Wir sind alle Nazis!

Deutschland braucht eine neue Erinnerungskultur

Warum darf ich, obwohl ich seit meiner Geburt in Deutschland lebe, Missstände, die meinen Alltag bestimmen, nicht kritisieren? Ganz einfach: Mir fehlt die deutsche Erbsünde – der Holocaust.

Von Mustafa Esmer Mittwoch, 29.01.2014, 8:26 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 03.02.2014, 0:39 Uhr Lesedauer: 7 Minuten  |  

Ich erinnere mich heute noch daran, wie mein Vater fast 9 Monate lang kämpfen musste, weil die GEWAG Wohnungsaktiengesellschaft Remscheid uns einzig Wohnungen in bestimmten – überproportional von türkischstämmigen bewohnten – Vierteln anbot, obwohl auch Wohnraum in anderen Stadtteilen verfügbar war.

Die Suche auf dem privaten Wohnungsmarkt war nicht erfolgreich, da spätestens beim Telefonat auf einen Besichtigungstermin unsere ausländische Herkunft hörbar war. Meinem Vater war es jedoch wichtig, dass wir in einer Gegend aufwachsen, in der auch viele Deutsche leben, schon allein zum Zweck des Erwerbs von Sprachqualifikationen. Erst nach dem Einschalten eines Anwalts sowie eines guten Freundes, der zu dem Zeitpunkt in der IG-Metall bereits einen guten Posten hatte, wurde es möglich, in einer schönen Gegend – mit viel Wald und einer Talsperre in unmittelbarer Nähe – eine Wohnung zu bekommen.

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Ich erinnere mich noch immer an Kommentare der Sachbearbeiterin, wie: „Was habt ihr nur? Ihr seid Türken, da leben Türken, also das müsst Ihr verstehen. Deutsche wollen da nicht wohnen. Die Wohnungen müssen ja auch vermietet werden. Da seid ihr doch schön unter Euch.“ Auf Kritik reagierte die Dame mit Aussagen wie „Wenn es Euch nicht gefällt dann, könnt Ihr ja zurück in die Türkei.“ Ihre Spezialität bestand darin, die fehlende Sprachkompetenz meiner Eltern ausnutzend, Gespräche eskalieren zu lassen, ihnen Begriffe wie „Nazi“ in den Mund zu legen und sie dann lautstark aus dem Raum zu werfen.

Alltagsrassismus ist Element der Alltagskultur
Das ist heute nicht anders. Dieser Form des Alltagsrassismus begegnet man auch heute noch. So hat beispielsweise mein Meinungsbeitrag zum abgeschobenen Intensivstraftäter Muhlis Ari eine hitzige Debatte mit meinen biodeutschen Freunden ausgelöst. Meine These im Fall Ari lautet: Deutschland trägt die Verantwortung für sein kriminelles Verhalten und nicht seine DNA. Dieser Einwand wurde jedoch heftig kritisiert mit Kommentaren wie: „Wenn sich Ausländer nicht benehmen können, dann haben die hier auch nichts verloren!“

Ich versuchte meinen Freunden darzulegen, dass er ja nicht kriminell war, weil er türkischer Herkunft ist, sondern aufgrund seiner Sozialisation. Es ging mir nicht darum, sein Fehlverhalten zu legitimieren, sondern auf Umstände zu verweisen, die deviantes Verhalten begünstigen. Ich beschrieb den Alltagsrassismus mit Beispielen aus meinem Alltag und erklärte, dass ich lediglich aufgrund meiner Persönlichkeit, Bildung und meiner Sprachkompetenz anders mit diesem Frust umgehen kann als Türkischstämmige, die nicht das Glück hatten, in einem guten Elternhaus aufzuwachsen und konservativ-osmanisch erzogen zu werden.

