Kısmet

Unvergessliche Momente

Anne ist am Telefon. Sie tut sich stets etwas schwer. Ihr fällt es nicht leicht, indirekt über die Leitung Konversation zu führen. „Wie geht es Ihnen“, fragt sie mich. Vor lauter Aufregung siezt sie mich.

Von Florian Schrodt Mittwoch, 23.01.2013, 8:28 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 24.01.2013, 17:44 Uhr Lesedauer: 7 Minuten  |  

Daher läuft es dann meist darauf hinaus, dass sie mich ausfragt, wie es meiner Mutter, meiner Oma, meiner Tante usw. geht. Das restliche Gespräch dreht sich darum, dass sie meiner Mutter, meiner Oma und meiner Tante usw. Grüße ausrichten lässt. Dann fragt sie noch einmal kurz nach, ob ich dies auch tun werde und beendet die Grußorgie – und meist auch das Gespräch. Und ruft noch einmal an, wenn meine Freundin wieder erreichbar ist. Wenige Minuten später sind wir dann wieder in der (Stand)Leitung und unterhalten uns ausgiebiger. Die zweisprachige Unterhaltung liegt ihr wesentlich besser. Auch Baba hat sich nun von seinem Ehrenplatz auf seinem Sessel aufgerafft, um sich über die aktuelle Nachrichtenlage zu echauffieren oder um einen Monolog über geschichtliche Ereignisse zu halten. Seine liebsten Steckenpferde.

Meine Schwiegereltern haben Redebedarf, wer will es ihnen verübeln, so selten, wie sie vor die Tür kommen. Wir einigen uns also darauf, einen geselligen Familienabend zu verbringen. Zwei Minuten später klingelt erneut das Telefon. Diesmal ist mein Schwager am Apparat. Und seine Frau. Sie führen gerne mal Gespräche über den Lautsprecher, sodass quasi der gesamte Haushalt eingebunden ist. Wir telefonieren eine Stunde und sehen uns eine weitere Stunde später wieder. Die gesellige Familienrunde weitet sich aus.

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Ganz entspannt wollen wir eine Partie spielen und dann den Abend bei Fondue ausklingen lassen. Ich habe das Spiel Okey lieben gelernt. Die grundlegenden Regeln waren kein sonderliches Problem, da es nahezu identisch zu Rommé ist. Könnte man meinen. Denn die Entspannung unserer Spielrunde erreicht ihren Höhepunkt, wenn es um die Regelauslegung geht. Es kursieren diverse Feinheiten bei der Einschätzung des Reglements, so dass der Spielabend in Diskussionen zu enden drohte. Dieses Mal widmen wir uns präventiv frühzeitig den Köstlichkeiten zu.

Ich möchte an dieser Stelle mein Staunen betonen. Hatte ich Fondue noch als Event der Hungerleidenden in Erinnerung, ist man hier schon satt, bevor man den ersten Spieß aus dem Topf nehmen kann. Mein Schwager hat einen amerikanischen Salat gemacht, was ungefähr einen Kartoffelsalt entspricht, dazu Dolma, Poğaça, Gözleme, Kısır und vieles mehr – und sich damit selbst überboten. Das tut aber auch Not. Während sämtliche Familienmitglieder nämlich damit beschäftigt sind, ihren dritten oder vierten Spieß unterzubringen, sitze ich zurückhaltend da und suche eine Lücke für meinen ersten. Mein Schwager beginnt zu lachen. „Nicht leicht mit Türken, oder?“ Schallendes Gelächter am Tisch. Nur Baba bleibt grüblerisch. Er will verreisen (noch immer).

