Zwangsverheiratungen

Familienministerin Schröder stellt ihre eigene Studie auf den Kopf

Einer aktuellen Studie zufolge können Zwangsverheiratungen nicht auf bestimmte religiöse Traditionen zurückgeführt werden. Dennoch diskreditiert Familienministerin Schröder Muslime mit dieser Thematik, kritisiert Coşkun Canan in seiner neuesten MiGAZIN Kolumne "HEYMAT".

Von Coşkun Canan Donnerstag, 10.11.2011, 7:30 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 16.11.2011, 5:52 Uhr Lesedauer: 4 Minuten  |  

Dass es Zwangsverheiratungen auch in Deutschland gibt und Opfer solcher freiheitsberaubenden Handlungen unendlich viel Leid ertragen müssen, wird niemand abstreiten. Dass darüber gesprochen werden muss, ist ein moralisches Gebot. In der Türkei wird sogar bald eine Serie, die auch in Deutschland zu sehen sein wird, das Thema der Zwangshochzeit aufgreifen. Auch deutsch-türkische Zeitungen befassen sich regelmäßig mit dem Thema und leisten dadurch Aufklärungsarbeit. Das ist auch gut so!

Dennoch darf ein solch sensibles Thema nicht dazu dienen, um Bevölkerungsgruppen mit Scheinzusammenhängen zu diskreditieren. Das tat nämlich die Familienministerin Kristina Schröder neulich in der FAZ 1 mit folgenden Worten: „Aus gutem Grund warnen viele Wissenschaftler vor zu kurzen und zu einfachen Kausalketten. Trotzdem darf uns der religiöse Aspekt nicht kaltlassen. Der Zusammenhang zwischen kulturellem Hintergrund und menschlichem Handeln ist eine soziologische Selbstverständlichkeit. Trotzdem wird dieser Zusammenhang in Hinblick auf den Islam oft verleugnet oder wegdefiniert. Angesichts des Streites, ob der Islam Teil des Problems ist oder nicht, wird leider völlig ausgeblendet, dass er auf jeden Fall Teil einer Lösung sein muss. Wir müssen erreichen, dass islamische Autoritäten in Deutschland es noch stärker als ihre Aufgabe begreifen, Zwangsverheiratungen zu verweigern.

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In der vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend in Auftrag gegebenen Studie, auf die sich die Familienministerin stützt, steht schon im dritten Satz des ersten Kapitels Folgendes: „In der Forschung besteht ebenso Einigkeit darüber, dass sich Zwangsverheiratungen nicht auf bestimmte religiöse Traditionen zurückführen lassen, sie kommen in unterschiedlichen sozialen, ethnischen und kulturellen Kontexten überall auf der Welt – und auch in Europa – vor.“ Und einige Seiten später: „Mit der gewählten Methode und anhand der Datenlage konnte und sollte also nicht überprüft werden, ob und welche Zusammenhänge die Religionszugehörigkeit/Religiosität mit Zwangsverheiratung hat. Um den Einfluss von Faktoren wie Bildung, Herkunft, Religiosität etc. auf die Praxis der Zwangsverheiratung zu untersuchen, wäre weitere Forschung notwendig.2

Die Autoren der Studie wissen also um die Schwierigkeiten ihres Datensatzes. Es fehlen wichtige Informationen, um weitergehende Analysen machen zu können. Und es handelt sich um eine hochselektive und dadurch stark verzerrte Datengrundlage, was natürlich auch mit dem schwierigen Forschungsfeld zu tun hat.

Unter den 3443 Personen (diese Zahl resultiert aus den berichteten Beratungsfällen der 358 Beratungsstellen), denen Zwangsheirat angedroht wurde oder die zwangsverheiratet wurden, gibt es womöglich Mehrfachzählungen, die daraus resultieren, dass betroffene Personen mehrere Beratungsstellen in Anspruch nehmen. Der Anteil der Personen, die mehrere Beratungsstellen aufsuchten, könnte zwischen 14 und 43 Prozent liegen. Demgegenüber steht eine unbekannte Dunkelfeldziffer an möglichen Betroffenen. 3

Nun muss beachtet werden, dass Angaben über die befragten Personen und ihre Herkunftsfamilien auf der Basis von 773 Fällen und ca.100 Beratungsstellen gemacht werden, was eine zusätzliche Verzerrung abhängig von der Auswahl der Beratungsstelle in die Stichprobe bedeuten kann. Zum Beispiel könnten solche Beratungsstellen, die in besonderen Brennpunkten liegen, überrepräsentiert sein, da sie durch die Teilnahme an der Studie in besonderem Maße auf die Problematik hinweisen wollen. Solche Stellen, bei denen die Quote an Zwangsheiraten niedrig ist, könnten auch in geringerem Maße zu einer Mitarbeit bereit gewesen sein. Leider sind in der Kurzfassung der Studie –die Langfassung ist noch nicht erschienen- keine Informationen darüber, wie und welche Beratungsstellen für die Falldokumentation gewählt wurden, sodass nicht einmal die Zahlen für die ca. 100 Beratungsstellen interpretiert werden können.

