Theater

Rauş – Neue deutsche Stücke

Texte zum Dasein in Deutschland aus der postmigrantischen Literaturwerkstatt RAUŞ in szenischen Lesungen im Ballhaus Naunynstraße – Juri Sternburgs „Wider die Natur! oder die Desintegrationsmaschine“ und Olivia Wenzels „Mais in Deutschland und anderen Galaxien“.

Von Dienstag, 14.01.2014, 8:24 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 08.08.2016, 10:51 Uhr Lesedauer: 5 Minuten  |  

Vidar Arsen ist gnadenlos fett. Ein Gigant der Korpulenz. Cholerisch zudem. Ferner genial. Julian „Die Spindel“ Mehne spielt den Wal der Wissenschaft. Sein Übergewicht wird von der Phantasie abgewogen. Die Phantasie hilft gern. Stell dir den Mehne als Orson Welles vor, schlägt sie vor. Die Wahl von Welles setzt „Wider die Natur! oder die Desintegrationsmaschine“ das erste Glanzlicht auf.

Arsen schäumt vor Wut in einem Wirtshaus gehobener Provenienz. Gehoben wiegt schwer – sonst würde sich der Staatsanwalt vor Ort keinesfalls herablassen. Er wurde mit dem goldenen Löffel im Schlund geboren und nuschelt seitdem. Cynthia Micas spielt ihn als Gentleman im roten Abendkleid. Das muss man gesehen haben. Da steckt alles drin, der ganze Gender Swing. Obwohl es darum nicht geht in dem Stück von Juri Sternburg. Der Autor heißt aus eigenem Antrieb so wie das Bier des Volkes von Berlin. Ein Frack tanzt auf dem Tisch. Rauchen wird als Kunstform betrieben. „Die Macht befiehlt auch, wenn sie bittet“, heißt es treffend an der Stelle, wo Maryam Zaree für eine Handvoll Dollar zum Zigarettenautomat geschickt wird. Maryam Zaree könnte ihre Rolle bei einem heiteren Berufe raten mit dem Lied „The Lady Is A Tramp“ verraten. Sie spielt die Bordsteinschwalbe als an Theater und Höhlenmalerei interessierte Barfliege. „Sie hat die Trostlosigkeit gesehen und verstanden“, schreibt Sternburg.

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Wo bleibt der devote Ober mit haargenauer Frisur? Lorris Andre Blazejewski spielt ihn als Bückling vor einem gigantischen Rollmops. Arsen setzt ihm zu. „Sie haben ihr ganzes Leben gespurt. Jetzt ist nicht die Zeit für Aufmüpfigkeit.“

Arsen gibt den Empörungshysteriker mit abnehmender Begeisterung. Irgendwann ist auch mal gut. Er vernimmt dann das Straßenmädchen in seiner Wohnung – einer Heimstatt des Vierten Reichs. Eine Kreuzung zwischen Gnom & Golem, Göring genannt, buckelt bei Belieben. Arsens Butler entzückt mit der verbotenen dritten Strophe. Elmira Bahrami singt „Deutschland über alles in der Welt“ mit geschulter Stimme. Sie liest Regieanweisungen vor. Sie sagt die Zukunft voraus. Die schicke Haushaltshilfe schickt sich an, die Desintegrationsmaschine einzusetzen, die Arsen mit keimenden Skrupeln erfunden hat.

Ich verstehe nicht, wozu die Maschine imstande ist. Ich glaube, man kann mit ihr in der Zeit reisen und an den Nullpunkt der Welt zurückkehren. Arsen schwankt im Größenwahn zwischen Gott und Adam. Die Inszenierung deutet eine Personalunion im Sternbild Galaxien-Hausmeister an.

Als Hausfrau verliert das Straßenmädchen seine/ihre interessante Hoffnungslosigkeit. Wo ist sie geblieben? fragt Arsen. Die Hoffnungslosigkeit brauchte er für ein Experiment. Es endet mit Wut im Wohnzimmer.

