Niedersachsen-Studie

Junge Migranten fühlen sich trotz deutschem Pass als Ausländer

Türkische, russische und polnische Jugendliche fühlen sich in erheblichem Umfang ausgegrenzt und trotz der deutschen Staatsbürgerschaft als Ausländer. Ursache: Die Mehrheitsgesellschaft hat ein Problem, sie als zugehörig einzuordnen.

Mittwoch, 18.07.2012, 8:30 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 08.01.2020, 15:45 Uhr Lesedauer: 3 Minuten  |  

Obwohl über die Hälfte der Befragten mit türkischem Migrationshintergrund die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen, fühlen sie sich mehrheitlich (51 Prozent) als „Ausländer“. Bei Jugendlichen mit russischem oder polnischem Migrationshintergrund und deutscher Staatsangehörigkeit lag der Wert mit 38 Prozent deutlich niedriger. Beiden Gruppen ist jedoch gemeinsam, dass sie sich in erheblichem Umfang ausgegrenzt fühlen.

„Dabei mussten wir feststellen, dass Jugendliche mit Migrationshintergrund sich in hohem Maße mit Ausgrenzung und Diskriminierung konfrontiert sehen und dies als eine deutliche Belastung empfinden“, erklärt Prof. Dr. Rudolf Leiprecht, Pädagoge an der Universität Oldenburg und Initiator der am Montag vorgestellten Studie „Quantitative Erhebung zur Lebenssituation und Lebensgestaltung von männlichen Jugendlichen mit Migrationsgeschichte in Niedersachsen“.

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Mehrheitsgesellschaft hat ein Problem
„Die Selbstzuordnung als ,Ausländer‘ in beiden Gruppen und ihre Diskriminierungserfahrungen stellen eine gewaltige Herausforderung für die Gesellschaft dar. Die Ursachen liegen vor allem darin, dass die sogenannte Mehrheitsgesellschaft Probleme hat, Jugendliche mit Migrationshintergrund als selbstverständlich zugehörig einzuordnen“, so Leiprecht.

Das Bildungsniveau der Befragten lag im Haupt- und Realschulbereich. Die Unterscheidung nach Migrationshintergründen entspreche einer groben Einteilung, da es sich in Wirklichkeit keineswegs um homogene Gruppen handele, betont Leiprecht. „Für die einzelnen Jugendlichen ist der Migrationshintergrund oft nicht die bedeutsamste Unterscheidungskategorie und meistens nicht der einzig wichtige Faktor in ihrem Leben. Dennoch sind sie sich der sozialen Zuordnung bewusst, die so oder so ähnlich – oft mit Hilfe von Bezeichnungen wie ‚Ausländer‘, ‚Türken‘ oder ‚Russen‘ – in der Gesellschaft vorgenommen werden und die eine (negative) Wirkung entfalten.“

700 Jugendliche befragt
„Die Lebenssituation von Migranten zu erforschen, gibt uns wichtige Informationen für einen besseren Zusammenhalt der Gesellschaft. Die Untersuchung zeigt mögliche Ansatzpunkte für die Integrationsarbeit vor Ort und gibt dafür wertvolle Impulse“, stellt die niedersächsische Wissenschaftsministerin, Johanna Wanka (CDU), heraus. Ihr Haus förderte die gerade abgeschlossene Untersuchung.

Darin wurden die Erfahrungen und Sichtweisen von über 700 männlichen Jugendlichen beziehungsweise jungen Männern im Alter von 15 bis 21 Jahren untersucht. Befragt wurden drei Gruppen: männliche Jugendliche mit türkischem, mit polnischem oder russischem und ohne Migrationshintergrund.

Türken sanfter
Verglichen haben die Oldenburger Wissenschaftler ihre Ergebnisse auch mit einer Studie von Ursula Boos-Nünning und Yasemin Karakaşoğlu über junge Frauen mit Migrationshintergrund. Dabei zeigte sich, dass junge Männer und junge Frauen mit Migrationshintergrund unterschiedliche Erfahrungen machen: Die männlichen Jugendlichen erleben eineinhalb Mal häufiger diskriminierende Situationen als weibliche. „Offenbar wirken sich in den Erfahrungen der Jugendlichen stereotype Negativ-Zuschreibungen aus – bedrohlich, gefährlich, gewalttätig. Negativ-Zuschreibungen, die in besonderer Weise auf männliche Jugendliche gerichtet sind“, erläutert Leiprecht.