Mein Erklärungsversuch wurde aber mit „Jaja, wir Deutschen sind ja alle Nazis“ beantwortet. Eine inhaltliche Diskussion kam nicht zustande. Allem Anschein nach hatte ich einen wunden Punkt getroffen. Aussagen wie „was habe ich mit dem Holocaust am Hut“ oder „Du weißt doch nicht, wie es ist, sich ständig diesen ‚Scheiß‘ anhören zu müssen“, ergaben einen Sinn.

„Exzeptionalismus der Schuld“
Warum darf ich trotz der Tatsache, dass ich seit Geburt in Deutschland lebe, hier aufgewachsen bin und die Politik aktiv verfolge, die Missstände, die meinen Alltag bestimmen, nicht kritisieren? Ganz einfach: Mir fehlt ein wesentliches Merkmal biodeutscher Identität, nämlich die deutsche Erbsünde – der Holocaust. Die Exklusivität der deutschen Erbschuld ist das Problem, das zu der fehlenden Anerkennung Neudeutscher vonseiten der Mehrheitsgesellschaft führt.

Auffällig ist, dass gerade die Generationen ab 1970 sagen, es einfach satt zu haben, für die Fehler ihrer Eltern und Großeltern büßen zu müssen. Sie hätten es satt, nicht offen sprechen zu können und ständig darauf bedacht sein zu müssen, bloß nicht als Nazi etikettiert zu werden.

Ich musste an den Beitrag von Rainer Werner Fassbinder für „Deutschland im Herbst (DE 1977/1978)“ denken, wo er seine leibliche Mutter, Lieselotte Eder, interviewt. Darin sagt sie: „Ich finde es fürchterlich. Aber man muss die Situation bedenken, in der sich meine Generation, die den Krieg erlebt hatte, befand. Wir standen total im Wald. Wir begriffen nicht, was geschehen war. Ich habe jahrelang darüber nicht sprechen können. Dazu kam, dass ich als Kind nicht gelernt hatte, zu sprechen. In meiner Familie war es nicht üblich, dass Eltern mit Kindern sprachen. Man wurde auch nichts gefragt […]“.

Meines Erachtens sind die politischen Maßnahmen, die als Entnazifizierung bezeichnet wurden, erfolglos gewesen, denn diese Methode war einzig ein Verbot der Nazidenke. In den Bildungseinrichtungen wurde durch ständiges Wiederholen ein Schuldkomplex eingepflanzt, ohne den Nachkriegsgenerationen Werkzeuge zur Hand zu geben, wie man denn nun damit umgehen soll. Die Nachkriegsgenerationen lernten lediglich Buße abzulegen und wurden im Sozialisierungsprozess von der Politik im Stich gelassen.

Die Erbsünde führt zur Exklusivität zweier Gruppen
Die angeblich liberalen Biodeutschen, jene die eher Links wählen, praktizieren Selbstverleugnung und die Konservativen, jene, die sich noch offen als Patrioten bezeichnen, haben einzig gelernt, was sie in der Öffentlichkeit zu sagen haben.
Ihr öffentlicher Sprech steht in krassem Widerspruch zu ihren Auftritten am Stammtisch oder unter Gleichgesinnten – soziale Medien, die auf Grund der Direktheit der Kommunikation Hemmschwellen zu senken vermögen, inklusive. Eines haben diese Formen der Auseinandersetzung mit der Geschichte Deutschlands gemein: Sie haben dicke Mauern um die Seele der Biodeutschen gebaut. Ein türkischstämmiger Immigrant, als Beispiel, kann nicht fühlen, wie es ist, mit dieser Erbsünde zu leben.

Deshalb muss das Deutschsein zu einer adaptierbaren Identität für Neudeutsche werden, damit ein „Wir“ überhaupt entstehen kann. Dieses Thema muss zwar langfristig durch die Zivilgesellschaft gelöst werden, dennoch ist es mit eine der wichtigsten gesellschaftspolitischen Aufgaben, eine zeitgemäße Erinnerungskultur zu etablieren. Die muss aktiv von der Politik gefördert, in der Bevölkerung etabliert werden, damit Deutsche durch Einbürgerung diese problemlos übernehmen können.

