Religiosität

Der Alltag in einer modernen Gesellschaft

Laut Studien spielt für 85 % der Muslime in Deutschland ihre Religion im Alltag eine große Rolle. Doch wie muss man sich das vorstellen? Welche Rolle nimmt die Religion ein und mit welchen Auswirkungen?

Von Donnerstag, 29.11.2012, 8:28 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 03.05.2016, 17:03 Uhr Lesedauer: 5 Minuten  |  

Ungeachtet davon, was eigentlich mit Religion und Religiosität – zu denen es keine einheitliche Definition gibt – gemeint ist, findet man sie überall und immer. Ja, Religion ist überall präsent. Es bestimmt unseren Alltag viel mehr als wir öfters wahrnehmen. Da Religion gerade überall ist, nehmen wir es öfters eben nicht wahr oder erkennen es nicht als Religion.

So ist Religion alltäglicher Bestandteil unseres Lebens. Manchmal sind es die bekannten Symbole – Kreuz, Kippa, Kopftuch (ich nenne sie die drei Ks) – und manchmal nur Riten, Bräuche oder Denkweisen, die ihren Ursprung in der Religion haben. Beispielsweise gibt es viele Aberglauben, die ihren Ursprung in einer bestimmten Form in einer Religion haben. Wir finden Religion aber auch in Kunst, Musik, Literatur, Kleidung, Hochzeitsriten, Feiertage, Geburt, Sprichwörtern, Begrüßungsformen, Glaube an Macht und Mächte, Glaube an Esoterik, neue „moderne“ spirituelle Lebensweisen, in Form von Menschen, ja sogar in Form von Gebäuden oder als Straßennamen. Auch die Institution Ehe ist ein religiöser Akt, dem sich viele gar nicht bewusst sind. Zu guter Letzt begegnet uns die Frage der Religion im Tod auf Beerdigungen.

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Alles, was ich gerade aufgezählt habe, gehört zur Kultur. Religion prägt also die Kultur einer jeden Gesellschaft. Sie formt sie und gibt ihnen einen Sinn. Vor allem bei der Entstehung einer Kultur, bei Moral und Ethik spielt Religion eine große Rolle. Erst Religion gab den Menschen ein Gemeinschaftsprinzip. So konnten Gesellschaften, die auf das Miteinander und die Fürsorge aufbauen, entstehen.

Wenn wir Religion und Religiosität im Blick auf den Islam betrachten wollen, sollten wir erst einmal auf den Begriff schauen, der dafür aus dem Koran übersetzt wird. Din lautet der Begriff, den wir als Religion übersetzen. Etymologisch bedeutet Din jedoch Verpflichtung, Richtung. Religion kommt aus dem römischen und bedeutet eine Rückbindung des Menschen zu göttlichen Wesen. Es ist also keine genaue Übersetzung.

Bleiben wir also bei Verpflichtung und Richtung. Welche Verpflichtung ist es aber, die der Muslim hier eingeht? Und welcher Richtung folgt er? Wenn Islam „Hingabe (an den einen Gott)“ bedeutet, dann ist es die Verpflichtung, dass der Muslim ein gottgewolltes, gottergebenes Leben führt und seine Handlungen dementsprechend richtet. Er handelt dann so, wie er denkt, dass Gott mit ihm zufrieden sein würde. Was passiert also dann? Religion wird zu einer inneren Einstellung zur Welt und alles in ihr und man orientiert sich dabei nach der Ewigkeit. Dann wird jede Haltung eines Muslims zu Din. Mit anderen Worten das ganze Leben wird zu Din.

Daher umfasst der Islam alle Lebensbereiche eines Menschen. Es gibt keine Themen oder Bereiche, die nicht “religiös“ wären. Also hat alles einen religiösen (theologischen) Kontext. Die strikte Trennung zwischen Weltlichem und Religiösem ist im Islam nicht bekannt.

