Deutschland & Europa
Visavergabepraxis für die Einreise
Nicht erst seit der Flüchtlingskatastrophe von Lampedusa Anfang Oktober kursiert in der Öffentlichkeit das Bild der „Festung Europa“, eines hermetisch abgeriegelten Staatenbunds. Die europäischen Einreisebestimmungen sowie bestehende Restriktionen und Erleichterungen zeigen die unterschiedliche Behandlung von Einreisewilligen nach Herkunftsland.
Von Fatma Rebeggiani Donnerstag, 05.12.2013, 8:26 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 09.12.2013, 9:37 Uhr Lesedauer: 5 Minuten |
Bürger der 26 Schengen-Staaten sowie die Bürger der EU-Staaten Bulgarien, Irland, Rumänien Vereinigtes Königreich und Zypern können visafrei nach Deutschland einreisen und sich hier aufhalten. Diese Länder bilden die erste Kategorie (siehe Infografik; 31 blau markierte Länder). Eine zweite Kategorie bilden die Staaten, deren Bürger für einen Kurzzeitaufenthalt visafrei in die EU einreisen und vor Ort einen längeren Aufenthaltstitel beantragen dürfen (13 grün markierte Länder). Den Bürgern dieser Länder kommen nach den Schengen- bzw. EU-Staaten die liberalsten Einreise- und Aufenthaltsbestimmungen zugute. Zu diesen Staaten gehören die USA, Kanada, Australien, Neuseeland, Israel, Japan und Südkorea. Auch die Staatsbürger von Honduras, El Salvador, Brasilien, Andorra, Monaco und San Marino können ohne Visum einreisen und einen längeren Aufenthaltstitel beantragen. Für sie bestehen jedoch Restriktionen hinsichtlich einer Erwerbstätigkeit in Deutschland.
Darüber hinaus gibt es Länder, deren Staatsbürger lediglich für maximal drei Monate innerhalb eines Halbjahreszeitraums – sogenannte Kurzzeit- oder Besuchsaufenthalte – visafrei nach Deutschland einreisen können (28 gelb markierte Länder). Die Zuständigkeit für Kurzzeitaufenthalte von Drittstaatlern wurde seit den 1990er Jahren zunehmend europäisiert und ist seit April 2010 im „Visakodex“ (EG Nr. 810/2009) auf EU-Ebene geregelt. Visabestimmungen für die Einreise gelten daher für alle Schengen-Staaten gleichermaßen. Zu den Staaten, deren Bürger visafrei für einen Besuchsaufenthalt in die EU einreisen können, gehören die westlichen Balkanländer, mit denen langfristig eine komplette Visafreiheit angestrebt ist, wie z. B. Albanien, Mazedonien und Serbien, sowie Inselstaaten wie die Bahamas, Barbados oder die Seychellen, die beliebte Reiseziele sind. Außerdem spielen die Außenbeziehungen der EU zu den jeweiligen Ländern eine wichtige Rolle. Ein wesentliches Kriterium bei der Ausgestaltung der Visabestimmungen dürfte die Vermeidung von irregulärer Einwanderung sein. Mit Ländern, bei denen davon ausgegangen wird, dass Einreisende z. B. wegen verbreiteter Armut im Herkunftsland keine Rückkehrabsicht hegen, besteht in der Regel keine Visafreiheit. So wurden Ecuador im Jahr 2003 und Bolivien 2006 die Visafreiheit für Kurzzeitaufenthalte gekündigt. Als Begründung wurden der „anhaltend starke Migrationsdruck“ sowie die Bekämpfung der „illegalen“ Einreise angeführt.
