Wahlrecht

Eine Stimme aus „Der Bevölkerung“

"Wie will der deutsche Staat, die deutsche Gesellschaft, Menschen wie mich repräsentieren, wenn wir nicht wählen können?", fragt die gebürtige Kanadierin Carolyn Gammon und weist dabei auf zwei große Schriftzüge des Reichstages hin.

Von Mittwoch, 18.09.2013, 8:26 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 23.09.2013, 1:36 Uhr Lesedauer: 3 Minuten  |  

Ich bin Kanadierin. Vor 22 Jahren kam ich nach Berlin und habe hier meine Liebe gefunden. Wir sind jetzt 22 Jahre zusammen und haben einen 14-jährigen Sohn. Wahrscheinlich werde ich den Rest meines Lebens in Deutschland sein … und doch kann ich hier nicht wählen!

Sicher, ich könnte einen deutschen Pass beantragen. Doch ich bin nicht bereit, meinen kanadischen Pass abzugeben. Es gibt vielfältige Gründe, warum Menschen das Gefühl haben, ihre ursprüngliche Staatbürgerschaft nicht aufgeben zu wollen. Wir sind fast acht Millionen Menschen, die in Deutschland leben, ohne einen deutschen Pass zu besitzen. Das sind acht Prozent der Gesamtbevölkerung.

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Wie will der deutsche Staat, die deutsche Gesellschaft, Menschen wie mich repräsentieren, wenn wir nicht wählen können? Man könnte uns erlauben, eine Doppelte Staatbürgerschaft zu bekommen oder das Wahlrecht nach einer bestimmten Zahl von Jahren zu erhalten, zumindest bei Landtagswahlen oder bei Kommunalwahlen.

Ich bin Schriftstellerin und Fremdenführerin. Anlässlich der Bundestagswahl möchte ich eine Geschichte zum Reichstag erzählen, die ich oft meinen Gästen aus aller Welt erzähle: 1894 hat der Architekt Paul Wallot den Reichstag entworfen. Dabei plante er auf die Frontseite des Gebäudes die Worte anzubringen, die wir heute sehen: „Dem Deutschen Volke“. Aber der damalige Kaiser Wilhelm II. war gegen die Anbringung der Worte und erlaubte es nicht. Als 22 Jahre später, während des Ersten Weltkrieges, die Stimmung im Volk extrem schlecht wurde, erhielt er den Rat, etwas für die Hebung der Moral zu unternehmen. Erst dann erlaubte Wilhelm II. die Abbringung des Schriftzuges an den Reichstag. Interessanterweise wurden die Buchstaben von der Berliner Bronzegießerei Loevy hergestellt und angebracht, einem jüdischen Familienbetrieb.

Carolyn Gammon hielt diese Rede am vergangenen Samstag während einer Protestaktion. Vertreter aus der Zivilgesellschaft, politischer Parteien und Gewerkschaften sprachen sich dabei für eine Änderung des Wahlrechts in Deutschland aus. Der Verein Jede Stimme organisierte im Rahmen des Bündnisses „Wahlrecht für Alle!“ eine Protestaktion im Regierungsviertel. Vor einer abgesperrten Wahlurne bildete sich eine lange Menschenschlange. Berliner ohne deutschen Pass machten deutlich: WIR WOLLEN MITBESTIMMEN!

Nun machen wir einen Zeitsprung in das Jahr 2000. Der Reichstag wurde nach der Wiedervereinigung renoviert und wieder aufgebaut. Ein Teil der Mittel, ungefähr zwei Prozent, waren für Kunstwerke reserviert worden. Der Künstler Hans Haacke konzipierte ein Kunstwerk, welches als Kommentar zur Inschrift „Dem Deutschen Volke“ gedacht war. In einem der Innenhöfe des Reichstages wollte er große Buchstaben aufstellen. Mit dem gleichen Schrifttyp wie das Original wollte er die Worte „Der Bevölkerung“ formen. Dem folgte eine heftige Debatte im Bundestag und die notwendige Abstimmung über das Kunstwerk fiel denkbar knapp aus: 260 zu 258. Der Schriftzug ist im Lichthof von allen Etagen des Gebäudes aus zu lesen.

Hans Haacke dachte bei seiner Arbeit an Menschen wie mich und die anderen acht Millionen Menschen, die hier leben, aber nicht die deutsche Staatangehörigkeit haben und die trotzdem einen großen Teil ihres Lebens hier verbringen. Wir haben unsere Familien hier. Wir arbeiten hier und zahlen Steuern. Ja, wir gehören dazu. Ich möchte Hans Haacke ganz öffentlich dafür danken, dass er mir das Gefühl gibt, in diesem Land willkommen zu sein.

