Buchtipp zum Wochenende
Vorurteile in der Kinder- und Jugendliteratur
Wer glaubt, er hätte eine rassismuskritische oder gar rassismusfreie Erziehung genossen und sei gefeit vor Gruppenstereotypen und Rassismus, dem sei die Lektüre dieses Buches dringend empfohlen.
Von Prof. Dr. Sabine Schiffer Freitag, 09.12.2011, 8:26 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 14.12.2011, 8:32 Uhr Lesedauer: 3 Minuten |
2010 erschien die Aufsatzsammlung, die Wolfgang Benz unter dem Titel „Vorurteile in der Kinder- und Jugendliteratur“ herausgab. Der inzwischen pensionierte Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung leistet hiermit einen weiteren Beitrag zur Nutzbarmachung der Erkenntnisse der Antisemitismusforschung zur allgemeinen Vorurteilsforschung. Dies entspricht seinem Ansatz die Forschungseinrichtung für diese Zwecke zu öffnen.
12 Autoren tragen in 13 sehr unterschiedlichen Beiträgen diverse Aspekte der Thematik zusammen und zeigen damit auch auf, mit welchem Blick Angebote für Heranwachsende zu betrachten sind, wenn es um die mögliche Vermittlung von Vorurteilen geht. Sieben der Aufsätze analysieren antisemitische Stereotype: Körte – Hausmärchen, Schwerendt –Rassebüchlein, Benz (Ute) – Johanna Haarers Nazipädagogik, Enzenbach – bebilderte Kinderbücher, Wetzel – Damals war es Friedrich, Buse – Junge im gestreiften Pyjama und Reichelt – „Judenbilder“ in der DDR. Herausragend Juliane Wetzels Ausführungen zum vielfach überschätzten Jugendbuch „Damals war es Friedrich“, das sie im Grunde in die Kategorie „Das Gegenteil von gut, ist gut gemeint“ einordnet. Sie liefert damit ein eindringliches und überzeugendes Plädoyer dafür, gut gemeinte Darstellungen ob ihrer subtilen rassistischen Botschaften stets zu hinterfragen. Das sollte man z.B. auf „pädagogisch wertvolle“ Bücher wie „Als die Raben schwarz wurden“ u.v.a. übertragen. Ähnlich kritisch setzt sich auch Verena Buser mit der Geschichte „Der Junge im gestreiften Pyjama“ auseinander, die sicher Mitgefühl wecken soll, aber so unrealistisch ist, dass sie ein eher verklärendes Geschichtsbild fördern könnte.
Der Herausgeber Benz beleuchtet mit seinem eigenen Beitrag gleichzeitig ein in der schulischen Bildung und dem kollektiven Geschichtsbewusstsein weitestgehend ausgeblendetes Thema: Das Massaker an den Herero. Als Musterbeispiel eines Kolonialrassismus macht dieses Beispiel deutlich, wie Menschen- und Völkerrechtsverletzungen sowie Ausbeutung durch die Behauptung einer eigenen Höherstellung gerechtfertigt wurden – eigentlich ein wiederum aktueller Bezug. Im Fokus der Analyse stehen die Texte Else Urys über die Herero, die sie abschätzig beurteilt. Der Antisemitismusforscher betont, dass auch die Übernahme des Mainstream-Rassismus die jüdische Autorin später nicht vor dem Holocaust schützen konnte.
Da Eske Wollrads Beitrag zu rassistischen Stereotpyen bei Astrid Lindgrens „Pipi Langstrumpf“ bereits vielfach rezipiert wurde, verzichte ich auf eine Ausführung zur Reproduktion von Kolonialrassismus allein durch die unveränderte Weiterverwendung zeithistorischer Kinderliteratur. So legt auch Yasemin Shooman überzeugend dar, wie verfehlt die beliebte Karl May Verharmlosung ist, legt sie doch in Bezug auf diskriminierte Völker (Indianer, Orientalen) rassistische Stereotype nahe, wie sie heute bis in den politischen Diskurs hinein offensichtlich ernst genommen werden – etwa die Zuschreibung von Personeneigenschaften auf Kultur und Islam.
Zu den vorwiegend historisch ausgerichteten Beiträgen zählen auch die Mütterratgeber der nationalsozialistischen Ärztin Johanna Haarer, die bebilderten Kinderbücher und Schullektüren der NS-Zeit, die Isabel Enzenbach kritisiert, sowie das von Matthias Schwerendt analysierte „Rassebüchlein“ von Wiggers, das der Jugend die wichtigsten Stereotype über „die Juden“ bzw. „die Orientalen“ sowie ihre eigenen Höherstellung mitgeben sollte.
In einem ihrer Beiträge verfehlt Ute Benz das Thema, wenn sie die Bevorzugung von Kindermärchen gegenüber Märchenfilmen begründet: Erstens fehlt da die notwendige Kritik am MärchenBILDerbuch und zweitens an den Märchen selbst, die ja zum großen Teil für kleine Kinder gar nicht geeignet sind und ebenfalls nicht zu wenige Stereotype von Stiefmüttern, Geschlechterrollen und Hierarchien vermitteln. Angemessener ist der Beitrag von Mona Körte über die Judenstereotype in Hausmärchen der Gebrüder Grimm. Auch bei der Beurteilung der Wirkung nationalsozialistischer Erziehungsliteratur bleibt Ute Benz schwammig.
Aktuelle Bezüge stellt die Autorin Sabine Berloge in der Jugendliteratur zum Thema Homophobie heraus, allerdings gibt sie den willkürlich ausgewählten Texten von 1990 bis 2006 insgesamt gute Noten im aufklärerischen Sinne – wiewohl dennoch der Frame des Problems vorherrsche. Auch der Beitrag von Brigitte Mihok hat aktuelle Bezüge, wenn sie etwa „Zigeunerklischees“ in Comics wie „Tim und Struppi“ ausmacht. Und die Aufarbeitung von „Judenbilder´n in der Kinder- und Jugendliteratur“ zeigt, dass auch angesichts anderer ideologischer Bezugsrahmen Stereotype in der Literatur fortleben und neue Generationen prägen können.
Wer also glaubt, heutige Erwachsenengenerationen hätten eine rassismuskritische oder gar rassismusfreie Erziehung genossen und seien gefeit vor Gruppenstereotypen und Rassismus, dem sei die Lektüre des Büchleins dringend empfohlen. Aktuell Rezension
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