Ismail Ertuğs Meinung

Die Türkei auf dem Weg nach Europa – eine lange aber stetige Reise

Regelmäßig veröffentlicht das Europäische Parlament einen Fortschrittsbericht über den Reformprozess der Türkei auf ihrem Weg in die EU. So auch Anfang diesen Jahres. EU-Parlamentarier Ismail Ertuğ kommentiert:

Von Ismail Ertuğ Dienstag, 22.01.2013, 8:29 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 24.01.2013, 17:44 Uhr Lesedauer: 4 Minuten  |  

Im Jahr 1959 bekundete die Türkei erstmals ihr Interesse an einer Mitgliedschaft in der damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. 46 Jahre vergingen, bis sie den Kandidatenstatus für die Aufnahme in die EU erhalten hat. Seit dem wird im Europäischen Parlament jedes Jahr ein Entschließungsantrag verabschiedet, in dem bereits erfolgte Reformen in der Türkei gewürdigt, gleichzeitig aber auch auf weiterhin bestehenden Nachholbedarf verwiesen wird. Seit sechs Jahren ist die niederländische Abgeordnete Ria Oomen-Ruijten Berichterstatterin. Sie ist Mitglied der konservativen Fraktion im Europaparlament.

Eine wirtschaftlich starke Türkei als wichtiger strategischer Partner
Im diesjährigen Bericht wird die strategische Rolle der Türkei in der Außen- und Sicherheitspolitik der EU unterstrichen. Besonders im Hinblick auf Stabilität, Sicherheit und Demokratie im Nahen Osten wird die wichtige Rolle der Türkei als Partner der EU betont. Insbesondere wird die türkische Syrien-Politik unterstützt; die Türkei versorgt über hunderttausend Flüchtlinge innerhalb ihrer Landesgrenzen.

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Die Berichterstatterin bescheinigt der Türkei eine gesunde wirtschaftliche Entwicklung und weist darauf hin, dass die EU der größte Handelspartner der Türkei und die Türkei umgekehrt der siebtgrößte Handelspartner der EU ist. Das letztjährige Handelsvolumen umfasste demnach 120 Milliarden Euro. In diesem Zusammenhang wird die einseitige Visumpflicht für türkische Geschäftsleute und Touristen kritisiert. Ferner wird die strategische Rolle der Türkei zur Diversifizierung der Energiewege nach Europa betont; folglich wird der Rat aufgefordert, das Verhandlungskapitel zu Energiefragen mit der Türkei zu öffnen.

Die Zypernfrage – das ewige Hindernis
Kritisiert wird die Nichtumsetzung des Ankara-Protokolls, wonach die Türkei ihre Flug- und Seehäfen für zypriotische Flugzeuge und Schiffe öffnen muss. Die Nichtanerkennung Zyperns durch die Türkei beeinträchtigt auch die Zusammenarbeit der EU mit der NATO, da Ankara jegliche Vorhaben blockiert, in denen Zypern involviert ist. Gleichzeitig blockiert Zypern die Aufnahme der Türkei in die Europäische Verteidigungsagentur.

Oomen-Ruijten fordert in der Zypernfrage beide Bevölkerungsgruppen der Insel, also Griechen und Türken auf, sich um eine Lösung des langwierigen Konflikts unter UN-Aufsicht zu bemühen. Zudem verlangt die Berichterstatterin von der Türkei, dass sie ihre Streitkräfte aus Zypern abzieht. Den zypriotischen Türken solle ein fairer und freier Handel ermöglicht werden.

Die neue Verfassung muss schnell umgesetzt werden
Betont wird die Notwendigkeit einer neuen Verfassung, welche die Gewaltenteilung im Staat gewährleisten und die Grundrechte unter Schutz stellen soll. In diesem Zusammenhang wird auch auf die Dringlichkeit des vierten Justizreformpaketes verwiesen, womit Fragen zur Presse- und Meinungsfreiheit und deren Einschränkung durch Antiterrorgesetze endgültig adressiert werden sollen.

Scharf verurteilt werden die Gewalttaten der PKK-Terrororganisation. Ferner wird eine bessere Zusammenarbeit zwischen Europol und Eurojust mit den türkischen Behörden gefordert, um die Finanzmittel der Terrororganisation aus europäischen Ländern zu stoppen. Um den langjährigen Kampf zu beenden, wird eine politische Lösung der Kurdenfrage angeregt, die aber nur durch eine offene und wahrhaft demokratische Debatte möglich sein kann.

EU-Reformen sind wichtig für die Türkei selbst
Zum Berichtsentwurf lässt sich sagen, dass er ausgewogen und objektiv formuliert ist, auf wichtige Entwicklungen in der Türkei eingeht und auf Reformen verweist, die die Türkei umsetzen sollte. Diese sind nicht nur wichtig, um das Ziel der EU-Mitgliedschaft zu erreichen, sondern umso wichtiger für die Menschen in der Türkei selbst. Unabhängig davon, ob die Türkei EU-Mitglied wird oder nicht, steht die Etablierung einer wahrhaft demokratischen, modernen, politisch und wirtschaftlich stabilen Türkei im Vordergrund. Das wäre zweifellos auch im Interesse Europas.

Der Berichtsentwurf kann von den türkischen Verantwortlichen als eine Art Gebrauchsanweisung für die nächsten Reformschritte angesehen werden, aber man sollte sich darüber im Klaren sein, dass der endgültige Parlamentsbericht ein politischer Bericht sein wird. Dem ersten Entwurf folgen politische Debatten, zuerst im Ausschuss für Auswärtige Angelegenheiten und anschließend im Plenum. Jede Fraktion benennt einen Schattenberichterstatter, der wiederum mit der Berichterstatterin über die Änderungsanträge berät. Letztes Jahr wurden über 900 Änderungsanträge eingereicht.

Der Türkei-Bericht darf nicht politisiert werden
Das Thema Türkei lässt jedes Jahr die Emotionen im Parlament aufkochen. Erfahrungsgemäß wird das Thema stark politisiert, vor allem rechts-populistische Politiker versuchen den Prozess zu torpedieren. Ein unausgewogener Bericht wird in der Türkei nicht ernst genommen und verliert dadurch seine Wirkungskraft. Der Türkeibericht soll Fortschritte in der Türkei würdigen und zu weiteren Reformen ermutigen. Nur mit einem positiven Signal aus Europa können die Verantwortlichen die Menschen in der Türkei für Reformen gewinnen, wo doch die Popularitätswerte der EU derzeit in den Keller gerutscht sind.

Die Türkei muss ihre Hausaufgaben besser machen
Auf Mängel muss sachlich und nüchtern hingewiesen werden. Die Türkei muss im Hinblick auf viele Fragen ihre Hausaufgaben besser machen. Zu allererst muss durch eine weitere Justizreform die Meinungsfreiheit unter Garantie gestellt werden, damit eine wahrhaft demokratische Debatte über verschiedene Themen geführt werden kann. Anschließend müssen durch eine umfassende Verfassungsreform langwierige Probleme wie z.B. die Kurdenfrage, die Kopftuchdebatte, die Besitzrechte von christlichen Gemeinden und der Status der Alewiten angegangen werden. Hierbei muss die Regierung ihren einstigen Reformeifer wiederbeleben und ihr Wahlversprechen von 2012 in die Tat umsetzen. Aktuell Meinung

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