Kısmet

Wahlfieber

Protokoll zum Gesundheitszustand der Familie: alle wieder weitestgehend genesen. Zumindest körperlich. Dennoch grassiert ein Fieber, das ich in der Form im familiären Kontext noch nie wahrgenommen habe. Das Wahlfieber.

Von Florian Schrodt Mittwoch, 18.09.2013, 8:24 Uhr|zuletzt aktualisiert: Freitag, 20.09.2013, 1:15 Uhr Lesedauer: 7 Minuten  |  

Seit Tagen löchert mich meine Freundin, den Wahl-O-Mat mit ihr zu bearbeiten. Nebenbei bearbeitet sie mich mit Ausschnitten aus Fernsehduellen, Wahlkampfreden und zum Trost – mit satirischen Passagen aus der Medienpolitik. Woher kommt plötzlich bloß diese Mischung aus Begeisterung, Erheiterung und Frustration?

Als wäre das erhitzte Gemüt meiner Freundin nicht genug, befällt der Virus der politischen Kontroverse auch den Rest der Familie. Eigentlich alles sehr löblich. Aber wir haben einen Zustand erreicht, bei dem der Virus des Wahlkampffiebers eine Symbiose mit der türkischen Streitkultur eingeht, der nicht nur die Körpertemperatur, sondern obendrein die Raumtemperatur in beachtlichen Maße steigen lässt.

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Wenn wir aber schon bei Krankheitsbildern sind. In den vergangenen Wochen war meine bessere Hälfte der Verzweiflung nahe. Keine Diagnose, stundenlange Wartezeiten in Wartezimmern und einen Termin beim HNO am 30.10. (zum Glück diesen Jahres) wegen Verdacht auf Infekt. Bevor dieser Infekt hätte zuschlagen können, hätte sie wohl eher ein Infarkt eingeholt. Gesundheitspolitik? Ein rotes Tuch für sie. Und wir reden nicht über die Farbskala im Parteienspektrum.

Baba versucht etwas hinzuzufügen, aber meine Freundin lässt ihn gar nicht zu Wort kommen. „Was wählst du denn jetzt?“ Ich setzte süffisant zu argumentieren an, dass mein Wahlgeheimnis verletzt werden könnte durch die Frage. Beende diesen Satz jedoch irgendwo im Nirgendwo, weil ihre Gestik weitaus schlimmere Verletzungen erwarten lässt. Man sollte die Frage ohnehin anders interpretieren. Meine Freundin verlangt politischen Diskurs, den ich ihr zugegebenermaßen derzeit nicht aus einer parteipolitischen Brille geben kann und will. Von daher sind wir beide etwas ratlos. Oder sagen wir ergebnisoffen.

Wenn guter Rat teuer ist, ist Baba meist zur Stelle. Meinen flachen Wortwitz hat er schnell durchschaut. Grinsend hält er mir die offene Hand unter die Nase und reibt verschmitzt Daumen an Zeige- und Mittelfinger. Endlich kann ich wieder auf meine rudimentären Türkischkenntnisse zurückgreifen: „Para yok.“ (Übers. Aus dem türk.: Kein Geld[/efn_note] Im besten „ceylanschen“ Akzent erwidert er „nur Schepass“. Bevor er jedoch zu seiner eigentlichen Aussage ausholen kann, wird er abermals unterbrochen. Durch das Telefon.

Seine Schwester ist am Apparat und berichtet analog zum Fernseher über die aktuellen Geschehnisse in der Türkei. Der direkte Draht nach Istanbul glüht. Und entfacht damit gleich weitere Diskussionen. Unvermindert kann die aufgeheizte politische Erörterung verlagert werden. Baba findet die politischen Verhältnisse in der Türkei… Ja, wie findet er sie denn? Er sucht nach dem richtigen Wort und umschreibt seinen Gedanken. Wir einigen uns auf demagogisch. Er notiert das Wort sogleich in seinen Notizblock. Als er versucht, das neu Erlernte selbst anzuwenden, klingt es eher wie dermatologisch. Unter die Haut gehen die Ereignisse.

