Die Verteilung liberaler Werte

Elite und Bevölkerung denken unterschiedlich über Migration

Deutschland ist gespalten, wenn es um Migration geht. Die Elite ist dafür, die allgemeine Bevölkerung dagegen. Woran das liegt, haben Céline Teney und Marc Helbling untersucht – mit überraschenden Ergebnissen.

Von Teney, Helbling Donnerstag, 20.02.2014, 8:30 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 08.01.2020, 15:44 Uhr Lesedauer: 9 Minuten  |  

Die Kluft zwischen den Meinungen von Elite und Bürgern und ihre Auswirkungen auf die Demokratie sind seit Langem ein Kernthema in den Sozialwissenschaften. Aufgrund des wachsenden ökonomischen, politischen und kulturellen Globalisierungsdrucks scheint die Spaltung zwischen den politischen Eliten und der allgemeinen Bevölkerung sogar noch größer zu werden. Diese wachsende Kluft, die in mehreren Ländern nachweisbar ist, gilt als eine der Ursachen für die steigende Politikverdrossenheit und den zunehmenden Erfolg rechtspopulistischer Parteien in Europa.

Einstellungen der Elite zu Themen wie Umweltschutz, Geschlechtergleichheit oder Verbrechensbekämpfung scheinen wesentlich liberaler als die der allgemeinen Bevölkerung. Seit den gescheiterten EU-Referenden in Frankreich und den Niederlanden erhalten insbesondere die unterschiedlichen Einstellungen zur europäischen Integration die Aufmerksamkeit der scientific community in Europa. So wurde beispielsweise argumentiert, dass die politischen Eliten den europäischen Integrationsprozess ohne öffentliche Unterstützung vorantreiben. Das Projekt Europäische Union, so die Kritik, spiegle allein die Interessen der proeuropäischen politischen Eliten wider.

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Was allerdings, wenn die Meinungskluft zwischen Eliten und Bürgern zur europäischen Integration nur Teil einer weitergehenden Spaltung ist, wenn die europäische Integration nur eines von vielen umstrittenen Themen im Kontext der Denationalisierung ist? Die Eliten wären dann nicht nur starke Befürworter des europäischen Integrationsprojekts, sondern befürworteten außerdem die Öffnung der nationalen Grenzen für den Austausch von Waren, Menschen und Normen, während die allgemeine Bevölkerung in solchen Denationalisierungsfragen viel stärker gespalten wäre. Um diese Hypothese zu prüfen, wollen wir mit unserer Studie die Einstellungen der Eliten und der allgemeinen Bevölkerung in Deutschland zu einem anderen hochgradig politisierten Thema im Kontext der Denationalisierung vergleichen: die Einstellungen zur Immigration.

Die Kluft zwischen Elite und Bevölkerung ist bislang im Wesentlichen auf zwei Faktoren zurückgeführt worden. Erstens haben Eliten im Durchschnitt eine höhere Bildung als die allgemeine Bevölkerung. Da Bildung bei der Ausformung liberaler und progressiver politischer Meinungen eine entscheidende Rolle spielt, könnten solche Bildungsunterschiede die Kluft zwischen Elitenmeinung und Mehrheitsmeinung erklären. Allerdings gibt es Belege dafür, dass die Eliten sich hinsichtlich ihrer allgemeinen politischen Positionen auch deutlich von denen der höher gebildeten Bürger unterscheiden: Die Einstellungen der Elite sind sehr viel liberaler als die der höher gebildeten Bürger. Der Faktor Bildung allein kann also die Meinungsdifferenzen zwischen der politischen Führung und der allgemeinen Bevölkerung nicht vollständig erklären.

Eine Erklärung liefert eventuell der zweite Faktor: Sozialisierungseffekte innerhalb der Elite. Aufgrund ihrer gesellschaftlichen Stellung müssen sich die Eliten einer political correctness anpassen. Sie sehen sich gezwungen, sich die in Westeuropa vorherrschende Ideologie, also liberale Werte und Normen, zu eigen zu machen (Schimmelfennig 2001). Im Zeitalter der Globalisierung gehören zu dieser vom westeuropäischen Führungspersonal getragenen Ideologie auch Fragen der Denationalisierung wie die europäische Erweiterung oder über den Nationalstaat hinausgehende moralische Verpflichtungen (zum Beispiel Kosmopolitismus). Dementsprechend gehen wir davon aus, dass die Eliten sich stärker dafür einsetzen, die nationalen Grenzen für Migranten zu öffnen, als der Durchschnitt aller höher gebildeten Bürger.

