschaft. Die Türkei ist eng verflochten mit der Wirtschaft des Westens. Löst sich diese Verflechtung auch nur teilweise auf, dürfte es wirtschaftlich schwierig werden und steil abwärts gehen.
Hinzu kommt, dass dann ALLES in der Wirtschaft nur noch korrupt laufen wird. Es gibt keine Macht mehr, die der vom Staat her organisierten Korruption (der vampirmäßigen Ausbeutung der wirtschaftlichen Aktivitäten durch den übermächtigen Staat und die Günstlinge des Büyük Lider) etwas entgegensetzen könnte.