Angesichts dieser Zuschreibungen untersuchten die Wissenschaftler außerdem das Selbstbild der Jugendlichen – und zwar mit Blick auf Männlichkeit. Überraschendes Resultat: Das Bild „sanfter Männlichkeit“ traf bei Jugendlichen mit türkischem Hintergrund im Durchschnitt auf hohe Zustimmung. Diejenigen mit russischem bzw. polnischem lehnten es jedoch genauso ab wie Jugendliche ohne Migrationshintergrund. Wird nach der traditionellen Männlichkeit in der Familie gefragt, so ergeben sich allerdings teilweise ganz andere Ergebnisse: Hier sind es stets die Jugendlichen ohne Migrationshintergrund, die sich durchschnittlich weniger hart und weniger traditionell zeigten. Insgesamt macht die Untersuchung deutlich, dass die Männlichkeitskonstruktionen komplexer und uneinheitlicher sind, als dies gemeinhin angenommen wird.

Aufmerksamkeit gegenüber Diskriminierung und Ausgrenzung geboten
„Für die Arbeit in pädagogischen Handlungsfeldern bedeutet dies, dass vor schnellen Einordnungen und Fixierungen gewarnt werden muss: Nicht wenige Jugendliche zeigen Denkmuster und Sichtweisen, die recht widersprüchlich sind“, so Leiprecht. Es komme darauf an, die „positive Seite“ bei der pädagogischen Arbeit zu unterstützen. Gleichzeitig sei eine größere Aufmerksamkeit gegenüber Diskriminierung und Ausgrenzung dringend geboten. (sb) Gesellschaft Leitartikel Studien

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  1. HansPeterMüller sagt:

    Für türkischstämmigen scheinen besondere Regeln zu gelten um als „Zugehörig“ zu gelten.

    Viele Erwähnen, dass Deutschkenntnisse im muttersprachlichen Niveau und eine sehr gute Ausbildung nötig seien, um nicht als Ausländer in Deutschland zu gelten. Aber leider so einfach ist es nicht. Man braucht dazu ein anderes Aussehen und auch noch einen anderen Namen.

    Ich fühle mich immer verpflichtet, mich zu beweisen, dass ich in Deutschland kein Ausländer bin, obwohl ich in der Türkei aufgewachen, in Deutschland geboren, die deutsche Staatsangehörigkeit seit meinem Geburt besitze und erst seit 2004 wieder in Deutschland bin.
    Als ich in Deutschland ankam, sprach ich außer „hallo“ und Tschüß“ kein Wort Deutsch.

    Nach einem sehr guten Bachelor-Studium und Master-Studium fühle ich mich immer noch verpflichtet mich zu beweisen, dass ich kein Ausländer in Deutschland bin.

    Egal was ich alles gemacht habe, um hier zu gehören, hat leider nicht geklappt. Wenn ich in Straßenbahn sitze, fragt mich der Kontrolleur immer noch nach Pass und nicht nach meinem Ausweis.

    Fazit: Im Jahr 2004 als ich kein Wort Deutsch gesprochen habe, fühlte ich mich weniger Ausländer und mehr Deutscher aber im Jahr 2012 fühle ich mich mehr Ausländer als Deutscher aber vor allem denke ich, dass ich in Deutschland unerwünscht bin.

  2. Optimist sagt:

    @ HPMüller

    Willkommen im Club. Wenn man dann auch noch wie eine Türke aussieht und deshalb in keine Disko rein kommt, wenn man größte Probleme bei der Wohnungs- oder Jobsuche hat, wenn man in der Schule von Lehrern diskriminiert wird und auch sonst immer wieder mal im Alltag mehr oder weniger witzig oder latent ernst gemeinte Türkenwitze usw hört, dann fängt man eben irgendwann an, sich damit abzufinden und sich sogar von der Mehrheitsgesellschaft zu distanzieren. So läuft nun mal der Hase in Deutschland, entweder arisch deutsch oder gar nicht.