Dass sich Eliten in solch starkem Maße mit einer vorherrschenden Ideologie identifizieren, ist über ihre Sozialisation zu verstehen. Robert Putnam zufolge können die Interaktionen innerhalb der Elite die Einheitlichkeit ihrer Werte erklären. Persönliche Kommunikationsnetzwerke und Freundschaften tragen dazu bei, einen Konsens hinsichtlich der Werte und Meinungen zu erzeugen. Diese Interaktionen beschränken sich in der Regel nicht auf einflussreiche Personen innerhalb derselben Institutionen, sondern umfassen auch Eliten aus anderen Bereichen. Dieses auf gegenseitigem Vertrauen und Solidarität beruhende Netzwerk entsteht umso leichter, als die Eliten im Hinblick auf Bildungshintergrund, sozialen Status, Rekrutierungsmuster oder ideologische Affinitäten sehr homogen sind.

Unsere Studie basiert auf dem Vergleich von Fragen zu Einstellungen und Werten aus einer neueren Umfrage unter Eliten mit entsprechenden Daten aus Befragungen der allgemeinen Bevölkerung. Die Studie „Entscheidungsträger in Deutschland: Werte und Einstellungen“ wurde vom WZB 2011/2012 deutschlandweit unter Inhabern von Spitzenpositionen durchgeführt. Diese WZB-Elitestudie umfasst lediglich die Kerneliten: Die ursprüngliche Stichprobe bestand aus 956 obersten Führungskräften in elf Sektoren. Der Rücklauf war angesichts der Schwierigkeit, diese höchst privilegierte Zielgruppe zu befragen, mit 37 Prozent relativ hoch. Der Datensatz besteht aus Daten von 354 Inhabern von Spitzenpositionen in den folgenden Sektoren: Wirtschaft, organisierte Interessensvertretung, Politik, Verwaltung, Justiz, Militär, Wissenschaft, Medien, Gewerkschaft, Kirche und Zivilgesellschaft.

Ziel der Elitestudie war es, präzise Informationen über die soziodemografischen Eigenschaften der Befragten zu gewinnen und die Einstellungen der Führungskräfte zu wichtigen innen- und außenpolitischen Themen zu erfassen. Der Fragebogen enthielt drei geschlossene Fragen zum Thema Immigration, die in früheren Befragungen bereits der allgemeinen Bevölkerung gestellt worden waren. Bei den allgemeinen Studien, in denen die entsprechenden Fragen enthalten waren, handelt es sich um den World Values Survey von 2006 und den European Social Survey von 2010. Je nach Fragestellung beträgt der zeitliche Abstand zwischen der Elitestudie und den allgemeinen Studien also zwischen zwei und sechs Jahren.

Einstellungen von Eliten und allgemeiner Bevölkerung gegenüber Migranten © WZB

Einstellungen von Eliten und allgemeiner Bevölkerung gegenüber Migranten © WZB

Der besseren Vergleichbarkeit halber zeigt die Grafik alle Fragen auf einer Skala von 0 bis 1, wobei 1 für die stärkste Befürwortung der Öffnung nationaler Grenzen für Migranten steht. Die roten Balken im Schaubild repräsentieren die durchschnittliche Meinung zu den drei Immigrationsfragen unter der allgemeinen Bevölkerung in Deutschland. Die schwarzen Balken zeigen die durchschnittliche Meinung der allgemeinen Bevölkerung mit einem tertiären Bildungsabschluss. Die weißen Balken schließlich zeigen die durchschnittliche Meinung der deutschen Eliten. Da 88,4 Prozent der deutschen Eliten über einen tertiären Bildungsabschluss verfügen, ähnelt die durchschnittliche Meinung der Eliten mit tertiärem Bildungsabschluss stark der Meinung der Elitestichprobe insgesamt, so dass diese Werte nicht separat ausgewiesen sind. Gesellschaft Leitartikel Studien

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  1. Wolfram Obermanns sagt:

    Schön, daß dieser Frage mal nachgegangen wird.
    Was ich vermisse ist eine Kosten/Nutzen-Analyse:
    Wer wird bei Migration einerseits zu welchen Kosten verpflichtet und kann andererseits welchen Nutzen generieren?

    Wenn die Immigration von Rumänen statistisch vielleicht kein Problem darstellt, so ist diese in den unterpriviligierten Vierteln der Großstädte sehr wohl eins.
    Mein Verdacht ist, die Elite kann bequem für Migration sein, weil sie die Vorteile genießen kann, während die unterpriviligierte Bevölkerung sich vor allem mit den Kosten (soziokulturell und materiell) der Migration konfrontiert sieht.

