Alles was Recht ist
Die Nebenwirkungen einer deusch-türkischen Identität
Während der Demonstration in der Türkei habe ich sie wieder verstärkt zu spüren bekommen, meine deutsch-türkische Identität. Die Symptome sind: nicht wissen, wohin man gehört und nicht wissen, was man fühlen soll und wenn man fühlt, dann das schlechte Gewissen, ob man noch loyal ist.
Von Filiz Sütçü Dienstag, 02.07.2013, 8:24 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 03.07.2013, 22:50 Uhr Lesedauer: 4 Minuten |
Auslöser dieser Symptome ist die Protestbewegung in der Türkei, nein eigentlich die Frage, warum ich nicht dieses Interesse verspüre, ebenfalls auf die Straße zu gehen und für „diese Sache“ zu demonstrieren. Etwas bremst mich, hält mich zurück, obwohl ich auch unterstützen und aufbegehren möchte.
So habe ich darüber nachgedacht, woher diese Unentschlossenheit rührt. Für mich gibt es mehrere Gründe: Zum einen bin ich gar nicht sicher, ob diejenigen, die in der Türkei in den Städten Istanbul, Ankara und Izmir auf die Straße gehen, sich mit einer „Almancı“ identifizieren, außer vielleicht diejenigen, die Verwandte in Deutschland oder in einem anderen EU-Land haben. Wir sind nämlich die Almancı, die „Deutschen“, die nach Deutschland gegangen sind. Ich verspüre bei diesem Begriff eher eine Art Arroganz, die ausgeht von dieser Mittelschicht in der Türkei, die niemals nach Deutschland auswandern würde, weil sie es nie nötig hatte und auch nie haben wird.
In der Türkei ist die Differenzierung zwischen weißen Türken und schwarzen Türken geläufig, was die Klassifizierung nochmals verdeutlicht, wobei dies einen anderen Hintergrund hat, vor allem politisch betrachtet: eine Unterscheidung zwischen den Kemalisten/den Urbanen/der elitären Bildungsschicht und den schwarzen Türken aus Anatolien.
Hierzu muss man auch wissen, dass die Türkei zu Zeiten der Republikgründung durch Atatürk und seiner „Reformen von oben“ eine Bevölkerungsstruktur aufwies, die zu 90 % aus AnalphabetInnen bestand und geprägt war von ländlichen Strukturen. Zudem gab und gibt es in der Türkei über 40 ethnische Gruppen. Die Politik und die Besetzung wichtiger Ämter blieben einer bestimmten gebildeten Oberschicht vorbehalten. Auch nach Jahrzehnten hielt und hält sich diese Unterscheidung zwischen Städtern und Landbevölkerung.
Da jedoch zumindest in der ersten Gastarbeiter-Anwerbephase vor allem Türken aus dieser ländlichen Region nach Deutschland kamen, ist auch unter den Türkei-Türken die Meinung schlechthin vertreten, dass die Zuwanderergeneration aus der Türkei ausschließlich aus Anatolien stammt, zuweilen als Bauernvolk beschimpft. So wie die Einheimischen in Deutschland nicht differenzieren, differenzieren auch die türkischen Einheimischen nicht.
Zum anderen kenne ich die eigentliche Ausgangsmotivation Protestierenden in der Türkei nicht. Ich bin mir nicht ganz sicher, wofür die StudentInnen aus dieser sogenannten Bildungsmittelschicht in Izmir, Istanbul und Ankara tatsächlich auf die Straße gehen. Ich lebe nicht in der Türkei und habe auch nie dort gelebt, sodass ich nicht beurteilen kann, welcher Leidensdruck die bürgerliche Mittelschicht in der Türkei dazu veranlasst, derartige Strapazen auf sich zu nehmen.
Vor wenigen Tagen haben wir in Deutschland den 20. Jahrestag der Anschläge in Mölln und Solingen gedacht. Und auch die Berichterstattung über die unzähligen Pannen im Zusammenhang mit den NSU-Morden ebbt in Deutschland nicht ab. Ich frage mich, wo die Stimmen aus der Türkei sind? Ich habe sie nicht gehört. Nicht vor 20 Jahren und auch jetzt nicht.