  3. Peter Meier sagt:

    Hans Peter, ich denke, Sie denken falsch. Mal in die moslemisch-türkische Runde gefragt: Wer von Ihnen sagt denn, „ich bin Deutscher!“. Macht doch kaum ein Türke, die sagen doch von sich immer, „ich bin Türke“. Gehen Sie doch mal zu Ihren (türkischen?) Eltern, lieber Optimist, und sagen, „Wisst ihr was, ich bin überhhaupt kein Türke (mehr), ich bin Deutscher, mit allem was dazugehört. Hmmm, macht das der User Optimist? Was wird sein Vater sagen? Sein Onkel? Sein Großonkel, sein Mutter, seine Cousins und Cousinen? Was werden die Verwandten in der Türkei denken? Optimist ist ab heute kein Türke mehr, er ist Deutscher.

    Ich, als kasachischer Deutschrusse hab es leicht. Ich bin Deutscher, mit allem, was dazugehört. Trotzdem brauche ich auf meine russische Sozialisierung und meine Wurzeln nicht verzichten. Aber gut, einen Bonus habe ich: auch meine Vorfahren waren irgendwie Deutsche.

  4. HansPeterMüller sagt:

    Hallo Peter Meier,

    man sieht schon, dass Sie keine schlechte Erfahrungen in Deutschland gemacht haben, nur weil man „anders“ ist.

    Viele haben die Nase voll nachdem sie gesagt haben “ ich bin Deutscher und komme aus Oberhausen“ dann kommt immer und immer die nächste Frage “ Wo kommen Sie ursprünglich her?“.
    Das passiert nicht einmal oder zweimal aber immer und immer. Ab einem Punkt, um Zeit zu sparen, sagen viele eben “ Ich bin Türke!“.

    Sie sehen mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht anders als ein Deutscher und somit erleben Sie die Probleme nicht, die die mit den türkischen Wurzeln.
    Man sollte auch zugeben können, dass man es einfacher hat, weil nicht wie ein Südländer(Türke) aussieht.

    Denkt mal jetzt nach “ warum sagen die jungen Türken, die in Deutschland geboren und aufgewachsen sind, dass sie eher Türke sind?“ Warum?

    Meine Neffen und Nichten sind in Deutschland geboren und hier aufgewachsen und zwei von denen haben bald die Uni. fertig. Obwohl sie hier aufgewachsen sind, ich fühle mich mehr Deutscher als meine Neffen und Nichten! Die Frage ist warum? Ich bin in der Türkei aufgewachsen und warum fühle ich mich mehr Deutscher als meine Neffen und Nichten?

    Peter Meier: Es wird uns immer vorgeworfen, dass wir immer sagen, dass wir Türke sind! Aber warum fragt man sich selbst nicht: Warum?

    Grüßle HPM

  5. Sinan A. sagt:

    Natürlich machen Mädchen andere Erfahrungen als Jungen. Das liegt ja wohl auf der Hand. War schon in der Antike so (Raub der Sabinerinnen). Die Jungs werden bekämpft, die Mädels erobert. Nur nennt man das heute anders: Befreien! Wie beim Brettspiel „Risiko“. Früher hieß es „Erobern Sie“, heute „Befreien Sie“. Das Prinzip bleibt das gleiche. Als Mann muss man sich selbständig machen und die Ellbogen ausfahren, oder man bleibt sein Leben lang Postbote.

  6. Peter Meier sagt:

    „Viele haben die Nase voll nachdem sie gesagt haben ” ich bin Deutscher und komme aus Oberhausen” dann kommt immer und immer die nächste Frage ” Wo kommen Sie ursprünglich her?”.“

    Passiert mir tausenddmal. Dann sage ich: aus Russland. Na und? Sind Sie nicht stolz auf Ihre Heimat? Meinen Sie nicht, es ist normal, dass man Sie fragt? Ich war in der Türkei, da wurde ich auch von tausenden gefragt. Überall wird man gefragt, wo man herkommt. Was ist daran so schlimm?

    „Man sollte auch zugeben können, dass man es einfacher hat, weil nicht wie ein Südländer(Türke) aussieht.“

    Das kann ich nicht beurteilen. Aber kann sein.

    Denkt mal jetzt nach ” warum sagen die jungen Türken, die in Deutschland geboren und aufgewachsen sind, dass sie eher Türke sind?” Warum?