    Eine Studie, die gewissermaßen das chauvinistisch, bürgerliche Klischee einer Unterschicht, die einfach zu doof für Integration ist, bedient, halte ich für ziemlich problematisch.
    Gegen den einfachen causalen Zusammenhang von Bildung und Migrationsbefürwortung spricht m. E. in exemplarischer Weise auch, daß das Kopftuch erst zum Problem wurde, als es außerhalb der Ghettos auf den Köpfen junger Lehrerinnen vor bürgerlichen Kindern auftauchte. Da war schlagartig der Unterschied zwischen „allgemeiner Bevölkerung“ und den Hochschulabsolventen eingeebnet. Die FAZ titelte damals sehr treffend, „Nicht vor meiner Tochter“.
    Man könnte auch die spitzfindige Frage stellen, wie eine „im Hinblick auf Bildungshintergrund, sozialen Status, Rekrutierungsmuster oder ideologische Affinitäten sehr homogen(e)“ Elite Migration überhaupt als bereichernd empfinden kann? Faktisch kann das doch nur eine Art „Klassentreffen“ sein.

    Für den Bericht spricht der zurückhaltende Ton zu einer Studie, die sich ganz am Anfang einer Untersuchung befindet. Schade finde ich, daß man hier einmal mehr der naheliegenden „It’s the economy, stupid“-Frage aus dem Wege geht.

  2. aloo masala sagt:

    Die Studie stellt fest, dass eine Kluft zwischen Einstellungen der Elite und der normalen Bevölkerung gibt.

    Meine Hypothese ist, dass die Elite völlig andere Interessen verfolgt als die normale Bevölkerung. Das sind in erster Linie Interessen, die den Eliten nützlich sind und die Belange der Mehrheit ignorieren bzw. zu Lasten der Bevölkerung gehen. Diese Interessen zeugen nicht von einer liberaleren Einstellung der gebildeten Schicht, sondern eher von einer rücksichtslosen und entmenschlichten neoliberalen bis kapitalistischen Sichtweise. Dabei stellt die Elite stellt genügend Mechanismen bereit um Typen herauszufiltern, die inkompatibel für die Elite sind. Das ist etwa das, was in diesem Artikel als Sozialisierungseffekt bezeichnet wird.

    Was ich sagen möchte ist, die Elite ist nicht für mehr Migration, weil sie eine liberalere sondern eine rücksichtslos neoliberalere Einstellung hat. Würde Migration zu Lasten der Elite und ihrer Interessen gehen, dann würde die Migration von der Elite schlichtweg abgelehnt werden.

  3. Pingback: Elite und Volk: uneinig

  4. Mathis sagt:

    Die „Elite“ erscheint nach diesem Artikel als eine Spezies, die die Werte, für die sie eintritt,um die sie wirbt und die sie innerhalb ihrer Netzwerke kultiviert,einzig im Sprachcode transportiert und allein dort „realisiert“.
    Im Widerspruch dazu steht die unterstellte Liberalität, die durch eine „erzwungene“, opportune (karriereförderliche) Semantik konterkariert wird.Die Lebenswirklichkeiten der „normalen“ Bevölkerung, die die sterilen Kopfgeburten der „Eliten“ alltagstauglich händeln müssen, finden im Pseudorealismus natürlich keinerlei tiefergehende Beachtung. Probleme bei der Bewältigung dessen, was man sich selbst nie zugemutet hätte, werden dann unbekümmert mit gesellschaftlicher „Unreife“ erklärt und allein dieser angelastet.So ist die Sozialwissenschaft stets außen vor und aus „dem Schneider“.Ich bin dafür, den Sozialwissenschaften mal alle Mittel zu streichen und die Eliten mal ins Milieu eintauchen zu lassen.Vielleicht bringt das wertorientierte Handeln Einsichten,von denen das wertgebundene Schwafeln nur träumen kann.

  5. TaiFei sagt:

    Wenn die Vorstellungen der „Elite“ wirklich von liberalen Standpunkten ausginge, dann stellt sich die Frage, warum soziale Migration hier ausgeblendet wird. Die Schere zwischen arm und reich wächst praktisch überall. Die Migration zwischen den Klassen wird seit Jahren somit immer mehr erschwert. Wie deckt sich denn dass mit „liberalen Werten“?