Ihm schmecke es zwar, aber sein Sohn (er meint mich) müsse doch mal die wahren Köstlichkeiten in Istanbul erleben. Dass ich noch nie frische Hamsi gegessen hätte, könne doch nicht sein. Dabei mag ich gar keinen Fisch. Das lässt er nicht gelten. Das könne doch nicht sein. Außerdem gäbe es so viele wundervolle Orte zu erleben. Die Familie gerät ins Schwärmen, wird aber bald wieder auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt. Da Flugzeug als Reisemittel aufgrund bekannter gesundheitlicher Beeinträchtigungen ausscheidet und auch die Strapazen einer Autofahrt zu viel wären (so viel konnten wir ihm bereits ausreden), bliebe doch eine Fahrt mit dem Autozug.

Mein Schwager hatte hierzu einmal recherchiert und damit meinem Schwiegervater eine Idee in den Kopf gepflanzt, die seither wächst und gedeiht. Er nippt an seinen Gläschen Wein. Heute hat er Anne überreden können, sich ein winziges Schlückchen genehmigen zu dürfen. Das kommt nicht oft vor. Aber es scheint seine Ideen zu beflügeln, denn er mag seine Abhandlungen gar nicht beenden. Er müsse schon über die Entwicklung staunen. Als er hierher kam, sei eine Reise zwischen der Türkei und Deutschland (oder ebenumgekehrt) ein abenteuerliches Unterfangen gewesen.

Er erinnere sich an eine Fahrt, als er gerade den TÜV (gemeint ist nicht TÜV Türk) am Wagen habe machen lassen und auf einem Gebirgspass in Österreich, auf den die Familie sich verirrt habe, ein komisches Geräusch gehört habe. „Wenn ich bremste, war es weg“, so Baba. Also fuhr er weiter. Nach einiger Zeit machte er dann doch halt, um die Vorgänge zu überprüfen. Er hatte ja Erfahrungen im Reparieren von PKWs. Aber den Makel hätte wohl selbst ein Anfänger entdeckt. Die Schrauben seiner Räder waren locker, da sie jemand geölt hatte. Nicht auszudenken was hätte passieren können.

Nun ist Baba in seinen Erzählungen gerade warm gelaufen. Anne lauscht mit verschränkten Armen und missmutigem Blick. Manchmal hält sie ihren Mann für einen „komischen Couch“, wie sie sagt. Auf eben dieser sitzt sie, als bei ihr eine für sie eher untypische Stimmung aufkommt. Plötzlich ist auch sie in Plauderstimmung. Sie blickt mich an und spannt mich kurzerhand in ein Parallelgespräch ein.

Zur Abwechslung hat ihr wohl Baba ein Stichwort geliefert, so dass sie nicht umhin kommt, aus ihrer Vergangenheit zu erzählen. Bahn fahren, abenteuerliche Reise – all das lässt sie an ihre erste Odyssee nach Deutschland denken. Drei Tage habe Baba am Bahnhof in Frankfurt gewartet. Allmählich war er voll Sorge, da seine Frau nicht zum angekündigten Zeitpunkt ankam. Sie war unterdessen in München „gestrandet“. Aber fangen wir von vorne an.

Anne hatte (1965 muss es gewesen sein) in Istanbul einen Zug bestiegen, der, man kann es nicht anders sagen, die zusammengepferchte Frauenschar nach Deutschland zu ihren wartenden Männern befördern sollte. In den Großraumabteilen gab es zu wenig Sitz- und Liegeflächen, die Toiletten waren defekt, die Heizungen standen dem im nichts nach. Der Zug hatte schon einige Verspätung eingefahren (wir rechnen in Tagen), nachdem er schon einen Tag zu spät losgefahren war, als er an „einer“ Grenze ankam. Der Wagen wurde angehalten und die Dokumente überprüft.

