Lehrer wie wir (Teil 3)
Necla: „Mein Bruder hat Glück, dass ich weiß, wie das System funktioniert“
Als ehemalige Schüler haben viele Lehrer mit Migrationshintergrund selbst Diskriminierung erlebt. In der MiGAZIN-Reihe "Lehrer wie wir" kommen sie unzensiert zu Wort und sprechen über ihre Erfahrungen an deutschen Schulen.
Von Jasamin Ulfat-Seddiqzai Dienstag, 18.06.2013, 8:28 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 19.06.2013, 22:08 Uhr Lesedauer: 7 Minuten |
Lehrer 1 mit Migrationshintergrund sind selten. Dabei können sie durch ihre Doppelperspektive eine wichtige Rolle einnehmen, um Diskriminierung an deutschen Schulen zu minimieren. Als ehemalige Schüler mit Migrationshintergrund haben viele von ihnen selbst Diskriminierung erlebt. In dieser Reihe kommen sie unzensiert zu Wort, und sprechen über ihre Erfahrungen mit Diskriminierung an deutschen Schulen. Sie sprechen anonym, damit es im Gespräch keine Tabus gibt. Dabei fallen weder gute noch schlechte Beispiele für den Umgang mit Diversität unter den Tisch. Über allen Gesprächen steht nicht die Frage, wer Schuld am derzeitigen Zustand hat, sondern die Überlegung, wie man ein Problem lösen kann, das die gesamte Gesellschaft zurückhält.
Necla 2, Lehrerin an einer Grundschule.
Necla ist Lehrerin an einer Grundschule. Während im Gymnasium das Selbstverständnis herrscht, nur die Landeselite auszubilden, lernen in der Grundschule Kinder jeglicher Herkunft noch gemeinsam. In der deutschen Bildungsdebatte wird zu häufig über das dreigliedrige Schulsystem gesprochen und damit suggeriert, das jede Entscheidung in diesem Bereich, das Bildungsproblem lösen könne. Die wichtigste Schulform gerät dabei jedoch ins Hintertreffen: die Grundschule.
Hier treffen Kinder zum ersten Mal auf das System Schule und auf die Autoritätsfigur des Lehrers. Sie sind neugierig, nicht vorurteilsbeladen und ihre Bildungsdefizite sind grundsätzlich noch mit geringen Mitteln zu beheben. Die Grundschule ist ein demokratischer Motor unserer Gesellschaft, denn hier sollen idealerweise alle Kinder schichtunabhängig vier Jahre lang gemeinsam lernen. Gleichzeitig kommt der Grundschule eine sehr wichtige Selektionsfunktion zu, denn hier entscheiden Lehrer, wer das nötige Zeug für das Gymnasium hat, wer auf die Real- oder Hauptschule geht und wer eine Förderschule besuchen sollte. Deutschlands Bildungssystem steht vor einer gewaltigen Integrationsaufgabe in Anbetracht der vielen Schüler, deren Eltern aus vielen Ländern der Welt nach Deutschland kommen und auf eine bessere Zukunft durch Bildung für ihre Kinder hoffen. An Neclas Schule ist das nicht anders.
„Gerade in unserer Stadt haben wir viele verschiedene Nationalitäten in den Grundschulklassen“, erzählt sie. „Unsere Lerngruppen sind enorm heterogen, so dass man die Schüler von vielen verschiedenen Ausgangsniveaus abholen muss.” Das sei nicht immer einfach und erfordere viel Einfühlvermögen. Kulturelle Unterschiede zwischen den Schülern gäbe es, diese fielen aber nicht allzu groß ins Gewicht. Vielmehr sei das größte Problem die mangelhafte Sprachkenntnis vieler Schüler, welche man aber durch gezielte Förderung beheben könne.