  6. Mustafa sagt:

    Ich denke, die Elite ist für Zuwanderung, weil sie diese weit weniger als Konkurrenz betrachtet als der Durchschnittsbürger. Irgendwer muss doch die Pflegedienstleistungen, niederen Arbeiten usf. machen und Zuwanderung geht in Deutschland immer einher mit Senkung des Lohnniveaus in den jeweiligen Bereichen! Die „Elite“ PROFITiert von Zuwanderung, wohingegen der gemeine Bürger, um sein Lohnniveau und seinen Arbeitsplatz fürchtet. Beide Gruppen bewerten die Zuwanderung rein egoistisch! Denn wie heisst es so schön: Jeder ist sich selbst der nächste!

  7. burak sagt:

    Die Journalistin hätte sich gar nicht so viel mühe geben müsse mit dem Artikel. Die Elite braucht Migranten um sie zu unterdrücken, arbeiten und malochen zu lassen damit sie ihren Wohlstand beibehalten kann. Damit das Kapitalistische System weiterhin bestehend bleibt. Der Rest mit Liberal sein und so sind Märchen nach aussen hin. Die Oberschicht und die Elite sind die größten Menschenunterdrücker. Währen sie im Überfuss leben muss das normale Volk ums Überleben kämpfen.

  8. Gero sagt:

    @burak: Wie sieht Ihr Kampf ums Überleben aus? Wissen Sie eigentlich, was Sie da sagen?

  9. Kesin sagt:

    Tut mir Leid, aber für mich sind solche Studien nicht aufschlussreich, aber naja, so untermauern 2 Seiten Studie trotzdem folgende Hypothese…Wieso haben die oben nichts gegen Migration? Liegt es vielleicht daran, dass Menschen, die in Sicherheit leben und Kontrolle über gesellschaftliche Entwicklungen haben weniger Angst vor Migration haben, und andere die am Rand der Gesellschaft leben und Tag für Tag mehr ausgeschlossen werden dagegen sind, weil sie Angst davor haben noch mehr ins Abseits zu rutschen und ihre Existenz gefährdet sehen?

    lustigerweise unterliegen Menschen in oberen Schichten dabei den gleichen Ausgrenzungsmechanismen, wie tatsächlich schön im Artikel dargestellt („Sozialisierungseffekte innerhalb der Elite. Aufgrund ihrer gesellschaftlichen Stellung müssen sich die Eliten einer political correctness anpassen“ a.k.a. Antirassismus)

    Wieso wird hier auf die NS-Zeit zurückgegriffen um die Spaltung zu erklären? Wieso erscheint es nicht offensichtlich, das Führungskräfte liberale Werte einnehmen, anders könnten sie doch gar nicht überleben? Wieso wird Bildung als Mittel gegen Anti-Migration (sorry für die Wortneuschöpfung) gesehen? Wenn alle so toll gebildet sind und wissen, dass alle Menschen gleich sind, löst sich dann das Poblem in Luft auf? Offensichtlich nicht, denn die „Eliten“ wollen ja auch nicht alle hier drin haben! Wichtig ist dabei die (völlig inhumane) Kosten/Nutzen-Analyse mit der Menschen selektiert werden sollen…was dem sogleich dem Ausgleich zwischen Kapital und Lohnarbeit entspricht

    Also, wieso sind die Menschen nicht für mehr Denationalisierung? Liegt es vielleicht daran, dass es außerhalb ihrer Kontrolle liegt, dass diese Denationalisierung nur wenigen hilft, die bereits oben in der Nahrungskette stehen….Ständig versucht man den Europagedanken Leuten überzustülpen, wobei diese überhaupt keinen Einfluss darauf haben und tatsächlich negativ davon betroffen sind…und man fragt sich, wieso sind die denn nicht dafür? daran müssen wir was ändern, indem wir es ihnen schmackhaft machen…was erwartet man denn da, außer das sie Angst davor haben?

  10. burak sagt:

    wie mein Kampf ums Überleben aussieht? Das alle Menschen gelich sind, Wenn wir wirklich christlich sind und Menschen sind, darf es keine Klassengesellschaft geben, keine Elite und Armen und Schichten. Es darf nicht sein, dass uns Konzerne unterdrücken und den Arbeitern ihren gerechten Lohn nicht geben. Banken, müssen abgeschafft werden. Wir dürfen nicht mehr als das Notwendigste besitzen, da 1 Milliarde MEnschen auf der Wwelt hungern und der Westen sind die Mörder. eine Welt ohne Grenzen und Länder, wo alle Menschen gleich sind. „Stammt aus der Bibel (Mt 19,24; Mk 10,25; Lk 18,25): „Es ist leichter, dass ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe, als dass ein Reicher ins Reich Gottes komme“.