Ich habe einer Bekannten gegenüber neulich spontan geäußert, ich würde nicht auf die Straße gehen, weil ich es damals vermisst habe, dass die Türkei-Türken für uns auf die Straße gegangen sind. Ja, damals vor 20 Jahren war nach den Anschlägen in Mölln und Solingen eine sehr unangenehme Stimmung im Lande, die auch ich spürte. Ja, ich hatte Angst. Damals Studentin der Rechtswissenschaften war ich für eine vorübergehende Zeit unsicher, ob das Land, in dem ich geboren wurde, wo ich mich zu Hause fühlte – obwohl ich als Kind immer gefragt wurde, wie lange wir denn noch bleiben – dauerhaft mein Land sein würde und ob ich hier willkommen bin.
Aus der Ferne kam keine Unterstützung. Was hatte ich erwartet? Welche Form von Rückendeckung? Ehrlich, ich weiß es nicht. Nur die Gefühle, die man in sich trägt, trügen nicht. Diese sagen, dass man sich von der Türkei, wenn auch nur emotional, eine Stütze erhofft hätte. Es gibt zahlreiche andere Beispiele, die man aufführen könnte, um dieses „Gefühl vom alleingelassen sein“ zu beschreiben.
Es hilft uns wenig, wenn Erdoğan in Deutschland Stadien füllt, um den in Deutschland lebenden Deutsch-Türken zu sagen, dass sie zuerst türkisch lernen sollen. Immer wenn man das Gefühl hat, die Krankheit „Identitätskrise“ sei geheilt, flammt sie wieder auf. Die Frage, wohin die in Deutschland geborenen Generationen hingehören, ist immer noch aktuell, aktueller als je zuvor! Aktuell Meinung
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Liebe Frau Sütçü ,
danke für ihren Beitrag, der mir hilft, die spezifische Situation der „Alemancis“ besser einordnen zu können.
posteo
Liebe Frau Sütcü,
vielen Dank für diesen sehr tiefgehenden Beitrag! Sie sprechen mir absolut aus der Seele. Ich habe mich in den letzten Wochen auch gefragt, warum soll ich für „die“ auf die Straße gehen? Sie interessieren sich doch auch nicht dafür, dass „wir“ hier in ständiger Angst leben und tagtäglich Ausgrenzung erfahren. Dieses Desinteresse der Türkei regt mich so sehr auf. Man fühlt sich emotional staatenlos- gerade nach Mölln, Sollingen, Sarrazin, NSU und und und. Sie haben Recht, indem Sie schreiben, dass man bei Anschlägen, NSU etc. doch immer still auf die Türkei, auf ein Zeicher der Menschen dort hofft.
Es sollte weniger eine Rolle spielen, ob sich andere mit uns solidarisieren, sondern ob wir uns mit den Zielen der anderen solidarisieren können.
Zunächst einmal muss die Autorin wohl selbst den Respekt vor ehemaligen und heutigen Menschen aus Anatolien lernen … denn ihren Äußerungen ist zu entnehmen, dass sie sich wie viele Andere auch selbst von dieser Gruppe abzugrenzen sucht …
Nur jedoch, wenn wir endlich aufhören nach „Mehrwert und Minderwert Menschen“ zu kategorisieren und wenn wir uns gegen Andere wehren, die uns diese Kategorisierungen aufdrängen wollen, können wir auch selbst in unserer eigenen Identität sicherer , vielfältiger und freier werden … das muss wohl vor allem auch die Autorin des Textes lernen …
Josef Özcan (Diplom Psychologe / Amnesty International)
Wer behauptet, dass ausschleßlich die „Bildungsmittelschicht“ auf die Straßen ging und protestierte?
Wer behauptet, dass der Unterschied zwischen den, wie Sie es nennen, „weißen“ und „schwarzen“ Türken in der Bildung liegt?