Sämtliche Prozesse im Stück münden in einen Prozess. Er sieht Arsen als Angeklagter, der Wissenschaftler verteidigt sich selbst. Er fordert für sich die Todesstrafe, aber bald sitzt er wieder im Wirtshaus und beleidigt die anwesende Unterschicht. Der Kellner gibt die Kelle ab und greift zur Knarre. Er weiß: „Evolution wird mit R geschrieben.“

Vor vielen Jahren, als es noch die deutsche Mark in Groschen gab, habe ich in einer Anthologie deutsche Autoren mit ethnischer Differenz vorgestellt.

Heute sind die Autoren von damals Rentner. Sie sind altersmilde und zahnlos. Am liebsten verstärken sie ihre Rentnerzäune mit neuen Latten. Mit dem Hammer und ein paar Nägeln an der frischen Luft, so sieht man sie bei jedem Wetter. Sie erinnern mich an ihre Väter aus der Mikis Theodorakis-Generation. Das sind die Großväter von Olivia Wenzel. Ihr „Mais in Deutschland und anderen Galaxien“ baut darauf: Mit siebzehn wird eine Punkerin in der DDR schwanger von einem Schwarzen. Damit endet die Rolle des Erzeugers. Noah heißt der Sohn, die actionorientierte Mutter findet ihn langweilig. Der Anpassungsdruck deformiert Noahs soziale Statur Richtung emotionalem Stillstand. Das bedeutet, seine geistigen Wachstumschancen sind gering. So still und leise organisiert eine Gesellschaft Apartheid. Der Zusammenlang hielt sich lange verborgen, jetzt weiß man: Außenseiter werden im Schema F produziert. Noah flüchtet zu seinen Großeltern, auf der Suche nach Normalität. Es steckt ein hilfloses Bemühen im Verhalten der Altvorderen. Sie sind gespalten, ihr undeutlicher Rassismus spart den Enkel aus. Blut ist dicker als Wasser.

Noah bringt nichts zu Ende und überlebt als Kneipenexistenz an einem Rand der Welt. Ernest Allan Hausmann spielt Noah in der Latzhose. Was sichtbar ist, wird nicht verteidigt. Der empfindliche Langweiler schafft sich einen zweiten, unantastbaren Körper in seiner Phantasie. Er lässt sich heiraten, zum Vater machen und von der Chefin verführen. Einmal geht er aus sich heraus, da liegt dann einer verbeult am Boden. Noah unterstreicht das gute Gefühl nach der Tat.

Das Stück folgt der Biografie seines Helden. Mutter Susanne schreit immer wieder dazwischen. Mit vierzig hört sie sich immer noch so an: „Jedenfalls das Konzert, das war der Hammer. Ich stand in der ersten Reihe, völlig nassgeschwitzt, wir haben ewig gewartet, und dann kamen sie. Scheiße, das ging direkt in die Eingeweide. Noah, das war’n richtiges Brett.“

Ruth Reinecke spielt die Rebellin. An Stelle ihres Sohnes würde sich Susanne über alle Widerstände lärmend hinwegsetzen. Nach ihren Begriffen gibt es keinen Unterschied zwischen Punk und farbig. Man hört förmlich Nina Hagen: „Ich schalt’ die Glotze an. Die Daltons Waltons, everyone. Ich glotz’ von Ost nach West, 2, 5, 4. Ich kann mich doch gar nicht entscheiden.“

Die seelischen Lähmungen des Sohns setzen Susanne zu. In Noahs Erleben stellt sich das dar: „Ich bin sieben Jahre alt, klettere auf einen Baum und starre in den Himmel. So viele, schöne Lichtpunkte. Ich falle rückwärts runter und schlage mir den Kopf auf, Platzwunde. Als meine Mutter mich sieht, sagt sie: „Scheiße, bist du bescheuert.“

Dem Heranwachsenden legt Susanne nah, auszuziehen. Noah findet Familienersatz beim professionellen Müßiggänger Freddy. Dafür muss er sich „Schokohase“ nennen lassen. Raphael Käding spielt den Totalentspannten in der Patschuliwolke. Er bleibt Noahs Mentor.

„Mais in Deutschland und anderen Galaxien“ schreibt die Geschichte der Migration in Deutschland fort, auch wenn Noah kein gutes Beispiel für Einwanderung mit Elan ist. Aktuell Feuilleton

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