Demografie
„Den Status Quo zu halten, ist eine riesige Herausforderung“
Im Interview erklärt der renommierte Demograf Prof. Thomas Büttner, warum das Bevölkerungswachstum nach den jüngsten Prognosen der UN höher ausfällt als bisher angenommen, warum Frauen in Industrieländern bald schon wieder etwas mehr Kinder bekommen könnten und warum die Prognosen trotz robuster Rechenverfahren keine sicheren Vorhersagen darstellen.
Von Reiner Klingholz, Ruth Müller Dienstag, 16.07.2013, 8:26 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 18.07.2013, 2:22 Uhr Lesedauer: 13 Minuten |
Klingholz, Müller: Die Ergebnisse der Projektionen sind alle zwei Jahre immer etwas unterschiedlich. Laut der neusten Prognose wird die Weltbevölkerung einen höheren Maximalwert erreichen als bisher angenommen. Gleichzeitig hat sich der Zeitpunkt, zu dem wir diesen Wert erreichen werden, nach hinten verschoben. Wie kommt es dazu?
Prof. Thomas Büttner: Das hat eine Reihe von Ursachen: Die Absenkung der Fertilität in Afrika verläuft nach der jetzigen Prognose langsamer als vorher angenommen. Das multipliziert sich bis zum Ende des Jahrhunderts und führt deshalb zu einem signifikanten Ergebnis. Außerdem werden die Einflussfaktoren auf höhere Bevölkerungen angewandt. Wenn eine Bevölkerung klein ist und eine höhere Fruchtbarkeit hat, sind die Auswirkungen relativ klein. Anders ist das bei großen Bevölkerungen, insbesondere in den noch weiter wachsenden afrikanischen Ländern. Die dritte Ursache für die leicht erhöhten Bevölkerungszahlen am Ende des Jahrhunderts liegt darin, dass die Prognosen von einem Wiederanstieg der Fruchtbarkeit in den Niedrigfertilitätsländern ausgehen , also in Industrieländern, die schon seit langem weniger als zwei Kinder pro Frau verzeichnen. In dieser Kategorie ist auch China. Dort hat die Version von 2010 einen Bevölkerungsverlust von rund 400 Millionen angegeben. In der aktuellen Version sind es nur noch etwa 275 Millionen. Das sind erhebliche Änderungen, obwohl sich das alles in einem Bereich zwischen 2,0 und 1,6 Kindern abspielt.
Ich habe früher mal gelernt, dass Afrika ein dünn besiedelter Kontinent ist. Kann man das noch sagen?
Prof. Dr. Thomas Büttner war zwischen 2006 und 2011 stellvertretender Direktor der Bevölkerungsabteilung der Vereinten Nationen (UN). Der Demograf hat die Berechnungsmethoden der Weltbevölkerungsprognosen mitentwickelt und geprägt und ist auch im nun angetretenen Ruhestand ein weltweit gefragter Experte. Als solcher engagiert er sich unter anderem im Stiftungsrat des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung.
Büttner: Das ist immer noch wahr. Selbst dann, wenn man sich die Dichte der Bevölkerung in den Ländern ansieht, die nicht in der Sahel-Zone liegen. Man muss aber dazu sagen, dass in Afrika relativ große Strecken der Landwirtschaft mit armen Böden ausgestattet sind, sodass die Erträge dort nicht vergleichbar sind mit denen von Asien, wo intensiver Reisanbau möglich ist. Deshalb ist die Tragfähigkeit in Afrika gering. Hinzu kommen die großen Wälder, von denen man möchte, dass sie nicht weiter abgeholzt werden. Denn sie sind globale Dienstleister für Klima und Umwelt. Tatsache ist: Afrika wird in den kommenden Dekaden nicht vor Bevölkerung überquellen. Da ist schon noch Platz. Es kommt aber darauf an, wie dieser Platz angelegt, ausgelegt, verbunden und organisiert wird.
Der größte Bevölkerungszuwachs findet in Subsahara-Afrika statt. Was bedeutet das denn für diese Länder?
Büttner: Das bedeutet, dass sie es schwer haben werden, selbst den bestehenden Zustand aufrecht zu erhalten. Bei der Grundschulbildung und bei weiterführenden Schulen zum Beispiel liegen sie heute noch unterhalb internationaler Zielsetzungen. Alleine durch das Bevölkerungswachstum sind enorme Zusatzanstrengungen nötig. Die Zahl der Jugendlichen schwillt an und sie brauchen Bildung. Den Status Quo zu halten, ist also eine riesige Herausforderung. Und der muss auch noch verbessert werden. Das Bevölkerungswachstum verschlingt eine Menge an produktiven Investitionen, die sonst in andere Bereiche, wie etwa Infrastruktur, investieren werden könnten.
Was bedeutet das konkret?
Büttner: Eins der weniger bekannten aber immens wichtigen Probleme ist, dass die Bevölkerung nicht zu Genüge mit Abwassersystemen und Toiletten versorgt werden kann. Dadurch wiederum kann die Belastung durch Krankheiten und Seuchen nicht in dem Maße gesenkt werden, wie es möglich wäre. Die Bevölkerung bleibt also in miserablen Lebensumständen gefangen. Deshalb ist es notwendig, dass in diesen Ländern internationale Hilfe stattfindet.
Bleibt die Bevölkerung unter solchen Umständen überhaupt dort?