Eine neue Erinnerungskultur erarbeiten
Ich schlage eine Kommission vor, die sich aus Politik, Zentralrat der Juden, Migrantenverbänden, Vertriebenenverbänden usw. zusammensetzt und Eckpunkte einer neuen, zeitgemäßen Form der Erinnerungskultur gemeinsam erarbeitet. Ein „Wir“ gelingt nur dann, wenn die deutsche Geschichte ihre exklusive Last für Biodeutsche verliert und ALLE Deutschen dieses „Wir“ definieren können. Eine gemeinsame Erinnerungskultur, an der alle deutschen Staatsbürger teilhaben können, ist fundamental für die Gestaltung einer gemeinsamen Zukunft. Erst dann wird auch die Anerkennung der Neuen als Gleiche auch in der biodeutschen Seele gelingen.

Man sollte aus dem Fehler gelernt haben und daraus die Verantwortung ableiten, dass ein solcher Tiefpunkt der Menschheitsgeschichte sich niemals wiederholen darf! Man sollte nicht Generationen von Biodeutschen dazu zwingen, ihr gesamtes Leben geneigten Hauptes zu verbringen, sondern es ihnen zugestehen, erhobenen Hauptes zu gehen, mit der Sicherheit aus den Fehlern der Vorläufergenerationen gelernt zu haben, damit dieses „Nie wieder!“ glaubwürdig wird.

Aufarbeitung des Holocaust ist nicht abgeschlossen
Die Ethik, die Moral des Individuums muss es sein, welche die Verbrechen der Schoah verachtet, denn die existierende „Kultur der Scham“ hat Biodeutschen nichts beigebracht, außer dem Erlernen einer erwünschten Darstellung nach außen! Man hat einzig gelernt, wie die öffentliche Maske auszusehen hat – zumindest jene mit ausreichend Bildung. Man hat einzig gelernt, dass man vorsichtig sein muss mit dem, was man sagt, wenn es um ein Thema geht, das mit Juden zu tun hat, jedoch keine Moral, keine ethischen Grundsätze verinnerlicht. Es reicht die Betrachtung des Umgangs mit dem Islam in Deutschland, um dies erkennen zu können, falls man ein Beispiel wünscht.

In regelmäßigen Abständen tauchen in den Medien neue Nachrichten zu Ermittlungen gegen Kriegsverbrecher auf und es stellt sich hierbei die Frage: Warum hat dies so lange gedauert? Nicht nur Täter schwiegen und versteckten sich, sondern auch traumatisierte Opfer, die sich mit der Grausamkeit der Verbrechen bis heute auseinandersetzen müssen. Lasst sie sprechen, wenn sie sich nach Jahrzehnten endlich in der Lage fühlen, denn diese Menschen wollen das Geschehen auf diese Weise verarbeiten. Dieses Echo der Schande wird uns noch einige Zeit begleiten. Wir sollten beweisen, dass wir die Verantwortung für das Recht auf Gleichheit eines jeden Menschen in unserer Gesellschaft tragen können und dessen Dringlichkeit auch in der Politik bewusst sind.

Deutschland ist kein Einwanderungsland
Unter Berücksichtigung dieses Aspektes ergibt das Postulat der alten Denke „Deutschland ist KEIN Einwanderungsland!“ einen ganz neuen Sinn und müsste ergänzt werden durch die Wortfolge „…und wird niemals eines werden, solange sich die Definition des Deutschseins nicht in den Köpfen der Menschen ändert“.

Die Bewältigung der deutschen Erbsünde ist der Dreh- und Angelpunkt beim Design einer gemeinsamen Zukunft. Denn dann wird der Kampf gegen rassistische Denkmuster nicht länger als Dogma einer exzeptionalistischen Erinnerungskultur gesehen – die ja wiederum eine biodeutsche Sonderrolle festschreibt, sondern als unabdingbare Notwendigkeit für den Aufbau einer lebenswerten Zukunft unseres Landes begriffen. Aktuell Meinung

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  1. posteo sagt:

    C.R. sagt:…. Richtiger wäre eher “Traditions-Deutsch” oder einfach “christliche Deutsche”.

