Porträt einer Istanbulerin

„Die Wasserwerfer sind nicht schlimm, sondern die Angst“

Filmemacherin Ümit Balkanlı aus Istanbul erlebt die Proteste am Taksim-Platz mit Furcht vor einem Binnenkrieg. Als Geschäftsfrau hegt sie gegen Erdoğan zwar keine Antipathie, die aktuelle Situation mache ihr aber Angst.

Von Lena Müssigmann Freitag, 21.06.2013, 8:26 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 24.06.2013, 22:40 Uhr Lesedauer: 6 Minuten  |  

Die Proteste am Taksim-Platz haben Spuren auf dem Körper von Ümit Balkanlı (45) hinterlassen. Sie hat überall blaue Flecken. Und Schmerzen in Lunge und Magen. „Vom Gas“, sagt sie. Sie gehört zur Protestbewegung in Istanbul und kennt seit drei Wochen keinen Alltag mehr. Normalerweise dreht sie mit ihrer eigenen Produktionsfirma Werbefilme für große Firmen. Doch in diesen Tagen ist ihr das plötzlich zuwider. Ihre Firma schläft, weil die Türkei tobt. „Ich arbeite nicht, weil ich keine Steuern bezahlen möchte, mit denen Gas gekauft und auf Menschen geschossen wird, die ich respektiere.“

Stattdessen war Ümit Balkanlı am Montag beim Arzt, ließ sich ihre Verletzungen von der gewaltsamen Räumung am Samstag attestieren, brachte die Bescheinigungen zur türkischen Menschenrechtsgesellschaft. Auch ihre Kleidung vom Wasserwerfereinsatz hat sie dort abgegeben, damit sie in einem Labor auf Chemikalien untersucht werden kann, die Balkanlı im Wasser vermutet und stundenlang auf ihrer Haut brannten. Und Balkanlı erstattete Anzeige an diesem Tag. Anzeige gegen den türkischen Innenminister und den Polizeichef, weil sie zu unrecht bedroht, verletzt und in ihrem Demonstrationsrecht eingeschränkt worden sei.

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Ümit Balkanlı ist in Istanbul geboren, hat aber ihre Lebensjahre sechs bis 18 in Deutschland, in einem Dorf am Rande des Schwarzwalds verbracht. Mit 18 ist sie zum Studium in die Heimat zurückgekehrt und dort geblieben. Sie ist alleinerziehende Mutter einer Tochter.

„Ich bin nie politisch aktiv gewesen und schäme mich jetzt ein bisschen dafür.“ Sie habe sich zwar ab und zu geärgert über die Regierung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan. Über die Verschärfung des Abtreibungsgesetzes zum Beispiel. Oder über den Bau unzähliger Einkaufszentren, in denen die Jugend zum Shoppen auf Pump verleitet werde. Als ihre Landsleute schon gegen die Abholzung von Parks für große Bauprojekte demonstrierten, steckte sie in ihrem beruflichen Hamsterrad: „Ich hab mir gedacht, irgendjemand wird sich schon dagegen wehren, ich hab so viel zu erledigen.“

„Als Geschäftsfrau hege ich keine Antipathie gegen Erdogan“, sagt Ümit Balkanlı. Seit er das Land führt, seien der Euro- und Dollarkurs stabil. Für sie, die sie mit vielen ausländischen Regisseuren zusammenarbeitet, ist es gut, wenn der Kurs zwischen Auftragserteilung und Abrechnung nicht durch die Decke schießt. Die Geschäfte blühen, die Wirtschaft boomt, die Türkei wurde populär bei Investoren.

„Ich bin das erste mal am 1. Juni nach Taksim gegangen, weil ich dachte, dass viele übertreiben mit dem, was sie bei Facebook schreiben. Ich wollte selbst sehen“, sagt sie. Eine Gasmaske hatte sie nicht dabei. „Ich hatte nicht gedacht, dass Erdoğan so hartes Vorgehen noch einmal wagt.“ Sie wurde vom Protest und der Wucht des Polizeieinsatzes überrollt, als plötzlich Gasbomben die Straße entlangflogen und ihre die Luft zum Atmen nahmen. Und mit einem Schlag war sie mittendrin in den Protesten, die das Land spalten.

