Bildung

Plädoyer für eine liberal-demokratische Gesellschaft

In einer Demokratie sollte das Volk der oberste Souverän sein. Aber ist das denn wirklich so? Fragen wir uns, was die Bedingungen dafür sind? Machen wir uns überhaupt Gedanken darüber? - ein Plädoyer von Navid Dastkhosh-Issa.

Von Navid Dastkhosh-Issa Mittwoch, 16.04.2014, 8:25 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 23.04.2014, 23:28 Uhr Lesedauer: 9 Minuten  |  

Wenn eine Idee nicht von Zeit zur Zeit in seinen Grundsätzen, in seinen Voraussetzungen und Bedingungen begutachtet und thematisiert wird, erstarrt es langsam aber sicher zu einem Konstrukt, dessen Funktion lediglich auf das Tragen eines möglicherweise vielversprechenden Namens reduziert wird, dessen Bedingungen und Voraussetzungen aber vielleicht gar nicht mehr so ganz erfüllt sind. Genau das ist mit der Idee einer liberal-demokratischen Gesellschaft passiert.

Dass in einer Demokratie das Volk der oberste Souverän ist bzw. sein sollte, dürfte allen klar sein. Aber machen wir als Gesellschaft den ausschlaggebenden Schritt und fragen uns, was denn die Bedingungen dafür sind, was gegeben sein sollte, damit das Volk als oberster Souverän überhaupt regieren kann und zudem noch humanistisch regiert bzw. darauf achtet, dass seine Vertreter das Wohl des Volkes im Blick haben und die Aufrechterhaltung einer freiheitlichen und gerechten Gesellschaft anstreben? Machen wir uns genug Gedanken darüber? Ist es nicht eher so, dass die liberale Demokratie von viel zu vielen in unserer Gesellschaft für einen Zustand gehalten wird, für dessen Aufrechterhaltung es mehr oder weniger genügt, die sozial-wirtschaftliche Gestaltung der Gesellschaft auf einige Vertreter zu delegieren? Dass das weit entfernt ist von der Idee der Selbstbestimmung und der Mündigkeit in einer Demokratie, scheint allerding noch nicht vielen klar zu sein. Wir als Gesellschaft sollten uns langsam aber sicher mehr Gedanken darüber machen, wie wir die Bedingungen für eine humanistische, für eine wert-schätzende Gesellschaft aufrechterhalten können, in der das hohe Gut der liberalen Demokratie tatsächlich Früchte tragen kann.

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Gerade Bürgerinnen und Bürger mit Migrationshintergrund kommen zu einem nicht unerheblichen Teil aus Ländern, in denen keine verschiedenen politischen Parteien zur Wahl stehen, ja in denen das Volk möglicherweise gar nichts zu wählen hat und in denen die für uns in Deutschland selbstverständlichen Grundrechte entweder gar nicht existieren oder nicht eingehalten werden. Die Personen, die eine nicht-freiheitliche Gesellschaft einmal kennengelernt haben und ihre Probleme miterlebt haben, können möglicherweise ein größeres Gespür dafür entwickeln, welche scheinbar unbedeutenden Entwicklungen in einer Gesellschaft den Zerfall demokratisch-liberaler Strukturen bedeuten können. Gerade die Personen sollten sich aber auch vor Augen führen, wie unsagbar wertvoll ein freiheitlicher Staat ist und dürften nicht der Illusion verfallen, dass dessen Strukturen in Stein gemeißelt sind und die Gesellschaft diese Freiheitlichkeit nicht hegen und pflegen muss. Jeder einzelne von uns, ganz gleich ob mit oder ohne Migrationshintergrund, ist mitverantwortlich dafür, wie sich unsere Gesellschaft entwickelt. Wir sollten in uns selbst und in unserem sozialen und familiären Umfeld ein Gespür für die immense Verantwortung entstehen lassen, die wir als Mitglieder unserer Gesellschaft durch unsere Worte, unser Tun und unser Unterlassen tragen.

Emotionale Bildung
Machen wir uns Gedanken darüber, was denn die Grundbedingungen, was die Voraussetzungen sind für eine freiheitliche, das Recht des anderen respektierende und die eigenen Pflichten akzeptierende Gesellschaft. Die Bedingungen könnten weit unspektakulärer und weit weniger abstrakt sein, als wir es uns vielleicht vorstellen. Die erste Grundbedingung könnte man schlicht und einfach die emotionale Bildung nennen. Nächstenliebe, wenn wir es nostalgisch mögen oder aber der Respekt und die Achtsamkeit sich selbst und anderen gegenüber, um es mit der heutigen Wortwahl auszudrücken. Diese Bedingung ist deshalb so wichtig, weil Menschen erst durch Menschlichkeit auf Anhieb erkennen und empfinden können, was ihnen selbst und anderen Menschen gut tut. Ein wichtiges Fach in der Bildung des Herzens ist deshalb Empathie. Die Fähigkeit zur Empathie, die Fähigkeit, anderen nachzufühlen und sich emotional in sie hineinversetzen zu können ist uns als Menschen in die Wiege gelegt. Entscheidend ist jedoch auch, ob diese Fähigkeit, besonders in jungen Jahren gefördert oder ob sie – womöglich unbewusst – „abgewöhnt“ wird.