    Au weia!
    Deutsch und christlich muss nicht zwingend identisch sein, womit dieser Artikel schließlich auch zu tun hat
    Aktuell bezeichnen sich nur noch knapp 60% der Nichtmigranten* als Christen, etwa 40% sind konfessionslos und etwa ein Prozent gehören dem Judentum (!), oder sonstigen Religionen an.
    *) Warum diese bürokratische Bezeichnung? Weil die Bezeichnung „ethnische Deutsche“ auch die Rückwanderer aus den ehemaligen Ostblockländern oder sonstigen Staaten umfasst. Und daher ist der kürzeste Ausdruck für einen Deutschen ohne Migrationshintergrund der „Nichtmigrant“.

  2. C.R. sagt:

    Hatte selber meine Probleme mit dem von mir benutzten Begriff, weswegen ich auch erst „Traditions-Deutsch“ im Kopf hatte und das war nicht auf die Religion bezogen – Auch auf prägende Literatur (z. B. durch die Aufklärung, wobei diese bei weitem nicht von jedem Deutschen verinnerlicht wurde). Vor allem da er in Kunflikt zu meinen weiteren Ausführungen stand. Wollte damit nicht zum Ausdruck bringen, dass konfessionslose und nicht-christliche Deutsche keine Deutschen sind. Das Ding ist einfach, dass, wenn man von ethnischen Deutschen spricht, geklärt sein sollte, dass Ethnien sich immer aus verschiedenen Gruppen gebildet haben können, so wie das in Deutschland, aber auch z. B. der Türkei, als Vielvölkerstaat, der Fall war.

    Dabei muss ich erwähnen, dass ich nicht mal denke, dass Religionen oder politische Ausrichtungen in einem pluralistischen Staat von Bedeutung oder Problematik sein sollten, solange diese den Gesetzen nicht widersprechen und säkular ausgelebt werden. Ein Problem wird es nur, wenn Menschen mit Migrationshintergrund ihre ursprüngliche Nationalität nicht ablegen wollen. Das war auch der einzige Grund, wieso ich auf die Religionen eingegangen bin. Die meisten „Neu-Deutschen“ (der letzten 50 Jahre) gehören den islamischen Konfessionen an. An die jüdischen Deutschen, oder an die ohne Konfession, habe ich dabei garnicht gedacht, was mir nun auch Leid tut, wo ich sie ja ausdrücklich in meinem Posting zur Migrationsgeschichte (wobei jüdische Deutsche seit knapp 2000 Jahren auf dem deutschsprachigen Territorium siedeln) erwähnt habe.

    Bei der Thematik über Strafttätern muss man die Sicht der „Alt-Deutschen“ (passt doch ganz gut?) mal so verstehen: Die meisten Straftäter, von denen man im deutschsprachigen Fernsehen hört (und die Kritik über die Berichterstattung der Medien ist mir bekannt), sind nicht gerade dafür bekannt sich mit Deutschland zu identifizieren. In wie weit also wurden diese dann deutsch sozialisiert? Es ist doch davon auszugehen, dass sie ihre Kindheit überweigend in der Segregation verbracht haben. Ein schlechter ökonomischer Stand reicht hier als Rechtfertigung nicht aus. Jeder, der sich mit Integrationspolitik auskennt, weiß, dass Assimilation und Inklusion im Bereich der Integration gehandelt werden. Inklusion ist das, was die meisten muslimischen Menschen anstreben und als Zwischenschritt auch als gut angesehen werden kann. Segregation führt jedoch zur Exklusion und somit kann nicht von deutscher Sozialisierung gesprochen werden.

    Freue mich über Antworten, da diese Diskussion spannend sein könnte.

  3. u. h. sagt:

    Sehr geehrte Damen und Herren!