Dass Leute wie sie als Feinde der Türkei gejagt werden, macht sie betroffen und wütend. Erdoğan versuche, das Land zu spalten. Er spreche von „wir“, seinen Anhängern, und „die“, Parteilosen, Provokateure, Terroristen. „Ich bin kein Terrorist, ich habe seit 13 Jahren meine Firma und zahle brav Steuern“, sagt Ümit Balkanlı. Sie hat den Eindruck, dass Erdoğan einen Binnenkrieg entfachen will. „Ganz linke Nummern“ habe sie selbst beobachtet, etwa wie ein Polizist in Zivil, den sie an seiner Bewaffnung erkannt habe, einen kleinen Sprengsatz geworfen und so zur Eskalation einer Situation beigetragen habe.

„Die Wasserwerfer sind nicht schlimm, sondern die Angst“, sagt Ümit Balkanlı. Die Angst ist die vielleicht stärkste Waffe Erdoğans und greift immer stärker um sich. Von schätzungsweise 7000 Verletzten hat Balkanlı gehört, aber nur 70 seien wie sie für eine Beschwerde zur Menschenrechtsgesellschaft gekommen. Nun sollen sogar all jene, die über Twitter oder Facebook informiert und zur Teilnahme an den Demonstrationen aufgerufen hatten, verfolgt werden. Doch Balkanlı ist mutig. „Mir ist das egal. Wenn Du jetzt Angst zeigst, dann hat er dich.“

Seit die Proteste begonnen haben, informiert sie ihre 2655 Freude auf Facebook über die Lage, und schreibt Bekannten aus aller Welt, unter anderem dem EU-Abgeordneten Michael Theurer (FDP), der die Nachricht wiederum an seine Kollegen streut. Ümit Balkanlı sagt: „Ich hoffe, dass uns der Druck aus dem Ausland hilft.“

Ihre persönlich größte Sorge: Zwei Kameraassistenten, mit denen sie viel zusammenarbeitet, sind spurlos verschwunden. Der Staatsanwalt habe auf ihre Nachfrage gesagt, er habe in den letzten 24 Stunden keine Haftbefehle unterschrieben, deshalb könne es keine Verhafteten geben. Unter den Demonstranten macht die Vermutung die Runde, die Festgenommenen würden in Bussen irgendwo in der Stadt festgehalten, dürften nicht aufs Klo und bekämen nichts zu essen und zu trinken. Was dran ist, kann niemand sagen, aber für unmöglich hält so ein Vorgehen in Taksim niemand mehr. Ein anderes unbestätigtes Gerücht besagt, dass sechs Polizisten seit Beginn der Proteste Selbstmord begangen hätten. Zerrieben zwischen „wir“ und „die“.

Balkanlı sieht das Land geteilt. Da sind einerseits die gutverdienenden, gebildeten Leute, die Demokratie und Freiheit wollen und den Protest begonnen haben. Zu ihnen gehört Balkanlı. „Wir haben Macht durch unseren Kopf“, sagt sie. Viele von ihnen erinnern sich an eine Rede von Erdoğan 1997, in der er ein religiöses Gedicht zitiert hat: „Die Demokratie ist nur der Zug, auf den wir aufsteigen, bis wir am Ziel sind.“ Ümit Balkanlı sagt: „Istanbul ist sehr modern, aber seit 10 Jahren, seit Erdoğan an der Macht ist, haben wir die Befürchtung, dass sich das bald ändern wird.“

Das andere Lager in der Türkei beschreibt sie als „Unterschicht“: Leute, die sich selbst kaum informieren, leicht beeinflussbar und auf Hilfe der Regierung angewiesen sind. „Die haben keine finanzielle Power, deshalb beugen sie sich.“