Anders als ihre Kollegen am Gymnasium, beobachtet Necla nur selten Diskriminierung von Seiten der Lehrer. „Die meisten Grundschulkollegen, die ich kenne, bewerten fair und wohlwollend. Sie stehen auf der Seite der benachteiligten Schüler und sind sich ihrer Verantwortung bewusst.” Dass es trotzdem nicht immer zu idealer Förderung komme, liege am Lehrermangel. Denn tatsächlich sei die Arbeit an der Grundschule in den letzten Jahren schwieriger geworden, da viele Kinder von Haus aus keine richtige Förderung bekämen. „Viele von ihnen haben enorme Lernschwierigkeiten. Wenn beide Eltern arbeiten, werden die Kinder von PC und Fernseher ‚erzogen’. Sie können sich nicht konzentrieren, gehen nicht raus, haben Schwierigkeiten im sozialen Umgang.“
Insbesondere bulgarische und rumänische Kinder würden von ihren Mitschülern mit und ohne Migrationshintergrund gemobbt. „Das schafft ein negatives Lernklima, dem wir als Lehrer aktiv entgegenwirken.” Bei allen Problemen führt Necla immer wieder an, dass Teamteaching – also das Bereitstellen zweier Lehrkräfte pro Klasse – sehr erfolgreich sein kann. Eine Klassengröße von mindestens dreißig Schülern sei für eine einzige Lehrkraft – ganz gleich wie motiviert und gut ausgebildet – oft zu viel. „Natürlich schafft man das trotzdem, aber auf Kosten der leistungsschwachen Schüler. Die Herausforderungen sind heute andere als früher. Das Leistungsniveau vieler Schüler ist relativ niedrig, und leider führt das dazu, dass die Lehrpläne in der Praxis nach unten korrigiert werden.” Das fände auch im Kollegium keiner gut, aber oftmals sei es das einzige Mittel, um wenigstens kleine Erfolge zu erzielen. Langfristig werte es die deutsche Bildung ab.
Ganztagsschulen können helfen, findet Necla, aber nur wenn sie gut organisiert sind. Dabei nütze es nichts, den Kindern nur einen Aufenthaltsort für den Nachmittag und vielleicht ein bisschen Hausaufgabenhilfe zu geben. „Ganztagsschulen müssen gut konzipiert sein, und können dann wahre Wunder bewirken. Dadurch könnten wir Kindern nicht nur die Empfehlung fürs Gymnasium ausstellen, sondern sie tatsächlich auch ausreichend darauf vorbereiten.“ Im Gymnasium sehe es nämlich weniger fair aus, erklärt Necla, und erzählt von ihrem Bruder, der es in einer achten Gymnasialklasse sehr schwer hat. „Seine Leistungen sind gut bis sehr gut, aber einige Lehrer weigern sich, das anzuerkennen. Sie sind mit der Klassengröße überfordert, und wenn mein Bruder mal den Unterricht stört, was bei Kindern in seinem Alter natürlich vorkommt, dann erhält er schlechte Noten. Seine Leistung, die nichts mit den Störungen zu tun hat, wird abgewertet.” Ihre Eltern würden das akzeptieren, weil sie die Schulstrukturen nicht durchblickten und erst einmal dem Lehrer glaubten, der schon wisse, was er da tut. „Mein Bruder hat großes Glück, dass ich als Lehrerin mittlerweile weiß, wie das System funktioniert. Ich kann mich wehren, und ihn gegen unfaire Benotung verteidigen.” Das habe sie bereits öfters gemacht, erzählt sie, und stets mit Erfolg. „Wenn man Menschen hinter sich stehen hat, die das System kennen, ist es in Deutschland wesentlich leichter, Bildungserfolge zu haben, beziehungsweise für seine tatsächliche Leistung bewertet zu werden.”
Das Bildungsgefälle innerhalb der Klassenverbände und zwischen Schulen einer Stadt scheint für viele Lehrer, viele Bildungspolitikerinnen und -politiker ein unlösbares Problem, mit dem man sich höchstens arrangieren kann. „Wir können nicht einfach aufgeben, oder das Problem totschweigen. Aber wir können es lösen. Das ist gar nicht so schwer, wie man denkt“, ist Necla überzeugt. Mehr Lehrer mit DAZ-Kenntnissen 3 und sonderpädagogischer Ausbildung, mehr Teamteaching und niedrigere Schülerzahlen pro Lehrkraft könnten das problematische Bildungsgefälle überbrücken helfen.