Vor dem Hintergrund dieser gravierenden methodischen Schwierigkeiten und der daraus resultierenden Probleme der Interpretation stellt nun die Familienministerin einen islamisch-kulturellen Zusammenhang zwischen Religionszugehörigkeit und Zwangsverheiratung her. Obwohl in der gesamten 53-seitigen Kurzfassung der Studie das Wort Islam nur dreimal vorkommt und die Verfasser vor solch einem Zusammenhang warnen, schafft es die Familienministerin in einem kurzen Beitrag für die FAZ die Ergebnisse ihrer „eigenen“ Studie auf den Kopf zu stellen.

Vielleicht sollte sich die Familienministerin einmal die besagte türkische Serie anschauen, was natürlich türkische Sprachkenntnisse voraussetzt.

  1. Fremde Feder: „Ein Fluchtweg aus der Zwangsverheiratung“, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 8. November 2011, S. 10
  2. Kurzfassung der Studie „Zwangsverheiratung in Deutschland – Anzahl und Analyse von Beratungsfällen“, S. 36
  3. ebd. S. 7
Leitartikel Meinung
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  1. Zensus sagt:

    Lieber Herr Canan,
    ihr Artikel war ja schon befremdlich – aber ihr erläuternder Kommentar hat mindestens Politbüroniveau. Deswegen möchte ich meinen obigen Kommentar konkretisieren: Eine solch kritikbefreite Kultur kann man nicht ernst nehmen.
    Herzlichst

  2. Europa sagt:

    @C.Canan
    Danke! Das wird den Betroffenen bestimmt weiterhelfen!

    ironie off

  3. BiKer sagt:

    ich verstehe die allgemeine aufregung nicht, wenn selbst die autoren der studie darauf hinweisen, dass ein zusammenhang nicht hergestellt werden kann und dass zwangsverheiratungen ueberall in europa gibt. es ist allgemein bekannt, dass in laendern wie portugal, griechenland oder italien zwangsverheiratungen gibt. nur weil diese nicht thematisiert werden, heisst es nicht, dass es sie nicht gibt und zwar ganz ohne islam background. der koran jedenfalls sieht diese form von eheschliessung nicht vor.

    und ja, es ist ein bildungsproblem. wenn hier eingewendet wird, dass in deutschland bildungsferne schichten ja auch nicht zwangsweise verheiraten, stellt das ein vergleich von aepfeln und birnen dar. wenn hier im zusammenhang der studie von bildungsfern gesprochen wird, handelt es sich um menschen, die allenfalls die grundschule absolviert haben. in deutschland hat auch der noch so ungebildete zumindest die gesetzliche schulpflicht hinter sich gebracht. das sind elementare unterschiede, die nicht vermengt werden duerfen.

    und schliesslich geht es im artikel hier in erster linie um die aussage von frau schroeder, die – entgegen der studie – einen zusammenhang konstruiert. und das hat herr coskun gut herausgearbeitet. danke dafuer. lg.

  4. Jens sagt:

    Lieber Hr. Canan,

    ich bin auch Sozialwissenschaftler und ich kann Ihenn auch alles rausdefinieren was Sie rausdefiniert haben wollen :-) Notfalls finden wir nur eine Korrelation oder sagen, das ist nicht signifikant.

    Ich verstehe, was Sie sagen wollen, aber Sie machen m.E. einen zentralen Fehler: Sie gehen davon aus, dass religiöse Einflüsse auf individuelles Handeln stets reflektiert werden. Ich glaube nicht, dass sich der betreffende Vater reflektiert sagt „In Sure x:y steht, ich soll meine Tochter zwangsverheiraten, also tue ich es.“ Aber die Frage, ob „der Islam“ mittelbar oder unmittelbar ein patriarchalisches System fördert, in dem sich der Vater gar nicht die Frage stellt, ob er über seine Tocher entscheiden kann sondern in dem das selbstverständlich ist, muss m.E. schon gestellt werden. („Der Islam“ steht dabei in Anführungszeichen, da er natürlich auch „nur“ das ist, was die Muslime vor Ort daraus machen.)

    Zumindest: Mir ist klar, dass Sie die Schröder nicht mögen, das gehört beim Migazin ja zum guten Ton. Aber ich kann nicht erkennen, was an dem, was sie gesagt hat, falsch sein soll. Wenn sie den Imamen sogar eine aktive Rolle bei der Lösung zuspricht, dann macht sie eigentlich nur eines: Sie sagt, islamische Autoritäten sind Player, die einen positiven Einfluss nehmen können. Aber leider scheint der Opfer-Reflex stärker zu sein :-(

    Gruß Jens

  5. Jens sagt:

    Hinweis der Redaktion: Bei der genannten Werbung handelt es sich um ein von Google automatisch – je nach Content – generierte Werbung, auf dessen Einblendung MiGAZIN keinen Einfluss hat.