Einen Juckreiz bekommt meine Freundin ebenso mit Blick auf die hohlen Politikphrasen hierzulande. Einen Ausschlag jedoch ob der Verhältnisse auf den türkischen Straßen. Aber sie haben noch tausende Kilometer weiter einen spürbaren Effekt. Ich glaube durchaus, dass es einen Zusammenhang zwischen dem plötzlichen politischen Gestaltungswillen meiner Freundin und den Zuständen in der Türkei gibt. Es scheint eben doch sehr wohl eine Rolle zu spielen, von wem man repräsentiert wird. Von Verdrossenheit also keine Spur, auch wenn die hochkarätigen Akteure nicht unbedingt ihrem Geschmack treffen.

Sie wolle jetzt gar nicht über Integrationspolitik sprechen. Die käme im Wahlkampf sowieso nicht vor. Mit gehässigem Grinsen korrigiert sie sich selbst: Es sei denn man nennt Integrationspolitik, dass eine fast schon skurril konforme türkischstämmige Vertreterin als Kandidatin der CDU von Tür zu Tür geht, um für Stimmen zu werben. So wie im Morgenmagazin gezeigt. Da müssten schon andere Kriterien für ihre Stimme entscheiden. Und schon habe ich wieder den Wahl-O-Mat an der Backe.

Dass meine Familie politisches Interesse hat, ist zugegeben nicht neu. Baba neigte schon in den 70ern dazu, seine Anregungen für die politische Kaste direkt postalisch an die verschiedenen Ministerien zu senden. Noch heute wartet er auf Antwort. Er versucht, mich seit Längerem für einen neuen Anlauf beim Finanzministerium zu bewegen. Seine Reformpläne für die Rente will er nicht so leicht aufgeben. Aufgeben will er offensichtlich ebenso wenig die Versuche, endlich mal zu Wort zu kommen. Er bekommt vom politischen Tagesgeschehen sicherlich ohnehin viel mehr mit als wir, da er quasi ein Dauerabonnement für deutsch- und türkischsprachige Nachrichtensender hat. Er bringt gerade das Wort Rente über die Lippen, als seine Tochter übernimmt.

Die Rentenpolitik, schimpft sie. Auf wen solle man sich denn noch verlassen? Und wie solle das denn funktionieren, wenn große Teile der Bevölkerung im Niedriglohnsektor oder in befristeten Verhältnissen landen. Aber so verwunderlich sei das auch nicht, wenn sie sich die Schul- bzw. Studiensituation ansehe. Sie holt aus. Mein Schwiegervater muss sich mit dem Gedanken an eine Replik begnügen. Zumindest vorerst. Zu Wort kommt er nicht. Ich versuche, ihn ins Spiel zu bringen. Ob es ihn denn nicht störe, dass er selbst nicht wählen könne, frage ich ihn? Anne springt engagiert ein, bevor er überhaupt eine Silbe formen kann. Merkel sei ihre „Kanzlerin“. Seit fast 50 Jahren sei sie nun hier, deshalb sei dies auch ihre Regierung. Aber sie dürfe die Regierung nicht wählen? Darauf antwortet sie überraschend prägnant: „Dies ist mittlerweile unsere Heimat, aber wir sind keine Staatsbürger.“ Baba stimmt eilig mit einem Kopfnicken zu. Meine Freundin blickt vom Laptop auf und lässt Wahl-O-Mat kurz ruhen. Sie war einen Augenblick versunken. Nun darf endlich auch mein Schwiegervater.

