Buchtipp zum Wochenende

Interventionen gegen die deutsche „Beschneidungsdebatte“

Kaum eine Debatte der letzten Jahre wurde in der Intensität geführt, wie die zur Vorhautbeschneidung (Zirkumzision). Dieses Buch interveniert. Das MiGAZIN bringt einen Exklusivauszug aus dem Kapitel „Integration und Assimilation“.

Freitag, 07.12.2012, 8:24 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 11.12.2012, 6:51 Uhr Lesedauer: 3 Minuten  |  

Die Beschneidungsdebatte bedeutet eine neue Eskalationsebene des Diskurses der »Integration«, der in der Bundesrepublik nach den Pogromen der frühen 1990er Jahre dominant zu werden begann und mit den geistigen und faktischen Brandstifter_innen von damals und heute die Prämisse teilt, dass die Realität von Migration in Deutschland nichts zu suchen habe.

Ohne uns an einer Hierarchisierung von Menschenfeindlichkeit beteiligen oder den allgemein zunehmenden Rassismus gegen Schwarze und People of Color (vgl. das Koblenzer Verwaltungsgerichtsurteil zum »Racial Profiling«) verharmlosen zu wollen, stellen wir fest, dass im Zentrum dieses Diskurses die im weitesten Sinn muslimischen Migrant_innen stehen, wie sich schon 2010 im überwältigenden Publikumserfolg zeigte, den das Pamphlet des Ex-Bundesbankers und SPD-Politikers Thilo Sarrazin zum 20. Jahrestag der deutschen Vereinigung erfuhr.

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Durch den Gegenstand der aktuellen Debatte sind jedoch auch die in Deutschland lebenden Jüd_innen, die Sarrazin noch aufgrund ihrer angeblich höheren Intelligenz gegen die Einwander_innen muslimischer Provenienz auszuspielen versucht hatte, erstmals seit dem Ende des Nazifaschismus wieder zum Ziel offener Anfeindung durch die »Mitte der Gesellschaft« geworden. In der breiten Ablehnung der Knabenbeschneidung durch die mehrheitsdeutsche Öffentlichkeit verschmelzen Elemente des Antimuslimischen Rassismus und des stets latent gebliebenen Antisemitismus.

Der gemeinsame Ursprung beider in der europäischen Geschichte des späten 15. Jahrhunderts (vgl. Çetin 2012: 28f) blieb in der Bundesrepublik jahrzehntelang hinter der offiziellen Rhetorik von den »jüdisch-christlichen Wurzeln unserer abendländischen Kultur« verborgen. Geschickt verband solches Pathos die »Aufarbeitung« der Schoah mit den gemeinsamen global-strategischen Interessen »des Westens«. Doch nun, da es nicht um die von der Bundeskanzlerin zur Staatsraison erklärte Sicherheit Israels geht, sondern um einen Angriff auf spezifisch jüdisches wie muslimisches Leben hierzulande, erweist sich der Bindestrich als die geschichtsvergessene »abstruse Konstruktion«, die Almut Shulamith Bruckstein Çoruh (2010) schon auf dem Höhepunkt des Sarrazin-Hypes zurückwies.

Anders als ein biologistischer Rassismus, der die unterstellte Inkompatibilität der Migrant_innen für erblich erklärt, hält ihnen das nirgendwo klar ausformulierte Konzept der Integration, deren »Gelingen« folglich allein vom alltagsrassistischen Konsens der Mehrheitsgesellschaft abhängt (vgl. Petzen 2011: 31), ihre »Defizite« als überwindbar vor. Die Integration schließt damit an die von Daniel Boyarin ironisch als »Zivilisierungsmission« beschriebene Assimilation von Jüd_innen im Deutschland des 19. und frühen 20. Jahrhunderts an.

Schon sie verstand sich als »ein Fortschreiten ›von einem primitiveren Stadium der Entwicklung, charakterisiert durch religiöse Identität, zu einer höheren Stufe der Entwicklung, charakterisiert durch die vorhandene Identifikation mit den kulturellen Qualitäten der deutschen Gemeinschaft‹« (Boyarin 2002, zitiert nach Petzen 2011: 30). Bei Holm Putzke (2008) liest sich das als Erziehungsauftrag an den Rechtsstaat gegenüber den jüdischen und im weitesten Sinn muslimischen Gemeinschaften, wenn er die juristische Anerkennung der Knabenbeschneidung als »Identifikationsmittel« verwirft. Zwar sei »unbestreitbar, dass […] es in der Regel sogar stigmatisierend ist, in den die Beschneidung praktizierenden Sozialgemeinschaften nicht beschnitten zu sein«. Doch würde das ja nicht mehr zutreffen, »wenn sich das Milieu bei Beachtung des Verbots automatisch änderte. Denn je mehr Jungen nicht beschnitten werden, umso weniger wird dieser Zustand Anlass für Stigmatisierung sein.«

In seiner Rezension einer Doktorarbeit, an der er ansonsten kein gutes Haar lässt, stimmt er dem Autor ausdrücklich zu, dass einem Kind durch die Zirkumzision unzulässigerweise »›das irreversible Merkmal eines Bekenntnisses aufgezwungen‹« werde. (Putzke 2009: 185) Im selben Aufsatz besteht er indes darauf, dass auch wenn »Straftaten deutscher Staatsbürger mit Migrationshintergrund statistisch nicht ausdrücklich als solche ausgewiesen und separat erfasst werden«, ihr »Verhalten noch lange nicht ›unüberprüfbar‹« sei (ebd. 179). Die Migrant_innen, denen die Gruppenidentifikation als kulturell-religiöse verwehrt sein soll, unterliegen ihr also im Sinn einer rassistischen Fremdzuschreibung weiterhin: Nichts anderes war die historische Erfahrung der jüdischen Assimilation in Deutschland. Aktuell Feuilleton

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