Daher ist Religion im Islam nicht eingesperrt in Gotteshäuser. Es gibt es keine Trennung zwischen religiös und nicht religiös. Jeder Akt ist im Islam quasi ein religiöser Akt, entweder im Sinne (also positiv) Gottes oder nicht. Daher schaut Gott nicht nur auf Gottesdienste (ibadet) oder in die Moschee, sondern auf jede einzelne Sekunde im Alltag. So handelt der Muslim also in jeder Sekunde religiös, (vielleicht jedoch nicht im alltagssprachlich verwendeten Sinn).

Wir Muslime gehen davon aus, dass das Gebet die Moral und Ethik verbessert. Das heißt, das Gebet hat einen Einfluss auf den Charakter, der sich ja im Alltag widerspiegelt. In einem Hadith sagte der Prophet: „Religion ist gute Moral“ (Deylemi). Und es gibt zahlreiche Ahadith mit der Bedeutung „Dessen Glaube ist am schönsten, wessen Moral am schönsten ist“. Moral und Alltag sind unzertrennbar, denn Moral ist erst im Alltag ersichtlich. Wenn wir also Moral und Ethik im Alltag begegnen, begegnen wir eigentlich auch immer Religion.

Die Moral im Alltag wird uns von Gott selbst überliefert. Denn der Schöpfer kennt seine Schöpfung am besten. Genauso wie ein Softwareprogrammierer alle Ecken und Kanten seiner Software kennt, weißt Gott, was in seiner Schöpfung für uns zum Vorteil ist und was nicht. Er bietet uns hierfür – wie bei Computerspielen – eine Komplettlösung an: Das ist der Koran. Der Koran ist die Komplettlösung des Alltags.

Als Aischa, die Frau des Propheten Muhammed, eines Tages befragt wird, wie der Prophet gelebt hat, antwortet sie: „Habt ihr nie den Koran gelesen? Seine Moral war die Moral des Korans.“ Das heißt, für den Muslim sind Werte, Moral, Ethik, Alltagspraxis aus dem Koran herauslesbar. Daher orientieren wir uns im Alltag an dieser Moral und versuchen dadurch ein gottgefälliges Leben zu führen.

Die Frage, ob Religionen im Alltag im Wege stehen, erübrigt sich dadurch. Denn in diesem Sinne verstanden, fördert Religion im Alltag die Notwendigkeiten und Grundprinzipien einer menschlichen Gesellschaft, wie Hilfsbereitschaft, Fürsorge, Miteinander, Füreinander, Gerechtigkeit, Freiheit, Liebe, Toleranz, Akzeptanz und Dialog. Denn all dies sind Anzeichen für ein gottgefälliges Leben.

Schwieriger wird es, wenn man von Religiosität spricht. Jeder versteht unter Religiosität etwas anderes. Wenn man fragt, ob man sich selbst als religiös einstuft, wird dies jeder nach seinen im Kopf befindlichen Kriterien tun. Denn ist gibt keine Indizien oder Kriterien, um zu bestimmen, wie religiös man ist. Nur Gott kennt die Herzen. Für den einen ist man religiös, wenn man 5mal am Tag betet, der andere wird sich auf das Freitagsgebet beschränken und wieder andere werden es an Kleidungsmerkmalen ausmachen. Viele erkennen ihre Religiosität erst, wenn sie mit ihrer Religion konfrontiert werden.

Laut einer Studie geben 85% der Muslime in Deutschland an, dass ihre Religion in ihrem Alltag eine große Rolle spielt. Was dies für eine Rolle ist, ist natürlich immer unterschiedlich. Wichtig ist, dass diese Personen es selbst so einschätzen und sagen, dass es für sie persönlich wichtig ist.