Beinahe jeder Mensch wird mit ähnlichen Fähigkeiten geboren. Es braucht kein sogenanntes „Genie“, um in Deutschland aufzusteigen. Um einer geregelten, guten Arbeit nachzugehen reicht die Durchschnittsintelligenz, die beinahe jeder Mensch von Geburt an mitbringt, vollkommen aus. Umso ärgerlicher ist die hohe Zahl der Bildungsverlierer und Schulabbrecher, ein Problem das langfristig die gesamte Gesellschaft zurückhält. Necla ist sich sicher, dass der derzeitige Geburtenrückgang nicht bedeuten kann, dass Lehrerstellen gestrichen werden dürfen. Gerade jetzt, wo das deutsche Schulsystem zahlenmäßig auf eine ideale Lehrer-Schüler-Relation zusteuert, dürfe man nicht an Lehrerstellen sparen.
Die Einführung von Ganztagsschulen sei dringend notwendig, aber dies dürfe nicht wieder eine von politischem Aktivismus geleitete Maßnahme sein, die dann nur halbherzig durchgeführt werde. Lehrer müssen für ihren wichtigen gesellschaftlichen Beitrag wertgeschätzt werden. Schon jetzt werden gerade Grundschullehrer, trotz ihrer wichtigen Aufgaben und hohen Verantwortung in Hinblick auf die Zukunft ihrer Schützlinge, geringfügiger bezahlt als ihre Kollegen an weiterführenden Schulen. Diese Herabsetzung, welche oft bereits während des Studiums besteht, beginnt mit der Fehlannahme, dass die Arbeit mit kleinen Kindern einfach sei. Gängiges Vorurteil ist, dass Grundschullehrer ja nur ein bisschen zählen und korrekt Schreiben können müssten. Dass sie dafür verantwortlich sind, wie Kinder das Lernen lernen und ob sie das auch später gerne tun, fällt viel zu oft unter den Tisch. Grundschullehrer kommt eine der zentralsten Rollen für den Bildungserfolg ganzer Generationen von Schülern zu.
- Ganz bewusst wird in diesem Artikel oft auch das generische Maskulinum benutzt, da es als grammatikalische Form per Definition alle Geschlechter umfasst. Das Einteilen in die dezidiert weibliche, und dezidiert männliche Form ist m.E. überholt, da diese Einteilung Transgenderidentitäten völlig ignoriert.
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Der Artikel ist interessant zu lesen, die erste Fußnote ein Schlag ins Gesicht:: Glauben Sie allen ernstes, transidenten Menschen mit dem generischen Maskulinum einen größeren Gefallen zu tun als mit der Binnen-I-Schreibung? Mir zumindest fällt es schwer, aus der Verwendung des generischen Maskulinums darauf zu schließen, ob die Person, die es verwendet, Trans*Personen dabei mitgedacht hat, und ich würde sogar behaupten, Sie könnten das ebensowenig.
Die Umdefinition des generischen Maskulinums zu „all included“ sind leere Worte, das was es vo der Binnen-I-Schreibung unterscheidet ist einzig und allein, dass es zusätzlich noch Frauen ausschließt.
Wenn Sie dem Anliegen von als transgender identifizierten Personen, sichtbarer zu werden, Rechung tragen wollen, benutzen Sie doch “ *innen“ oder „_innen“, statt uns als Rechtfertigung für generisches Maskulinum zu benutzen. Danke.
treffend , kompetent und engagiert -etwas optimistisch. Danke r.
@Yanne: erst einmal vielen Dank für den Kommentar, und den Hinweis. Als Schlag ins Gesicht sollte die Fußnote nicht verstanden werden, das tut mir leid. Allerdings ist es in Zeitschriften/Zeitungen (egal ob Online oder in Papierform) der besseren Lesbarkeit halber üblich (und zum großen Teil auch vorgeschrieben), das generische Maskulinum zu benutzen. Ich wollte das aber nicht ohne Kommentar tun, und habe entsprechend eine Fußnote dazugesetzt. Damit wollte ich aber niemanden verletzen. In einem wissenschaftlichen Artikel würde das selbstverständlich anders gehandelt. Mit freundlichen Grüßen, Jasamin Ulfat-Seddiqzai