Böse Zungen sprechen von den zugewanderten „weißen“ Türken und den sozusagen („schwarzen“) Ureinwohnern.
Auch ich halte nicht viel von diesen Kategorisierungen, die versuchen, die bunte Viefalt der Menschen (auch innerhalb eines Volkes) in Schubladen zu stecken.
Wenn Sie den Leidensdruck der „Bildungsmittelschicht“ (warum auch immer diese in Ihren Augen mehr leiden sollte als die Unteschicht) wegen solch banaler Gründe nicht nachempfinden können, wieso verlangen Sie dann von den in der Türkei lebenden Menschen mehr Empathie und Einsatz für die Almancis? Die leben doch auch nicht hier.
Die Thematisierung in den Medien ist m. E. n. unabdingbar.
Viel wichtiger und symbolträchtiger finde ich außerdem, wenn der Ministerpräsident sich nach dem tragischen Tod von neun Türken / türkischstämmigen Deutschen hier blicken lässt, wie geschehen 2008 in Ludwigshafen.
Es stellt sich die Frage, ob die Almancis ausgegrenzt werden, oder aber man sich selbst ausgrenzt mit der „Wir-Ihr-Denke“?!
Ich denke, die in der Türkei lebenden Türken waren mindestens genuaso entsetzt und traurig über die NSU Opfer wie die Almancis.
Zwwischen den Kulturen fühlte ich mich nie hin- und hergerissen, wie man uns lange Zeit einreden wollte. Im Gegenteil, ich empfand es stets als eine Chance und großes Glück mit (nicht zwischen!) zwei Kulturen aufwachsen zu dürfen. Wenn man die Chance zu nutzen weiss, profitiert man von einem breiteren Horizont, der einem den Perspektivwechsel vereinfacht.
Identität und Heimat sind für mich nicht zwangsweise mit Nationalität und einem Ort verbunden. Viel eher sind es Emotionen, die sinnlich erlebt werden und situativ bedingt überall aufleben können. Identitätskrisen haben m. E. n. alle Pubertierende und die Sehnsucht nach Heimat überkommt auch Menschen ohne Migrationshinterhgrund in ihrem eigenen Land.
„Zunächst einmal muss die Autorin wohl selbst den Respekt vor ehemaligen und heutigen Menschen aus Anatolien lernen … denn ihren Äußerungen ist zu entnehmen, dass sie sich wie viele Andere auch selbst von dieser Gruppe abzugrenzen sucht …
Nur jedoch, wenn wir endlich aufhören nach “Mehrwert und Minderwert Menschen” zu kategorisieren und wenn wir uns gegen Andere wehren, die uns diese Kategorisierungen aufdrängen wollen, können wir auch selbst in unserer eigenen Identität sicherer , vielfältiger und freier werden … das muss wohl vor allem auch die Autorin des Textes lernen …
Josef Özcan (Diplom Psychologe / Amnesty International)“
Ich finde nicht, dass die Autorin Respekt vor Menschen aus Anatolien lernen muss, und ihren Äußerungen ist auch nicht zu entnehmen, dass Sie sich von dieser Gruppe abzugrenzen versucht. Sie beschreibt gängige Kategorisierungen in der Türkei, mehr nicht. Nicht mehr in Texte hinein zu interpretieren, als da geschrieben steht, „das müssen wohl vor allem auch“ Sie „lernen“.
@Songül
Die letzten beiden Absätze gefallen mir.
@aloo masala
Nur die letzten beiden?! Beim nächsten Kommentar gebe ich mir mehr Mühe, versprochen.
@Songül
Das hört sich ja so an, als ob Du Dich wieder für ein Jahr zurückziehen wirst, um an den nächsten Kommentar zu feilen ;)
@aloo masala
Ein Jahr war es nicht, oder?!
Der letzte liegt ca. einen Monat zurück, den wirst Du wohl übersehen haben in Deinem Übereifer ;-)