Büttner: Die meisten Menschen bleiben lieber dort, wo sie geboren sind und wo ihre Familie ist. Migration ist also eine Ausnahmesituation und wird durch Ausnahmesituationen ausgelöst. Für die Projektionen ist Migration ein schwierig zu berechnender Faktor. Denn für die meisten Länder gibt es keinen deutlichen Trend. Das geht hoch und runter.
Aber ich glaube, dass wir sind sehr konservativ sind, was den Umfang der Migration betrifft. Über zwischenstaatliche Wanderung in Afrika wissen wir nicht genug. Und es könnte durchaus sein, dass die Wanderung insgesamt größer wird. Wir haben in einer Studie gezeigt, dass die Süd-Süd-Wanderung in etwa so groß ist, wie die Wanderung vom Süden in den Norden. Das ist ein vergessener Teil der menschlichen Bewegung. Und Migration ist eine demografische Veränderung, die Staaten in beide Richtungen selbst beeinflussen können. Bei Sterblichkeit kann man wahrscheinlich nur Verbesserungen erzielen und bei Fruchtbarkeit sind die Einflussmöglichkeiten allein wegen der Menschenrechte begrenzt. Aber um Wanderungsströme zu verändern, können Staaten Quoten einführen oder ganz zu machen. Wir erleben das etwa in der Europäischen Union, die sehr stringente Kontrollmechanismen hat.
In manchen der afrikanischen Ländern ist die Situation in verschiedenen Bereichen kritisch: Wasserversorgung, Ernährungssicherheit, politische und ethnische Konflikte sind bereits heute auf der Tagesordnung. Wie verändert sich diese Problemlage, wenn die Bevölkerung weiter wächst?
Büttner: Der Bevölkerungsdruck selbst führt nicht unbedingt zu Gewalt. Aber er macht sie möglicher. Vor allem, wenn er mit anderen Konflikten, wie Verteilungsungerechtigkeiten oder Zugang zu Macht, zusammenfällt, wird es kritisch. Politische und andere Probleme spitzen sich dann zu Gewalt zu –innerhalb von Ländern und zwischen verschiedenen Staaten. Ruanda ist da ein scheinbar gutes Beispiel. Der enorme Bevölkerungsdruck wurde dadurch verstärkt, dass eine bestimmte Ethnie sich auf Viehzucht und die andere auf Bodenbesitz spezialisiert hatte. Dieser Konflikt hat bis hin zu einem Massenmord geführt. Gleichzeitig ist das Land seit Jahren mit Burundi und Kongo in einen Konflikt um die Großen Seen verwickelt.
Wie realistisch sind die langfristigen Vorhersagen überhaupt, wenn man über manche Entwicklungen, wie etwa Kriege, gar nicht so viel weiß?
Büttner: Die Möglichkeiten sind natürlich recht groß, dass nicht das eintritt, was die mittlere Variante der Vereinten Nationen vorhersagt. Man muss aber wissen, dass in der Modellberechnung der mittleren Variante Ausnahmeereignisse enthalten sind. Sie beziehen die AIDS-Epidemie, Bürgerkriege und dergleichen aus der Vergangenheit ein. Die Modelle, die jetzt gerechnet werden, sind damit nicht einfach nur ein festes, statisches, mathematisches Modell, sondern sie versuchen, von der Vergangenheit zu lernen. In einem sogenannten „Bayes’schen Update-Prozess“ werden die Veränderungen im eigenen Land untersucht und dann variiert. Im Anschluss wird die kollektive Erfahrung von Ländern auf einem ähnlichen Niveau einbezogen. Aber die UN können Naturkatastrophen oder Bürgerkriege nicht vorhersagen.
Die Vorausberechnungen hängen außerdem vom Eintreten ganz bestimmter Ereignisse zu Fertilität und Sterblichkeit ab. Damit die Weltbevölkerung am Ende des Jahrhunderts zehn Milliarden umfasst, ist ein weiterer Rückgang der Fruchtbarkeit um beinahe ein halbes Kind notwendig. Das ist, betrachtet man die Vergangenheit, wahrscheinlich, doch es ist nicht sicher. In einigen Ländern, insbesondere in Afrika, geht es langsamer voran. Die Prognose nimmt darüber hinaus an, dass sich die Sterblichkeit weiter reduziert. Auch das basiert auf der historischen Erfahrung, ist aber nicht sicher, wie uns die HIV/AIDS Pandemie gelehrt hat. Aktuell Interview
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Was hier überhaupt nicht erwähnt wird, ist der Einfluß der Religion auf die Kinderzahl. Nach einer Untersuchung neigen Familien mit größerer Bindung an ihre jeweilige Religion (in die Unterschung einbezogen wurden die drei großen Offenbarungsreligionen: Islam, Christentum und Judentum) eher zu einer größeren Kinderzahl, da sie es von ihrer Religion her als verdienstlich ansehen, möglichst viele Kinder zu bekommen und aufzuziehen, während überwiegend säkularistisch ausgerichtete Angehörige der Religionsgemeinschaften und Atheisten meistens ihr Ego in den Vordergrund und über religiöse Erwägungen stellen und Kinder als für das Ausleben ihrer eigenen Wünsche und Lebensvorstellungen als hinderlich ansehen. Diese die Kinderzahl beeinflussende Einstellung ist laut der Studie weitgehend unabhängig von sozialem Status und Bildungsgrad.