    Zunächst einmal möchte ich Sie zu dem hervorragenden Artikel und zu den ausgezeichneten Kommentaren beglückwünschen. Ich habe leider eben erst den Artikel gelesen, und da ich in der letzten Zeit intensiv auf Ihr Tema gestoßen bin, möchte ich dazu noch Stellung nehmen.

    Ich habe eine Freundin, sie ist „typisch deutsch.“ Das ist ihre eigene Definition. Sie wurde in einem Gespräch mit der Deutschen Welle nach ihrer Stellung zum Holokaust befragt – sie und ihre Verwandten hätten ja nichts damit zu tun, aber da sie nun in das Land er Täter gekommen seien, hätten sie keine Schuld, müßten aber ihren Anteil an den Folgen tragen.

    Vor wenigen Monaten war sie in unserm Haus, das Gespräch kam auf die Familiengeschichte, und sie fragte: „Wie gehst du damit um, daß dein Vater so ein schlimmer Nazi war?“ Da mußte ich darauf hinweisen, daß ich das nicht ernst gemeint habe.

    Vor 14 Tagen etwa war in unserer Tageszeitung ein Artikel über eine Frau, die im Alter von etwa 40 Jahren erfahren hatte, daß ihr Opa KZ-Kommendant gewesen war, ihr Name wurde im ersten der Kommentare erwähnt. Sie gehe beispielhaft damit um.

    Da schrieb ich an meine Freundin, in der Zeitung habe dieselbe Frage gestanden, die sie mir gestellt hatte. Und es entwickelte sich ein längerer Mail-Wechsel, der noch nicht ganz beendet ist.

    Sie hat – mit türkischen und arabischen Vorfahren – den Verein Typisch Deutsch gegründet. Der Verein stellt Schülern die Vorteile vor, in Deutschland zu leben, und ermutigt sie, sich zu Deutschland zu bekennen.

    Ich selbst bin im Jahre 1934 geboren und habe es in meiner kindlichen Unbedarftheit gewagt, die Aufforderung, zur Jungvolkerfassung im Papierkorb zu entsorgen. Die Aufforderung, mich zu rechtfertigen, kam wegen des Kriegsendes zu spät.

    Vo+n Judenverfogung habe ich erst gut ein Jahr vor dem Abitur erfahren – bei uns auf dem Dorf gab es keine Juden (mehr?), – den ersten Juden sah ich in meinem Leben, als Mitte 1946 die Schulen wieder geöffnet wurden und in einer höheren Klasse ein jüdischer Schülelr war.

    Wenn Herr Esmer nun schreibt, ein richtiger Deutscher sei durch die Scham über den Holokaust traumatisiert, mag ich ihm nicht folgen. Ich habe es immer mit Herrn Bravermann als verhängnisvolle Scham angesehen – persönliche Schuld geht auf niemand anders über, und ich brauche mich für sie nicht zu schämen. Das habe ich auch nie getan. Aber bin ich nun keinDeutscher? Ist meine Freundin Sezen keine richtige Deutsche, obwohl sie sich zum Deutschsein bekennt, aber ihre Integration ablehnt?

    Wir können uns als Menschen auf Augenhöhe begegnen, gleich, ob wir schwarz sind, etwas heller oder weiß, Christen, Juden, Moslems oder Hindus – auf den Charakter kommt es an. Dann können wir uns vertragen und zu Freunden werden, auch wenn wir manchmal das Andersartige nicht verstehen. Sezen hat gesagt. „Deutsch ist bunt,“ später hat sie gesagt, „Vielfalt ist zu wenig, Allfalt gibt es unter den Altdeutschen, wir müssen sie auch bei den Neudeutschen akzeptieren.“ Damit meinte sie Straftäter unter den Migranten.

    Ich wünsche nicht, daß einer sich über den andern erhebt. Wie hilflos wären wir in einem Land mt kyrillischer oder arabischer Schrift! Helfen wir doch dem, der Hilfe braucht.