Und ich möchte die Politiker und Politikerinnen bitten, darüber nachzudenken, wie sie acht Millionen Menschen in Deutschland an den demokratischen Prozessen des Landes teilhaben lassen können…gemeinsam mit „Dem Deutschen Volke“! Aktuell Meinung

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  1. Malso sagt:

    Wer 22 jahre in Deutschland wohnt und auch nicht plant, das zu verändern, darf sich nicht beschweren, dass er nicht wählen darf, wenn er seine Staatsbürgerschaft nicht ändern will.

    So groß kann die Verbundenheit zu Deutschland also nicht sein.

  2. Keew sagt:

    @Malso: Kannst Du Dir vielleicht vorstellen, dass man sich zu zwei Ländern zugehörig fühlt und nicht von einem abgeschnitten werden will und sei es nur symbolisch???

    Wenn es einfacher wäre, sich in Deutschland einbürgern zu lassen und auch seine andere Staatsbürgerschaft behalten darf, würde es bestimmt mehr Bereitschaft geben. Offiziell gibt es Einbürgerungsinitiativen, aber auf den Ämtern sieht die Realität leider häufig anders aus…

    Für mich alles eine Frage der Willkommenskultur. Aber scheinbar will man zwar Pizza, Döner und Falafel essen, kulturelle Vielfalt genießen solange sie einem selbst nützt, aber ist in keiner Weise bereit, etwas dafür zu geben :(

    Wir haben genügend Nichtwähler, wir können es uns einfach nicht mehr leisten, so viele Personen auszuschließen…

  3. Han Yen sagt:

    Die identitären Appelle und Loyalitätsbekundungen an Ein- und Auswanderungsstaat sind belustigend. Staatsorgane sind im Grunde institutionalisierte Öffentlichkeiten, die Aufgaben delegieren an Auftragsnehmer (Beamte). Ein- und Auswanderer brauchen Budgets, um die Ressourcenverteilung an Bildung, Gesundheit und Investitionspolitik für ihre Daseinsbewältigung selbst koordinieren zu können. D.h. man braucht einen steuerlichen Verteilungsschlüssel zwischen Ein- und Auswanderungsregion und übergeordneten Zentralstaat. Es ist folgerichtig, dass sich Ein- und Auswanderer für eine Verlagerung von Gewalten an die regionale Ebene in Ein- und Auswanderungsregion stark machen, um ihr Gewicht zu erhöhen. Mit irrationalen Verbundenheitsgefühlen hat das alles nichts zu tun, sondern man wünscht sich Mündigkeit und den Gebrauch öffentlicher Vernunft, um präventiv die Entstehung von Lebensrisiken in den Regionen und den Institutionen zu verhindern. Setzen Sie sich besser dafür ein, dass politische, soziale und kulturelle Rechte durch interregionale Abkommen portierbar werden.

  4. Matthias sagt:

    Die kanadische Bevölkerung besteht zu 10 % aus deutschen Staatsbürgern. Wahlberechtigt ist nur, wer den kanadischen Pass besitzt. Wer die kanadische Staatsangehörigkeit annehmen möchte, darf die deutsche nicht behalten.

    Mir kommt das bekannt vor.

    Dies löst zwar nicht die Problematik der Autorin, zeigt aber, dass es noch andere Staaten ohne Doppelpassmodell gibt. Im Übrigen ist das Argument, man verliere durch Annahme der deutschen Staatsangehörigkeit viel Rechte in seinem Geburtsstaat vollkommen überholt und abgedroschen. Jurisitisch gesehen verliert der ehemalige Kanadier weder seine Vermögenswerte oder Erbschaftsrechte …

  5. Lynx sagt:

    Wie wollen der bundesdeutsche Staat und die deutsche Mehrheitsgesellschaft mich repräsentieren, wenn ich sie beide abgewählt habe?

  6. Elmo sagt:

    Alles Willkür… Welcome to Almanya…

  7. posteo sagt:

    Da uns der „Doppelpass nichts kostet, habe ich ausnahmsweise auch kein Problem damit. Ich denke, die Vorbehalte gegen den “Doppelpass” bestehen in der Vorstellung, die deutsche Staatsbürgerschaft würde dadurch automatisch vergeben. Um eingebürgert zu werden sind auch weiterhin gute Deutschkenntnisse, ein einwandfreies polizeiliches Führungszeugnis und ein Einkommen aus eigener Arbeit vorzuweisen. Nichts, was die Integration verschlechtert.