Ein weiteres wichtiges Fach in der emotionalen Bildung ist die Sinn-Suche. Heute erleben wir mehr als je zuvor, dass das Konsumieren, das sich Aneignen von materiellen Gütern – und auf wirtschaftlicher Ebene gesehen, das scheinbar endlose „Wachsen“ – als selbstwerterhöhend und selbstwerterschaffend angepriesen wird und nicht nur auf der wirtschaftlichen Ebene einen absoluten Selbstzweck erhalten hat: Nehmen, um des Habens willen, wachsen um des Wachstums willen. Auf der materiellen Ebene betrachtet reden wir hier über die (sinn-lose und) endlose Selbstbereicherung. Auf der mentalen Ebene sprechen wir über puren Egoismus, über das nicht-Vorhandensein eben jenen Respekts und jener Achtsamkeit anderen, und im Grunde auch sich gegenüber: Die liberale Wirtschaft mit ihrem Zweck der endlosen Optimierung ihres Vorteils arbeitet – ohne gewisse Werte auf der menschlichen Ebene – langfristig gegen und nicht für eine demokratisch-freiheitlich Gesellschaft.

Sinn suchen wir hier vergeblich, lediglich zweckgerichtete Vorgehensweisen, die nicht nur der jungen Generation auf subtile oder auch weniger subtile Weise vormachen, dass Finanzen, dass Spekulationen wertvoller, rentabler sind als Menschen. Die Sinn-Suche jedoch, die den Weg zur Selbst-Erkennung ebnet, die dem Menschen die Weitsicht geben kann, das Ausmaß seiner Verantwortung überhaupt wahrnehmen zu können und die somit die Grundlage zu einem konstruktiven Mitwirken an der Gesellschaft darstellt, hat jedoch Weisheit zur Folge – ein Zustand, dessen Erlangung heute so realitätsfern und weltfremd anmutet wie der Wunsch, der Kaiser von China zu werden.

Kognitive Bildung
Die zweite Bedingung könnte man die kognitive Bildung nennen. Die kognitive Bildung beinhaltet neben diversen Punkten auch das schlichte und einfache Kennen der demokratischen Grundregeln und das Wissen um und das sich Auseinandersetzten mit den Inhalten unseres Grundgesetzes. Dieser Punkt – würde man meinen – wäre einer der wichtigsten Wissensbereiche, den man in einer demokratisch-freiheitlichen Gesellschaft den Menschen vermittelt und womit man sie so früh wie möglich vertraut machen müsste. Aber genau dieser Bereich ist es, der bei weitem nicht ernst genug genommen wird. Der direkte und effektivste Weg, Menschen mit den Grundideen, mit dem Geiste der liberalen Demokratie und dem Geiste der Grundrechte vertraut zu machen wäre, diesen Bereich Teil der schulischen Ausbildung werden zu lassen. Das wird zwar ansatzweise hier und da gemacht, indem z.B. Menschenrechte im Groben besprochen werden u.Ä. Diese Ansätze sind aber oft zu abstrakt, zu punktuell und zu alltagsfern, als dass die grundsätzliche Idee dahinter verinnerlicht werden könnte und vor allem eine wirkliche Wertschätzung stattfindet.

Eine freiheitliche Gesellschaft muss zuallererst eine wichtige Grundbedingung erfüllen, ohne die das Ganze auf sehr wackeligen Füßen steht: zu tolerieren und zu respektieren, dass jeder Mensch, allein nur durch das Menschsein, eine eigene, wertvolle Persönlichkeit und eine achtenswerte Würde besitzt und dementsprechend die Sichtweisen der Menschen auch variieren können. Die Erlangung dieses Reifegrades ist ein Umstand, dessen Beginn idealerweise schon in jungen Jahren erfolgt, d.h. die Vermittlung liberal-demokratischer Werte ist zuerst die Vermittlung menschlicher Werte und somit auch eine Frage der Erzielung, der familiären und der gesellschaftlichen. Die Schule, eine Stätte der Bildung und Erziehung, wäre die erste Wahl für eine solche aufklärende und wissensvermittelnde Aufgabe; sie nimmt jedoch diese ihre heute mehr denn je notwendige und wichtige Aufgabe nicht ernst, obwohl sie mehr denn jemals zuvor sich großen Problemen, was Gewalt und Aggressionen, Respekt- und Achtlosigkeit, fehlender Wertschätzung, Ängsten, dadurch bedingter fehlender Konzentration, fehlender Motivation, Leistungsabfall etc. bei Kindern und Jugendlichen anbelangt, gegenüber sieht. Leitartikel Meinung

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