Wahlrecht

Eine Stimme aus „Der Bevölkerung“

„Wie will der deutsche Staat, die deutsche Gesellschaft, Menschen wie mich repräsentieren, wenn wir nicht wählen können?“, fragt die gebürtige Kanadierin Carolyn Gammon und weist dabei auf zwei große Schriftzüge des Reichstages hin.

Ich bin Kanadierin. Vor 22 Jahren kam ich nach Berlin und habe hier meine Liebe gefunden. Wir sind jetzt 22 Jahre zusammen und haben einen 14-jährigen Sohn. Wahrscheinlich werde ich den Rest meines Lebens in Deutschland sein … und doch kann ich hier nicht wählen!

Sicher, ich könnte einen deutschen Pass beantragen. Doch ich bin nicht bereit, meinen kanadischen Pass abzugeben. Es gibt vielfältige Gründe, warum Menschen das Gefühl haben, ihre ursprüngliche Staatbürgerschaft nicht aufgeben zu wollen. Wir sind fast acht Millionen Menschen, die in Deutschland leben, ohne einen deutschen Pass zu besitzen. Das sind acht Prozent der Gesamtbevölkerung.

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Wie will der deutsche Staat, die deutsche Gesellschaft, Menschen wie mich repräsentieren, wenn wir nicht wählen können? Man könnte uns erlauben, eine Doppelte Staatbürgerschaft zu bekommen oder das Wahlrecht nach einer bestimmten Zahl von Jahren zu erhalten, zumindest bei Landtagswahlen oder bei Kommunalwahlen.

Ich bin Schriftstellerin und Fremdenführerin. Anlässlich der Bundestagswahl möchte ich eine Geschichte zum Reichstag erzählen, die ich oft meinen Gästen aus aller Welt erzähle: 1894 hat der Architekt Paul Wallot den Reichstag entworfen. Dabei plante er auf die Frontseite des Gebäudes die Worte anzubringen, die wir heute sehen: „Dem Deutschen Volke“. Aber der damalige Kaiser Wilhelm II. war gegen die Anbringung der Worte und erlaubte es nicht. Als 22 Jahre später, während des Ersten Weltkrieges, die Stimmung im Volk extrem schlecht wurde, erhielt er den Rat, etwas für die Hebung der Moral zu unternehmen. Erst dann erlaubte Wilhelm II. die Abbringung des Schriftzuges an den Reichstag. Interessanterweise wurden die Buchstaben von der Berliner Bronzegießerei Loevy hergestellt und angebracht, einem jüdischen Familienbetrieb.

Carolyn Gammon hielt diese Rede am vergangenen Samstag während einer Protestaktion. Vertreter aus der Zivilgesellschaft, politischer Parteien und Gewerkschaften sprachen sich dabei für eine Änderung des Wahlrechts in Deutschland aus. Der Verein Jede Stimme organisierte im Rahmen des Bündnisses „Wahlrecht für Alle!“ eine Protestaktion im Regierungsviertel. Vor einer abgesperrten Wahlurne bildete sich eine lange Menschenschlange. Berliner ohne deutschen Pass machten deutlich: WIR WOLLEN MITBESTIMMEN!

Nun machen wir einen Zeitsprung in das Jahr 2000. Der Reichstag wurde nach der Wiedervereinigung renoviert und wieder aufgebaut. Ein Teil der Mittel, ungefähr zwei Prozent, waren für Kunstwerke reserviert worden. Der Künstler Hans Haacke konzipierte ein Kunstwerk, welches als Kommentar zur Inschrift „Dem Deutschen Volke“ gedacht war. In einem der Innenhöfe des Reichstages wollte er große Buchstaben aufstellen. Mit dem gleichen Schrifttyp wie das Original wollte er die Worte „Der Bevölkerung“ formen. Dem folgte eine heftige Debatte im Bundestag und die notwendige Abstimmung über das Kunstwerk fiel denkbar knapp aus: 260 zu 258. Der Schriftzug ist im Lichthof von allen Etagen des Gebäudes aus zu lesen.

Hans Haacke dachte bei seiner Arbeit an Menschen wie mich und die anderen acht Millionen Menschen, die hier leben, aber nicht die deutsche Staatangehörigkeit haben und die trotzdem einen großen Teil ihres Lebens hier verbringen. Wir haben unsere Familien hier. Wir arbeiten hier und zahlen Steuern. Ja, wir gehören dazu. Ich möchte Hans Haacke ganz öffentlich dafür danken, dass er mir das Gefühl gibt, in diesem Land willkommen zu sein.

Und ich möchte die Politiker und Politikerinnen bitten, darüber nachzudenken, wie sie acht Millionen Menschen in Deutschland an den demokratischen Prozessen des Landes teilhaben lassen können…gemeinsam mit „Dem Deutschen Volke“!