Servus, Bosporus!

Kiezleben auf Türkisch

Früher war Cornelia Reinauer die Bürgermeisterin des Berliner Bezirks Friedrichshain-Kreuzberg. Seit einigen Jahren lebt sie in Istanbul.

Von Jenny Becker Freitag, 04.10.2013, 8:26 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 09.10.2013, 8:32 Uhr Lesedauer: 4 Minuten  |  

Wenn Cornelia Reinauer ihre Wohnung verlässt, schrumpft Istanbul zusammen. Die 13 Millionen Metropole wirkt plötzlich sehr klein. „Cornelia!“, ruft es von einem Cafétisch aus einer Gasse herüber. Motorräder und streunende Katzen huschen vorbei. Eine Dame mit roter Mähne sitzt vor einem Glas Schwarztee und winkt. Es ist eine türkische Galeristin, eine Freundin. Cornelia Reinauer wechselt ein paar Worte auf Türkisch, ja, sie wird am Abend zur Ausstellungseröffnung kommen. Ein gehauchter Wangenkuss, dann geht es weiter durch Beyoğlu, das Zentrum auf der europäischen Seite des Bosporus. Hier lebt Cornelia Reinauer seit sechs Jahren, hier ist Istanbul keine Großstadt, sondern einfach ihr Kiez.

Ihr anderer Kiez liegt 2000 Kilometer entfernt. Vier Jahre lang war Cornelia Reinauer Bürgermeisterin des Berliner Bezirks Friedrichshain-Kreuzberg. Jenem Stadtteil, der als größte türkische Enklave außerhalb der Türkei gilt. 2006 verlor sie die Wiederwahl für die Linke – und zog nach Istanbul. „Ich bin bewusst gegangen. Ich lebe ja in Kreuzberg und hätte die Entscheidungen des neuen Bürgermeisters ständig bewertet.“ Ein befreundetes Ehepaar wanderte gerade aus und sagte: Komm doch mit! Die Entscheidung fiel leicht. Sie war 54, ungebunden, hatte plötzlich Freizeit und eine Pension als vorzeitig verrentete Landesbeamtin. Seit ihrem ersten Besuch in Istanbul wollte sie sowieso irgendwann hier leben. Das war 1981. Damals arbeitete sie als Bibliothekarin und kaufte Bücher, um in Kreuzberg eine türkische Bibliothek aufzubauen. Bis heute liebt sie an Istanbul eines besonders: „Hier geht es nicht darum, wer wen integriert. Hier existieren unterschiedliche Lebensformen nebeneinander.“

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Servus, Bosporus! Im April diesen Jahres reisten zwölf Schüler der Zeitenspiegel-Reportageschule nach Istanbul. Zehn Tage lang recherchierten sie in der türkischen Metropole für ihre Geschichten. Darin wollten sie vor allem die besonderen Beziehungen zwischen Menschen in Istanbul und Deutschland in den Fokus stellen. Aus den Geschichten ist „Servus, Bosporus!“ entstanden, ein Onlinemagazin, in dem sich die Vielfalt der Metropole Istanbul aber auch die Vielfalt journalistischer Erzählformen wieder findet. Einige der Artikel veröffentlichen wir in einer losen Reihe auch im MiGAZIN.“

„Hallo!“, ruft es vom anderen Gehweg. Eine Nachbarin, die türkische Schauspielerin Jale Arikan, kommt die Straße herauf. Sie spielt in deutschen Serien wie „Tatort“ mit, jetzt wohnt sie nur wenige Ecken von der Ex-Bürgermeisterin entfernt. Sie verabreden sich für den Galerieabend. „Beyoğlu ähnelt Kreuzberg“, findet Cornelia Reinauer. „Kreativszene, teure Läden, Subkultur. Eine gute Mischung.“ In knallgrünem Filzmantel und dreieckigen Ohrringen eilt sie in Richtung Bosporus. Ein bisschen Paradiesvogel, ein bisschen Politikerin. Sie ist spät dran für ihren Termin an der Mimar Sinan Universität. „Aber hier ist niemand pünktlich.“ Also trinkt sie noch einen Kaffee in einem Hafen-Café, das sie neulich auf einem Spaziergang entdeckt hat.

Sie läuft gern durch die steilen Gassen von Istanbul. Am liebsten dorthin, wo sie auf den Bosporus schauen kann. In der Nähe ihrer Wohnung kennt sie alle Panorama-Restaurants. Die Vorliebe für Spaziergänge und den Blick aus der Höhe – vielleicht stammt sie noch aus ihrer alten Heimat. Cornelia Reinauer wuchs auf der Schwäbischen Alb auf. Die bewaldeten Hänge begannen direkt hinter dem Haus, die Familie ging oft wandern.

Jetzt mache ich nur noch Arbeit, die mir Spaß macht

Als Bürgermeisterin blieb keine Zeit für lange Spaziergänge. Arbeitstage von 9 bis 23 Uhr, Wochenenden inklusive. „Jetzt mache ich nur noch Arbeit, die mir Spaß macht“, sagt sie und es klingt trotzig. Ihr Ehrenamt hält sie beschäftigt. 2008 hat sie den Verein Forum Berlin Istanbul mit gegründet, der Austauschprojekte fördert.

Als Netzwerkerin ist sie auch heute unterwegs. Als sie den Seminarraum der Mimar Sinan Universität erreicht, eine halbe Stunde zu spät, sitzt ein Dutzend Studenten plaudernd an einem Carré aus Tischen. Es sind künftige Stadtplaner, die Reinauer demnächst auf eine Exkursion nach Berlin begleiten wird. Sie sollen dort lernen, wie man behutsam saniert und wie man Bürger bei Planungen beteiligt. Zwei für Istanbul ungeheuerliche Dinge. Reinauer pendelt oft zwischen den Städten und fühlt sich in beiden zu Hause. Die Kreuzberger Wohnung hat sie behalten. Denn ihren Lebensabend will sie in Berlin verbringen. „Als alter Mensch alleine in Istanbul, das wäre schwierig. Schon wegen der steilen Gassen.“ Aktuell Feuilleton

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