Wer sich nicht gezielt Informationen sucht, bekommt vom Protest kaum etwas mit. Nach der ersten Protestwoche hat Balkanlı ihre Mutter angerufen, die nur drei Stunden von Istanbul entfernt lebt. „Die hat mir vom Kirschenfest erzählt. Ich fragte: Weißt du, was hier in Istanbul abgeht? Und sie wusste von nichts.“

Der Protest scheint inzwischen etwas stiller geworden zu sein. „Ich werde nicht jeden Tag nach Taksim gehen und mich vergiften lassen“, sagt Ümit Balkanlı. Stattdessen hat sie ihre Kreditkarten storniert, weil der Anbieter Teil eines Konzerns ist, der auch einen Fernsehsender betreibt, in dem die Proteste ignoriert werden. Und der Protest wird immer subtiler: „Die Leute in Taksim erfinden Witze über Erdoğan, ich lach mich manchmal krank.“ Als Erdoğan verbreitete, hinter den Protesten stehe das Ausland, die Lufthansa oder ein Komplott gegen seine Person, antworteten die Demonstranten: Hinter uns haben wir nur unsere Ärsche, wir rufen alle Leute auf: Hebt sie und kommt raus zu uns.

Balkanlı will, dass sich was verändert. „Es gab hier sechs oder sieben Tote. Das kann nicht für die Katz gewesen sein. Das wäre sonst sehr traurig.“ Auch wenn Erdoğan den Sieg über die Demonstranten ausgerufen hat, wird er sich künftig entschiedeneren Bürgern gegenübersehen. In Zukunft würden alle, die in Taksim waren, mehr politische Verantwortung übernehmen, sagt Balkanlı, oder hofft es zumindest. Viele der Demonstranten seien bis vor ein paar Wochen boykottierende Nicht-Wähler gewesen. „Wir sind erwacht, der Protest ist eine Plattform, auf der man sich austauscht: Lasst uns eine Partei gründen, lasst uns unsere Rechte recherchieren.“

Auch Balkanlı hat ihr Hamsterrad verlassen, sie engagiert sich jetzt, will aufklären. Vor wenigen Tagen hat sie ihren Stamm-Friseur besucht, wo seichtes Programm auf Flatscreens die Kundschaft unterhalten soll. „Ich habe ihm gesagt: Hier kommen jeden Tag 300 Frauen rein und lassen sich die Haare föhnen. Mach wenigstens VolksTV an.“ Jetzt läuft zum Waschen, Schneiden, Legen einer der wenigen Kanäle, die live über die Ereignisse im Gezi-Park berichteten. Aktuell Ausland

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  1. Bülend sagt:

    an Ümit hanim. Bitte machen Sie weiter so und blos keine Angst zeigen.

  2. Feriah F. sagt:

    Ich gehöre zu keiner türkischen Partei an, ich lebe hier in Deutschland, aber meine Familie lebt in Istanbul und sind in großer Sorge, wie ich auch.
    Keine Meinungsfreiheit, Einschränkungen, Islamisierung???
    Ministerpräsident Erdogan ist meiner Meinung nach mit Vorsicht zu geniessen. Ein Ministerpräsident, der die Gesellschaft splitten will, Angst unter der Bevölkerung verbreitet und seine Stimmen erkauft, die die ihn wählen werden sehr gut unterstützt und beschützt. Was ist das für ein Ministerpräsident? Und der Staatspräsident Gül schaut nur zu, schämen sollen sie sich, diese möchte gern Gläubigern…
    Sowas darf in der Türkei nicht passieren!
    Ich wünsche mir, meiner Familie, Bekannten, Freunden und für viele anderen in der Türkei ein säkulares und fortschrittliches Land.

  3. Feriah F. sagt:

    Vielen Dank für den tollen Bericht Frau Müssigmann und an die Frau Ümit viel Erfolg und weiter so.