Die Motive der EU-Mitgliedstaaten, Einreiseerleichterungen für einzelne Drittstaaten zu beschließen, sind vielfältig. Die Migrationsforscher Claudia Finotelli und Giuseppe Sciortino kommen in ihrer aktuellen Studie „Durch die Tore der Festung. Europäische Visapolitik und die Grenzen der Einwanderungskontrolle“ zu dem Schluss, dass bei der Visavergabepraxis in der EU die Verhinderung unerwünschter Einreisen nur ein Ziel neben den Interessen von Tourismus und Wirtschaft, der geopolitischen Nähe und kolonialen Verbindungen sei. Ein Beispiel bildet das EU-Abkommen über die Visafreiheit für Kurzzeitaufenthalte mit Brasilien vom September 2012. Darin wird zu den touristischen Zwecken auch die Beteiligung an Sportwettbewerben gezählt. Es kann also davon ausgegangen werden, dass die Fußball-Weltmeisterschaft in Brasilien im nächsten Jahr sowie die Olympischen Sommerspiele 2016 treibende Faktoren bei der Einigung auf die Visafreiheit gewesen sind. So müssen sich die Teilnehmer und Zuschauer dieser Großereignisse, die aus der EU nach Brasilien reisen, um Einreisebestimmungen ebenso wenig Sorgen machen wie Brasilianer, die nach Europa reisen wollen.
Die vierte Kategorie schließlich umfasst die Länder, deren Staatsangehörige für die Einreise nach Deutschland grundsätzlich eine Einreiseerlaubnis benötigen (rot markierte Länder). Hierzu gehören 126 Staaten der Welt, u. a. alle arabischen Staaten, der gesamte afrikanische Kontinent mit Ausnahme der beiden Inselstaaten Mauritius und Seychellen, zahlreiche asiatische und einige lateinamerikanische Staaten sowie mehrere Länder in Europa wie das Kosovo und die Republik Moldau. Auch Staatsbürger aus Indien, China, Russland, der Ukraine und der Türkei benötigen eine Einreiseerlaubnis, wenn sie nach Deutschland kommen wollen. Mit manchen dieser Länder bestehen Visaerleichterungsabkommen, etwa um Studierenden und Fachkräften (z. B. mit der Blue Card) oder Geschäftsleuten die Einreise zu erleichtern oder um allen Visaantragstellern eine Entscheidung innerhalb eines vorgeschriebenen Zeitraums zuzusichern. Die EU und Russland, zwischen denen seit dem 1. Juni 2007 ein solches Visaerleichterungsabkommen besteht, streben langfristig die Visafreiheit untereinander an. Auch mit der Türkei bestehen seit Längerem Verhandlungen über die Aufhebung der Visapflicht für Kurzzeitaufenthalte. Nach Informationen des Auswärtigen Amtes hat die EU-Kommission dem Rat der EU kürzlich vorgeschlagen, zur Einführung von Visaerleichterungen Verhandlungen mit Marokko aufzunehmen. Auch mit den Staaten der Golfregion, z. B. den Vereinigten Arabischen Emiraten, gebe es laufend Gespräche.
Theoretisch bedeutet die Visapflicht lediglich eine Prüfung und Bewilligung der Einreise. In der Realität stellt sich die Situation aber oft so dar, dass die Ablehnungsquoten sehr hoch sind. Für Antragsteller aus afrikanischen Ländern lag sie beispielsweise 2011 drei- bis fünfmal höher als die durchschnittliche Ablehnungsquote von 10 %. Auch türkische Antragsteller werden doppelt so oft abgelehnt wie im Durchschnitt. Zudem klagen Antragsteller oft über sehr lange Bearbeitungszeiten.
Das Gesamtbild veranschaulicht, dass sich Europa für Staatsangehörige vieler Länder als eine gut geschützte Festung darstellt, da ihnen restriktive Regeln die legale Einreise erschweren. Da die Staatsbürger einiger anderer Länder aber Einreiseerleichterungen genießen, sprechen Finotelli und Sciortino von einer „Festung mit vielen offenen und einladenden Toren in bestimmte Richtungen und wenigen schwer bewachten in andere“. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass die Visumpflicht nicht immer auf Gegenseitigkeit beruht: So können Deutsche und EU-Bürger in viele Länder visafrei einreisen, deren Staatsangehörige umgekehrt visumpflichtig sind, wie das Beispiel der Türkei zeigt. Aktuell Politik
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