Auch die kleinsten Dinge könnten dabei zu einer „Rolle im Alltag“ werden. Wenn Muslime z.B. am Tag mehrmals, auch außerhalb der Gebete den Korankapitel „Fatiha“ lesen, wenn sie vor Beginn einer jeden Tat „Im Namen Gottes, des Barmherzigen, des Allerbarmers“ sagen oder wenn sie in ihren alltäglichen Redewendungen und im Sprechen bewusst oder unbewusst Wörter mit Allah in den Mund nehmen – wie z.B. inşallah, maşallah, barakallah, hamdulillah, subhanallah – so ist Allah mitten im Alltag der Muslime. Aktuell Meinung

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  1. Kolcek sagt:

    @Wolfram Obermanns
    Cengiz K ist ein Trittbrettfahrer des Kommentarbereichs. Er versucht nicht ernsthaft auf Argumentationen einzugehen, sondern versucht meist nur sich über andere lustig zu machen oder deren Argumente ins lächerliche zu ziehen ohne selbst echte Argumente hervorzubringen. Er vertritt die Auffassung: „Es soll nicht sein was nicht sein darf“ und „Ich mach mir die Welt, wie sie mir gefällt“.

    Dagegen haben Menschen die ernsthaft diskutieren wollen keine Chance.

  2. Die Irrelevanz der Moral

    „Betrachten wir uns die gegenwärtige Moral etwas genauer, so erkennen wir, dass es sich um eine doppelte oder sogar eine dreifache Moral handelt. Die in den Staatsgesetzen und in der öffentlichen Meinung verankerte Moral soll verhindern, dass der Einzelmensch in eigennütziger Weise gegen den Nutzen seiner Mitmenschen und damit gegen den Gemeinnutzen verstößt, z. B. durch Diebstahl und Betrug. Aber sie erreicht diesen Zweck nur in einem verhältnismäßig kleinen Teilbereich der menschlichen Gesellschaft, nämlich nur für die Menschengruppe der wirtschaftlich Schwachen, also der Arbeitenden. Der wirtschaftlich Starke, also der Kapitalist, hat ja die moralisch verwerflichen, d. h. durch die Gesetze verbotenen und durch die öffentliche Meinung verfemten Mittel nicht nötig zur Verwirklichung des Eigennutzes mit Schädigung der Mitmenschen und des Gemeinwohles und zwar im allergrößten und praktisch uneingeschränkten Ausmaß.
    Neben dieser offenkundig doppelten Moral gibt es aber noch eine dritte, von den wenigsten Menschen durchschaute Seite, bedingt durch das heimlich schlechte Gewissen der Vertreter und Nutznießer dieser verlogenen Moral. Hier handelt es sich freilich nicht um die Großkapitalisten, die ja ihr Gewissen, wenn sie je eines besaßen, längst abgetötet haben, sondern um die breite Schicht der bürgerlichen Bevölkerung… Sie vertreten die kapitalistisch verzerrte Moral, die ihre wirtschaftlichen Vorteile gegenüber den völlig mittellosen, ausgebeuteten, arbeitenden oder arbeitslosen Bevölkerungsschichten sichert. …Den Gegensatz zwischen Gemeinnutz und Eigennutz halten sie für eine zwar betrübliche, aber selbstverständliche und unabänderliche Tatsache.
    …Der geschilderten, innerlich so verlogenen Moral mit all ihren, hier nur kurz angedeuteten schädlichen Auswirkungen stellen wir nun die natürliche und sinnvolle Ordnung entgegen, welche die Natürliche Wirtschaftsordnung nicht nur für die wirtschaftlichen Beziehungen der Menschen untereinander darstellt, sondern auch für den Aufbau der Gesellschaft und darüber hinaus jeder menschlichen Gemeinschaft nahe legt.“

    Dr. Ernst Winkler (Theorie der Natürlichen Wirtschaftsordnung, 1952)

    Wer nicht weiß, was Gerechtigkeit ist, darf auch nicht wissen, was Ungerechtigkeit ist, um eine Existenz in „dieser Welt“ (zivilisatorisches Mittelalter) ertragen zu können. Zu diesem Zweck gibt es die Religion, die so erfolgreich war, dass sie die systemische Ungerechtigkeit der Erbsünde bis heute aus dem allgemeinen Begriffsvermögen der halbwegs zivilisierten Menschheit ausblenden konnte, während das Wissen seit langer Zeit zur Verfügung steht, um diese „Mutter aller Zivilisationsprobleme“ endgültig zu eliminieren:

    […]