Fast schon im Schnelldurchlauf versucht er, seine aufgesparten Themen durchzupeitschen. Früher habe man sich noch etwas erarbeiten können mit Fleiß. Wo sei diese deutsche Eigenschaft geblieben. Man solle aufpassen, dass man nicht den Reichtum, den er in diesem Land mit aufgebaut habe, in den Bankrott verwalte. Aber das fange schon in der Schule an. Wo ist da der Respekt, will er von mir wissen mit scharfen Blick. Er sei zwar nur wenige Jahre in der Türkei zur Schule gegangen, aber eins habe er gelernt: Respekt vor den Pädagogen. Das sieht meine Freundin eigentlich ähnlich. Aber sie münzt die Aussage gleich um und fragt, wie man denn Politiker respektieren könne. Die seien derart nichtssagend. Eine Rolle, in der sich nun auch Baba wieder findet, weil er nicht zu Wort kommt. Der Übergang zu deutschen hin zur türkischen Politik ist fließend.

Wie soll man denn in der Türkei Politiker respektieren? Die stopfen sich doch richtig die Taschen voll. Noch schlimmer als hier. Anne kann gerade noch einwenden, dass die Türkei strukturell große Schritte gemacht habe. Auch wenn sie nicht unbedingt von der Regierung begeistert ist. Unter anderem würde das Gesundheitswesen sukzessive reformiert. Zumindest könne man wohl mittlerweile auch ohne Familie in einem öffentlichen Krankenhaus überleben. Ich will wissen, was das bedeutet. Krankenschwestern seien nur da gewesen, um ein bis zwei Mal am Tag Tabletten zu verabreichen, bekomme ich erklärt. Essen, Pflege – Fehlanzeige. Die Rage meiner Freundin steigt. Aber wer verdiene denn am Ausbau des Gesundheitswesens, hakt sie nach. Wenigstens würden die Menschen dort protestieren. Hier würde man eher den Bankrott hinnehmen, statt anständig zu protestieren. Ein Seitenhieb auf mich, weil ich mich von ihr bislang nicht animieren ließ.

Als es klingelt, wittert Baba seine Chance, endlich in das Gespräch einzusteigen. Aber er bleibt alleine zurück. Meine Freundin nutzt die Unterbrechung für eine Toilettenpause. Mein Handy klingelt. Anne öffnet die Tür. Es sind meine Schwägerin und mein Schwager. Sie waren bei der Post und haben ihre Briefwahl abgegeben. Reflexartig fragt meine Freundin aus dem Hintergrund: „Wen habt ihr gewählt.“ Statt einer Antwort fordert Baba lautstark seine Sprechzeit ein. Eine hitzige Diskussion keimt erneut auf, die ständig die politischen Landesgrenzen wechselt. Wie gut ein Blick über den Tellerrand doch tun kann. Sicherlich nicht nur politisch, sicherlich nicht nur der Familie.

Der heiße Wahlkampf hat begonnen. Auch im heimischen Wohnzimmer. Die Fieberkurve steigt noch mindestens bis Sonntag. Aber ansonsten geht es allen gut. Maşallah. Aktuell Meinung

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  1. Serpil sagt:

    Vielen Dank für die immer sehr amüsanten und kritischen Kommentare! auch heute wieder gelacht! diese Kolumne lese ich sehr gerne!

  2. Florian Schrodt sagt:

    Liebe Serpil, vielen Dank, mit einem solchen Feedback kann man ja nur gut in den Tag starten! :-) Auch ich stelle immer wieder fest, wie nah lachen und weinen beieinander liegen. Den Humor und die gute Hoffnung sollte man jedoch nicht verlieren. ;-)
    Viele Grüße,
    Florian

  3. Feriah F. sagt:

    Ich stimme Serpil vollkommen zu.
    Immer wieder ein Vergnügen ihre Kolumne zu lesen. Viele Interessante Geschichten und Denkanstöße.
    Herr Schrodt warum fassen Sie nicht alles in einem Buch zusammen? da müsste ich nicht ungeduldig alle zwei Wochen warten.

  4. Florian Schrodt sagt:

    Liebe Feriah, auch Ihnen vielen Dank – sehr schmeichelhaft! Babas Geschichten würden gewiss ein dickes Buch füllen. Aller Anfang ist jedoch schwer, eines Tages werde ich die Idee sicherlich aufgreifen! Bis dahin hoffe ich weiter auf Ihre Geduld!
    Viele Grüße
    Florian