  4. Es verblüfft mich, dass es immer wieder Informationen zum Thema NS-Staat gibt, die ich nicht kenne, wie mir der von posteo gepostete Link bewusst macht. Neben den groBen Gruppen der Juden und politischen Häftlingen wusste ich von Homosexuellen und Zeugen Jehovas, Sinti und Roma in den KZW, aber die Gruppe der „Asozialen“, „Arbeitsscheuen“…. war mir unbekannt.
    Es stimmt wohl, dass die Bewusstmachung und der Umgang mit dieser Gruppe, die auch nie entschädigt wurde, in der Nachkriegszeit weitgehend ausgeblendet wurde.
    Hier ein Auszug aus dem Text hinter dem Link:
    Das Ende dieser von Wolfgang Ayaß als autoritär charakterisierten Phase der nationalsozialistischen »Asozialen«-Verfolgung wurde eingeleitet durch den Grunderlass »Vorbeugende Verbrechensbekämpfung« des Preußischen und Reichsministers des Inneren vom 14. Dezember 1937, der gleichzeitig den Beginn einer rassistisch begründeten Verfolgung markierte. Mit dem Erlass wurde die Verhängung polizeilicher Vorbeugungshaft, die bereits seit November 1933 gegen sogenannte Berufsverbrecher möglich war, auf die als »Asoziale« bezeichneten Gruppen ausgedehnt. Damit wurde die Verfolgung der »Asozialen« zur hauptsächlichen Aufgabe der Kriminalpolizei, die nach einem Wort des Reichskriminalpolizeidirektors Arthur Nebe von 1939 ihre Aufgabe nicht nur in der schlichten Bekämpfung von Kriminalität sah, sondern maßgeblich auch in die »Formung des deutschen Menschen« eingeschaltet sein wollte.

    …“Entscheidend für die neue Qualität war, dass in dem Erlass des Innenministers Frick die Einbeziehung der »Asozialen« in die kriminalpolizeilichen Verfolgungsmaßnahmen ausdrücklich mit der Auswertung der durch die kriminalbiologische Forschung gewonnenen Erkenntnisse begründet wurde. Damit bezog sich der Erlass auf die Ergebnisse von Rassehygienikern und Kriminalbiologen wie dem Psychiater Dr. Dr. habil Robert Ritter, der seit November 1936 die Rassenhygienische und Bevölkerungsbiologische Forschungsstelle des Reichsgesundheitsamtes leitete. Er avancierte wenig später zum kriminalbiologischen Berater des Reichskriminalpolizeiamtes, nachdem er 1937 in seiner Habilitationsschrift unter dem programmatischen Titel »Ein Menschenschlag« festgestellt haben wollte, daß »Asoziale« und »Verbrecher« eine biologische Einheit darstellten, welche Ritter »Das Gaunertum« nannte. Dass Ritter sich mit solchen Feststellungen im Einklang mit der an den deutschen Universitäten etablierten Erblehre und Rassenbiologie befand, dokumentieren die Befunde eines anderen akademischen Erbbiologen, wonach »Verbrecher« und »Asoziale« eine »echte völkische Unterschicht« darstellten, die von der »gesamten Unterwelt der Gene« geprägt sei….“

    „Die Unterwelt der Gene“, diesen Ausdruck muss man sich auf der Zunge zergehen lassen. Es Ist immer wieder erstaunlich, wie sich nur zwei Generationen vor meiner eigenen solch krass kranke Gedanken als Herrschaftsmeinung durchsetzen konnten.
    Über den Begriff des Bio-Deutschen (und damit meine Wortschöpfung des Hybriddeutschen) werde ich nach dem Artikel von C.R. auch noch einmal nachdenken. Immerhin gibt es jetzt eine Diskussion über Themen, die aus dem Nachdenken über Mustafa Esmers abwegigen Thesen entstehen. Schade, dass er selber die Diskussion nicht ernst nimmt.