Aus dem Nichts packte Anne ein Mann am Arm und zerrte sie aus dem Zug. Sie verstand nichts und geriet in Panik. Eine der Frauen aus ihrem Abteil war jedoch der Sprache mächtig und schrie auf ihn ein. Heute weiß Anne, dass der Mann sie einfach verschleppen und sie zu seiner Frau machen wollte. Sie sei hübsch, habe er gesagt, bevor er nach ihr Griff, sagte ihr die Frau. Ihr hat Anne einen glimpflichen Ausgang zu verdanken, denn geistesgegenwärtig holte sie einen der Aufseher, der den Damentross auf der Fahrt begleitete, der gerade noch intervenieren konnte. Annes Augen sind nun weit aufgerissen und sie ist vor Aufregung rot angelaufen, als wäre sie noch mitten im Geschehen. Sie sei doch so schüchtern gewesen, meint sie sich rechtfertigen zu müssen, beinahe noch ein Kind. Die Sorge um ihre eigenen Kinder umtrieb sie obendrein, die sie in der Heimat gelassen hatte. Trotz ihrer Zärtlichkeit hat sie dennoch eine gewisse Disziplin. Sie biss also die Zähne zusammen. Bald darauf kam sie in Deutschland an. Ende gut, alles gut.

Mitnichten! Denn hier wartete weder ein freundlicher Empfang, noch ein konkreter Hinweis, wie es weiter gehen sollte. Mit bellendem Befehlen wurden die Frauen in eine Richtung gescheucht. Schnell sollte es weitergehen, man war schließlich spät. Anne verlor in der Hektik den Anschluss. Alle weg, niemand, den sie ansprechen konnte. Nun stand sie verloren mit ihrem Koffer am Bahnhof in München und wusste nicht wohin. Aus Scham etwas falsch gemacht zu haben, traute sie sich nicht, irgendwen anzusprechen. Der Sprache war sie ohnehin nicht mächtig. Kein Deutsch, keine Hilfe in Sicht. Sie war wie versteinert in einem fremden Land. Bis nach einiger Zeit ein Mann auf sie zuging. Die Worte erschienen ihr wie von Engelszungen gesprochen. Er war Türke. Ein Geschäftsmann in feinem Zwirn. Sie war trotz der wohlklingenden Sprache noch mehr eingeschüchtert. Ob man ihm trauen könnte? Die Sorge war unberechtigt, denn er half ihr, einen Anschluss nach Frankfurt zu bekommen, wo ihr Mann der Verzweiflung nahe auf sie wartete. 48 Jahre später sitzt er mit sorgenvollem Blick auf seinem Platz und betrachtet seine Frau, während seine Hand die ihre tätschelt.

Im Laufe der Erzählung beginnen alle, Anne zu lauschen. Selbst meine Freundin hat diese Geschichte noch nie gehört. Mit einem Schlag ist Babas Miene aufgehellt. Seine Frau hat aufgehört zu reden und er übernimmt sogleich voller Enthusiasmus die Konversation. Er will verreisen. Nach ein paar Sätzen ist er außer Atem, hält inne, tätschelt erneut Annes Hand und sinkt zufrieden auf seinen Sessel zurück. Wir müssen aufbrechen. Anne erkundigt sich noch schnell nach dem Wohlergehen all meiner Familienmitglieder, bevor sie noch Grüße mitschickt. „Grüß dich des“, sagt sie in ihrer umwerfend ureigenen Art. Baba schickt ein „Ich lasse grüßen“ hinterher. Zwei Unikate, die man lieben muss. Die beiden sind so unterschiedlich und doch gleich. Seit über 50 Jahren eine Symbiose. Voll Respekt, Verantwortung und Liebe. Allah onları korusun! Aktuell Meinung

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  1. Feriah F. sagt:

    Hallo Herr Schrodt, wiedermal eine sehr interessante Geschichte. Man kann sich gar nicht vorstellen wie schlimm und schwer es damals für viele Ausländer bzw für ihre Schwiegereltern gewesen sein musste . Auch diese Zeiten dürfen wir hier im Lande nicht vergessen. Dafür braucht man viel Mut, Kraft und Hoffnung. Und dies alles hat ihre türkische Familie.
    Die Geschichte mit dem Fondue sehr amüsant :-) da wird es einem nicht langweilig.
    Ich wünsche für ihren Baba, das sein Traum ( Reise) mit der ganzen Familie
    in Erfüllung geht. Insallah
    Ich freue mich auf ihre nächsten Geschichten.