    Ich glaube, das ist Nationalstolz der Türken. Sie sind eben sehr stolz. Ist doch nicht schlecht. Nur dann dürfen Sie nicht jammern, dass man Sie nicht als 100% Deutsche sieht. Ich verstehe das Problem nicht

  7. HansPeterMüller sagt:

    Sie sind in der Türkei ein Tourist. Aber in Deutschland sind wir keine Touristen. Also was für ein Vergleich ist das denn? Sind sie in der Türkei geboren und aufgewachsen? Nein.

    Sie haben mein Post oben gar nicht verstanden. Es geht um Akzeptanz. Wenn die Leute in Deutschland keine Akzeptanz finden, dann suchen sie diese woanders. Diese Leute finden diese Akzeptanz, in dem sie sagen, dass sie Türke sind oder werden Religiös.

    Es ist ein lebenslanger Prozess. Sie finden in den Schulen keine Akzeptanz und auch nicht später im Berufsleben. Dann fühlt man sich in diesem Land fremd. Das führt dazu, dass man sich als Türke vorstellt, weil nur dann finden diese Leute Akzeptanz von anderen. Das Gefühl der Zugehörigkeit finden sie als Türke, weil man die Zugehörigkeit lebenland diesen Leuten verweigert hat.

  8. Optimist sagt:

    @ Peter Meier

    „Ich verstehe das Problem nicht“.

    So etwas nennt man mangelnde Empathiefähigkeit, oder auch mangelnde emotionale Intelligenz. Ist ja schon fast komisch, immer wieder zu lesen, wie man von Personen belehrt werden muss, die solcherlei Probleme nicht erleben und dann einfach meinen: „Beteiligt euch überall und alles ist gut“.
    Gar nichts ist gut. Ihr checkt nicht mal, welche Probleme wir im Alltag überwinden müssen, die ihr gar nicht kennt.

  9. Neudeutsch sagt:

    @HansPeterMüller @Peter Meier

    So sieht es aus. Die Anerkennungsfrage ist zentral.
    Viele vergessen in ihren Argumentationen, dass der Mensch ein „soziales Wesen“ ist.
    Das Gefühl einer Zugehörigkeit zu einer Gruppe bietet Sicherheit. Ganz plump auch bei Fussballfans zu beobachten.
    Und dann ist es auch egal, ob die Gruppe selbst ausgesucht oder zugewiesen ist. In der Migrationsdebatte überwiegt der Anteil zugewiesener Gruppen erheblich. Es bedarf anstrengender Entwicklungsarbeit, Selbstreflexion und Dekonstruktion aufoktruierter Erwartungen, um diese Zuweisung zu erkennen, abzulehnen und sich neu zu orientieren.

    Auf diesem beschwerlichen Weg wird man unnötig begleitet und gleichzeitig behindert von Aussagen, wie den obigen:
    „Passiert mir tausenddmal… Na und?… Meinen Sie nicht, es ist normal, ….Was ist daran so schlimm?“
    „Nur dann dürfen Sie nicht jammern,… Ich verstehe das Problem nicht“
    Oder auch „Fühlst du dich eher deutsch oder eher XY?“, „Du kannst dich zwar deutsch fühlen, bist aber trotzdem XY, das ist so.“

    Als vermeintlich stichhaltige Argumente für diese Aussagen werden dann noch eigene Erfahrungen zum Besten gegeben, obwohl die Erfahrungswelten allein schon strukturell ganz anders aufgebaut und deswegen unzulässig für einen Vergleich sind.
    „Was regt ihr euch so auf, ich finde das ist alles ganz anders, weil ich das so erlebe.“ wäre so eine stellvertretende Aussage. Gehen diese Kommentatoren wirklich davon aus, dass alle Welt genau so behandelt wird, wie sie selbst? Reichlich ego-zentrisches Weltbild, oder?

    Allein der Blick auf den Bürotisch des Kollegen, dem Yuppi im Pelz und dem Obdachlosen an der Straßenecke müsste doch genug Aufschluss geben dafür, dass nicht jeder die gleichen Reaktionen erhält, wie man selbst.
    Kann es wirklich so viel Borniertheit geben?

  10. pepe sagt:

    Meine Frage wäre: wollen alle diese Jugendlichen, die sich ausgegrenzt fühlen, der Gemeinschaft angehören, die andere Menschen ausgrenzt? Anders formuliert: Warum wollen diese Jugendlichen deutsch sein? Meines Erachtens ist es besser, ein Türke zu sein als ein Deutscher. Es ist halt „Cooler“: