Wir sind alle Nazis!

Deutschland braucht eine neue Erinnerungskultur

Warum darf ich, obwohl ich seit meiner Geburt in Deutschland lebe, Missstände, die meinen Alltag bestimmen, nicht kritisieren? Ganz einfach: Mir fehlt die deutsche Erbsünde – der Holocaust.

Von Mustafa Esmer Mittwoch, 29.01.2014, 8:26 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 03.02.2014, 0:39 Uhr Lesedauer: 7 Minuten  |  

Ich erinnere mich heute noch daran, wie mein Vater fast 9 Monate lang kämpfen musste, weil die GEWAG Wohnungsaktiengesellschaft Remscheid uns einzig Wohnungen in bestimmten – überproportional von türkischstämmigen bewohnten – Vierteln anbot, obwohl auch Wohnraum in anderen Stadtteilen verfügbar war.

Die Suche auf dem privaten Wohnungsmarkt war nicht erfolgreich, da spätestens beim Telefonat auf einen Besichtigungstermin unsere ausländische Herkunft hörbar war. Meinem Vater war es jedoch wichtig, dass wir in einer Gegend aufwachsen, in der auch viele Deutsche leben, schon allein zum Zweck des Erwerbs von Sprachqualifikationen. Erst nach dem Einschalten eines Anwalts sowie eines guten Freundes, der zu dem Zeitpunkt in der IG-Metall bereits einen guten Posten hatte, wurde es möglich, in einer schönen Gegend – mit viel Wald und einer Talsperre in unmittelbarer Nähe – eine Wohnung zu bekommen.

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Ich erinnere mich noch immer an Kommentare der Sachbearbeiterin, wie: „Was habt ihr nur? Ihr seid Türken, da leben Türken, also das müsst Ihr verstehen. Deutsche wollen da nicht wohnen. Die Wohnungen müssen ja auch vermietet werden. Da seid ihr doch schön unter Euch.“ Auf Kritik reagierte die Dame mit Aussagen wie „Wenn es Euch nicht gefällt dann, könnt Ihr ja zurück in die Türkei.“ Ihre Spezialität bestand darin, die fehlende Sprachkompetenz meiner Eltern ausnutzend, Gespräche eskalieren zu lassen, ihnen Begriffe wie „Nazi“ in den Mund zu legen und sie dann lautstark aus dem Raum zu werfen.

Alltagsrassismus ist Element der Alltagskultur
Das ist heute nicht anders. Dieser Form des Alltagsrassismus begegnet man auch heute noch. So hat beispielsweise mein Meinungsbeitrag zum abgeschobenen Intensivstraftäter Muhlis Ari eine hitzige Debatte mit meinen biodeutschen Freunden ausgelöst. Meine These im Fall Ari lautet: Deutschland trägt die Verantwortung für sein kriminelles Verhalten und nicht seine DNA. Dieser Einwand wurde jedoch heftig kritisiert mit Kommentaren wie: „Wenn sich Ausländer nicht benehmen können, dann haben die hier auch nichts verloren!“

Ich versuchte meinen Freunden darzulegen, dass er ja nicht kriminell war, weil er türkischer Herkunft ist, sondern aufgrund seiner Sozialisation. Es ging mir nicht darum, sein Fehlverhalten zu legitimieren, sondern auf Umstände zu verweisen, die deviantes Verhalten begünstigen. Ich beschrieb den Alltagsrassismus mit Beispielen aus meinem Alltag und erklärte, dass ich lediglich aufgrund meiner Persönlichkeit, Bildung und meiner Sprachkompetenz anders mit diesem Frust umgehen kann als Türkischstämmige, die nicht das Glück hatten, in einem guten Elternhaus aufzuwachsen und konservativ-osmanisch erzogen zu werden.

Mein Erklärungsversuch wurde aber mit „Jaja, wir Deutschen sind ja alle Nazis“ beantwortet. Eine inhaltliche Diskussion kam nicht zustande. Allem Anschein nach hatte ich einen wunden Punkt getroffen. Aussagen wie „was habe ich mit dem Holocaust am Hut“ oder „Du weißt doch nicht, wie es ist, sich ständig diesen ‚Scheiß‘ anhören zu müssen“, ergaben einen Sinn.

„Exzeptionalismus der Schuld“
Warum darf ich trotz der Tatsache, dass ich seit Geburt in Deutschland lebe, hier aufgewachsen bin und die Politik aktiv verfolge, die Missstände, die meinen Alltag bestimmen, nicht kritisieren? Ganz einfach: Mir fehlt ein wesentliches Merkmal biodeutscher Identität, nämlich die deutsche Erbsünde – der Holocaust. Die Exklusivität der deutschen Erbschuld ist das Problem, das zu der fehlenden Anerkennung Neudeutscher vonseiten der Mehrheitsgesellschaft führt.

Auffällig ist, dass gerade die Generationen ab 1970 sagen, es einfach satt zu haben, für die Fehler ihrer Eltern und Großeltern büßen zu müssen. Sie hätten es satt, nicht offen sprechen zu können und ständig darauf bedacht sein zu müssen, bloß nicht als Nazi etikettiert zu werden.

Ich musste an den Beitrag von Rainer Werner Fassbinder für „Deutschland im Herbst (DE 1977/1978)“ denken, wo er seine leibliche Mutter, Lieselotte Eder, interviewt. Darin sagt sie: „Ich finde es fürchterlich. Aber man muss die Situation bedenken, in der sich meine Generation, die den Krieg erlebt hatte, befand. Wir standen total im Wald. Wir begriffen nicht, was geschehen war. Ich habe jahrelang darüber nicht sprechen können. Dazu kam, dass ich als Kind nicht gelernt hatte, zu sprechen. In meiner Familie war es nicht üblich, dass Eltern mit Kindern sprachen. Man wurde auch nichts gefragt […]“.

Meines Erachtens sind die politischen Maßnahmen, die als Entnazifizierung bezeichnet wurden, erfolglos gewesen, denn diese Methode war einzig ein Verbot der Nazidenke. In den Bildungseinrichtungen wurde durch ständiges Wiederholen ein Schuldkomplex eingepflanzt, ohne den Nachkriegsgenerationen Werkzeuge zur Hand zu geben, wie man denn nun damit umgehen soll. Die Nachkriegsgenerationen lernten lediglich Buße abzulegen und wurden im Sozialisierungsprozess von der Politik im Stich gelassen.

Die Erbsünde führt zur Exklusivität zweier Gruppen
Die angeblich liberalen Biodeutschen, jene die eher Links wählen, praktizieren Selbstverleugnung und die Konservativen, jene, die sich noch offen als Patrioten bezeichnen, haben einzig gelernt, was sie in der Öffentlichkeit zu sagen haben.
Ihr öffentlicher Sprech steht in krassem Widerspruch zu ihren Auftritten am Stammtisch oder unter Gleichgesinnten – soziale Medien, die auf Grund der Direktheit der Kommunikation Hemmschwellen zu senken vermögen, inklusive. Eines haben diese Formen der Auseinandersetzung mit der Geschichte Deutschlands gemein: Sie haben dicke Mauern um die Seele der Biodeutschen gebaut. Ein türkischstämmiger Immigrant, als Beispiel, kann nicht fühlen, wie es ist, mit dieser Erbsünde zu leben.

Deshalb muss das Deutschsein zu einer adaptierbaren Identität für Neudeutsche werden, damit ein „Wir“ überhaupt entstehen kann. Dieses Thema muss zwar langfristig durch die Zivilgesellschaft gelöst werden, dennoch ist es mit eine der wichtigsten gesellschaftspolitischen Aufgaben, eine zeitgemäße Erinnerungskultur zu etablieren. Die muss aktiv von der Politik gefördert, in der Bevölkerung etabliert werden, damit Deutsche durch Einbürgerung diese problemlos übernehmen können.

Eine neue Erinnerungskultur erarbeiten
Ich schlage eine Kommission vor, die sich aus Politik, Zentralrat der Juden, Migrantenverbänden, Vertriebenenverbänden usw. zusammensetzt und Eckpunkte einer neuen, zeitgemäßen Form der Erinnerungskultur gemeinsam erarbeitet. Ein „Wir“ gelingt nur dann, wenn die deutsche Geschichte ihre exklusive Last für Biodeutsche verliert und ALLE Deutschen dieses „Wir“ definieren können. Eine gemeinsame Erinnerungskultur, an der alle deutschen Staatsbürger teilhaben können, ist fundamental für die Gestaltung einer gemeinsamen Zukunft. Erst dann wird auch die Anerkennung der Neuen als Gleiche auch in der biodeutschen Seele gelingen.

Man sollte aus dem Fehler gelernt haben und daraus die Verantwortung ableiten, dass ein solcher Tiefpunkt der Menschheitsgeschichte sich niemals wiederholen darf! Man sollte nicht Generationen von Biodeutschen dazu zwingen, ihr gesamtes Leben geneigten Hauptes zu verbringen, sondern es ihnen zugestehen, erhobenen Hauptes zu gehen, mit der Sicherheit aus den Fehlern der Vorläufergenerationen gelernt zu haben, damit dieses „Nie wieder!“ glaubwürdig wird.

Aufarbeitung des Holocaust ist nicht abgeschlossen
Die Ethik, die Moral des Individuums muss es sein, welche die Verbrechen der Schoah verachtet, denn die existierende „Kultur der Scham“ hat Biodeutschen nichts beigebracht, außer dem Erlernen einer erwünschten Darstellung nach außen! Man hat einzig gelernt, wie die öffentliche Maske auszusehen hat – zumindest jene mit ausreichend Bildung. Man hat einzig gelernt, dass man vorsichtig sein muss mit dem, was man sagt, wenn es um ein Thema geht, das mit Juden zu tun hat, jedoch keine Moral, keine ethischen Grundsätze verinnerlicht. Es reicht die Betrachtung des Umgangs mit dem Islam in Deutschland, um dies erkennen zu können, falls man ein Beispiel wünscht.

In regelmäßigen Abständen tauchen in den Medien neue Nachrichten zu Ermittlungen gegen Kriegsverbrecher auf und es stellt sich hierbei die Frage: Warum hat dies so lange gedauert? Nicht nur Täter schwiegen und versteckten sich, sondern auch traumatisierte Opfer, die sich mit der Grausamkeit der Verbrechen bis heute auseinandersetzen müssen. Lasst sie sprechen, wenn sie sich nach Jahrzehnten endlich in der Lage fühlen, denn diese Menschen wollen das Geschehen auf diese Weise verarbeiten. Dieses Echo der Schande wird uns noch einige Zeit begleiten. Wir sollten beweisen, dass wir die Verantwortung für das Recht auf Gleichheit eines jeden Menschen in unserer Gesellschaft tragen können und dessen Dringlichkeit auch in der Politik bewusst sind.

Deutschland ist kein Einwanderungsland
Unter Berücksichtigung dieses Aspektes ergibt das Postulat der alten Denke „Deutschland ist KEIN Einwanderungsland!“ einen ganz neuen Sinn und müsste ergänzt werden durch die Wortfolge „…und wird niemals eines werden, solange sich die Definition des Deutschseins nicht in den Köpfen der Menschen ändert“.

Die Bewältigung der deutschen Erbsünde ist der Dreh- und Angelpunkt beim Design einer gemeinsamen Zukunft. Denn dann wird der Kampf gegen rassistische Denkmuster nicht länger als Dogma einer exzeptionalistischen Erinnerungskultur gesehen – die ja wiederum eine biodeutsche Sonderrolle festschreibt, sondern als unabdingbare Notwendigkeit für den Aufbau einer lebenswerten Zukunft unseres Landes begriffen. Aktuell Meinung

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  1. H.W. sagt:

    Ich habe erst heute diesen Artikel gefunden und möchte dazu einige Anmerkungen machen:

    Ich bin der Meinung, dass Fremdenfeindlichkeit kein typisch deutsches Problem ist, sondern ein weltweites. Fremdenfeindlichkeit ist ein viel zu weitläufiger Begriff, ich verweise dabei z.B. auf die Problematik der Flamen und Wallonen, der Basken, der Kurden etc. etc. Weltweit, nicht nur in Deutschland ist der Hang, eine eigene nationale Identität zu haben, stark ausgeprägt. Wir deutschen sprechen uns das ab, zumindest in den Medien, der „Intelligenz“ und in der Politik. Genau diese weltweite Thematik vermisse ich als Grundsatzdiskussion in der Öffentlichkeit. Es entsteht zwangsläufig der Eindruck, dass nur wir Deutschen Ressentiments gegen Fremde(s) haben, was aber absolut nicht stimmt. Aus meiner These resultierend stelle ich mir die Frage, warum Deutsche, die einer „verfremdung“ kritisch gegenüberstehen, schnell als Rechtsradikale und Nazis verschrien werden, andere Nationen, die, in Zeiten der Flüchtlingsbewegung, aber nicht. Von dieser Seite aus betrachtet kann ich die Nazi-Rufe nicht ernst nehmen, denn so scheint mir, hat der Hang zu einer eigenen Nationalität nur wenig mit Rechtsradikalismus zu tun, sie ist nur ein kleiner Bestandteil dessen. Wöäe dem so, wären fast alle Nationen Nazis.

  2. Umdenker sagt:

    Der Deutsche ist nicht fremdenfeindlicher als jeder andere Staatsbürger. Fakt. Alles andere ist Rassismus. Und überdies: ja, ich bin gerne Deutscher. Ich möchte nicht tauschen. Und man sieht ja, wieviele hier her kommen in unser Land, weil es ihnen hier gefällt. Weil hier eigentlich alles besser ist als dort, wo diese Menschen herkommen. Wir können stolz sein, in so einem tollen Land zu leben! Gemeinsam sind wir stark! Deutsche und Migranten, die hier leben und gerne hier leben Hand in Hand! Auf Deutschland!