    Karsten Brandt Detuschlehrer in Südfrankreich 0033 6 10 86 93 66

  5. posteo sagt:

    Lieber C.R.,
    da Sie um weitere Diskussionsbeiträge gebeten haben, möchte ich noch ein paar weitere Informationen hinzufügen.
    Sie schreiben : Die meisten “Neu-Deutschen” (der letzten 50 Jahre) gehören den islamischen Konfessionen an.
    Das ist nicht richtig. Auch unter den Migranten stellen die Christen mit etwa 60% die absolute Mehrheit, wobei vielleicht erwähnenswert ist, dass sich unter den christlichen Migranten zahlreiche griechisch oder russisch Orthodoxe, Orientchristen und Anhänger kleinerer Sekten befinden, deren Riten und Feiertage sich von denen der Katholiken und Protestanten oft unterscheiden (so feiern die Orthodoxen Weihnachten am 6. Januar).
    Der Eindruck, dass Migranten mehrheitlich muslimisch sind, kommt daher, dass die meisten Migranten ethnische Europäer sind und daher weit weniger als „fremdländisch“ erscheinen, zumal sie keine typischen religiösen Erkennungszeichen tragen. Dieses psychologische Phänomen, das subjektiv Fremdere zahlenmäßig höher einzuschätzen oder stärker in Erinnerung zu behalten als das Eigene, nennt man den Halo-Effekt.

    Mit den osteuropäischen Einwanderern wuchsen die jüdischen Gemeinden von 50.000 (deutschen) Mitgliedern auf 250.00 Mitglieder an, ein Zuwachs der die jüdischen Gemeinden vor gewaltige Integrationsaufgaben gestellt hat, die jedoch mit der Neubelebung der jüdischen Kultur in Deutschland belohnt wurden.
    Der Vollständigkeit halber sei noch auf die etwa eine Million Buddhisten oder Hindus und auf die etwa eine Million Atheisten unter den Neu-Deutschen hingewiesen.

    Doch damit nicht genug. Wie Sie richtig bemerkt haben, sind die autochthonen Deutschen selbst nicht homogen. Neben den vielen Dialektgruppen und an ihren Nachnamen erkennbaren Nachfahren von Franzosen, Ruhrpott-Polen und anderen Einwanderern aus früherer Zeit gibt es 4 anerkannte autochthone Minderheiten. Dies sind die Ostfriesen, die holsteinischen Dänen und die sächsischen Sorben, die durch historische Grenzerweiterungen zu Deutschen wurden, und die Sinti, die deutsche Untergruppe der Roma.

    Autochthon heißt alteingesessen. Ich denke, jetzt habe ich alles Wesentliche zur ethnischen Vielfalt in Deutschland gesagt.

  6. Cengiz K sagt:

    Herr Esmer,

    Sie haben wieder mal den Nagel auf den Kopf getroffen..

  7. C.R. sagt:

    @posteo: Interessant. Dann können wir uns ja auch auf den Begriff der „autochthonen“ Bevölkerung einigen.

  8. posteo sagt:

    @C.R. einverstanden!

  9. Pingback: Nationalstolz nicht erst bei GEW erbitten! | FreieWelt.net

  10. Mathis sagt:

    Bin mal schon jetzt ganz gespannt darauf, wie Herr Esmer die Erinnerungs-kultur der Türkei bewerten wird, die 2015 wohl Thema sein dürfte.
    Was ist mit den Traumata, die aus der Verleugnung von Verbrechen resultieren? Wie prägt diese Verleugnung die türkische Gesellschaft, und was bedeutet dies für die deutsch-türkischen Beziehungen?
    Die Erinnerungskultur in Bezug auf den Holocaust kann ihre Gestalt ändern.Er wird aber immer im Zentrum jeder wie auch immer gestalteten Erinnerungskultur zu finden sein.Das ist ein Teil unseres „kollektiven Gedächtnisses“. Nur wer Probleme mit dem eigenen Gedächtnis hat, wird das merkwürdig finden.