    PS:

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    Wow. Nur keine interreligiösen Kontakte…

  6. Naja sagt:

    @ C. Canan

    Wenn jetzt aber der bildungsferne Pascha behauptet: „Wen meine Tochter heiratet, das bestimme ich, das haben wir immer so gemacht, das ist Gottes Gebot!“, dann können können Sie ja als aufgeklärter Mensch sagen „Nein, das ist falsch, der Islam gibt das nicht her!“ – was ja auch stimmen mag. Es ändert doch aber für diese Familie nichts.

    In der Bibel stand ja auch nichts über Hexenverbrennungen, trotzdem könnte man es in einigen Regionen Europas im Spätmittelalter als durchaus typisch christlich bezeichnen.

    Und wieviele – vielleicht etwas schlichter gestrickte – Imame in ländlichen muslimischen Regionen stützen genau solche tradierten Vorgehensweisen und verbrämen es auch noch religiös? Von nichts kommt nichts,,,

    Sie machen es sich wirklich etwas zu einfach. Zumindest könnten Sie ja fragen, inwieweit die Religion diese Verhaltensmuster begünstigt, denn die Zahlen, welche Glaubensgruppen nun konkret diese Zwangsverheiratungen praktizieren, sind ja tatsächlich signifikant.

    MfG

  7. C. Canan sagt:

    Selbstverständlich ist mir bewusst, dass hinter den Zahlen Menschschicksale stehen und den Betroffenen muss in jeder Hinsicht geholfen werden!!!
    Dass aber manchen Leuten Ergebnisse von Studien zu bestimmten Themen nicht in den Kram passen, ist deren Problem. Fast alles von dem, was ich geschrieben habe, können Sie in der Studie nachlesen.

    Herzliche Grüße.

  8. Sinan A. sagt:

    Das muss schon erlaubt sein, solche Studien zu hinterfragen.

    – Die Studie ist politisch motiviert. Die Zusammensetzung des Beirates ist einseitig und interessengeleitet.

    – Die Zahlen basieren auf den Einschätzungen von Mitarbeitern aus ausgewählten Beratungszentren. Über soviel Aufmerksamkeit würden sich viele andere Beratungsstellen freuen.

    – Die Fälle stehen in der Regel im Kontext mit aufenthaltsrechtlichen Maßnahmen, wodurch zwangsläufig bestimmte Gruppen besonders betroffen sind.

    – Mangelnde Sensibilisierung der Berater kann man wohl kaum unterstellen. Eher ist von einer einseitigen Betrachtung des Sachverhalts auszugehen.

    Insgesamt ist die Studie wenig hilfreich, nur geeignet Bevölkerungsgruppen zu spalten und neue Gesetze zu rechtfertigen. Viel heiße Luft, ein paar addierte Zahlen. Das ist nicht die Wirklichkeit, die ich erlebe. Ich kenne keinen einzigen Fall von Zwangsheirat. Ich schätze die Abgründe in gutsituierten Akademikerhaushalten sind erheblich höher. Nur da wagt es niemand reinzuschauen.

  9. AHA sagt:

    @biker

    portugal, griechenland oder italien zwangsverheiratungen gibt. nur weil diese nicht thematisiert werden, heisst es nicht, dass es sie nicht gibt

    Sorry aber Sie haben hier einfach eine Behauptung in den Raum gestellt ohne jegliche Belege. In Griechenland sind Zwangsverheiratungen ein Phänomen in Thrakien bei der türkischen Minderheit und wenn überhaupt noch dann vielleicht auf Kreta wo es in einigen Dörfern im Landesinneren noch heftige Traditionen gibt. Aber Portugal und Italien? Unter europäischen Christen? Kann ich mir nicht vorstellen. Ich glaube Sie verwechseln da was mit diesen mittelalterlichen Ehen bei den Adelsgeschlechtern. Wenn es um Orientalische Christen aus islamischen Ländern geht kann ich mir dies gut vorstellen. Vielleicht auch noch bei den Kopten. Das zeigt aber deutlich das die jeweilige Landeskultur unabhängig von bzw. neben der Religion auch sehr großen Einfluss nimmt.
    http://de.wikipedia.org/wiki/Zwangsheirat

    Eigentlich ist es mir wurscht ob eine Religion Zwangsverheiratungen duldet oder nicht. Es hat bei uns in Europa schlicht nichts verloren. Punkt.

    Vielleicht sollte sich die Familienministerin einmal die besagte türkische Serie anschauen, was natürlich türkische Sprachkenntnisse voraussetzt.
    @C. Canan
    Verehrter Herr Canan. Sollte diese Serie was taugen und eine fundierte Botschaft gegen Zwangsverheiratung rüber bringen, dann wird diese wohl auch mal in Deutschland laufen. Nur auf türkisch bestimmt nicht. Bei uns wird synchronisiert. Nur das überhaupt in Betracht gezogen wird eine Serie darüber zu drehen zeigt eigentlich klar und deutlich wie sehr die Dinge im Argen sein müssen. Heute ist mir ein Videobeitrag über den Weg gekommen. Er hat zwar nicht direkt mit Zwangsheirat zu tun aber allgemein mit den Frauenrechten in der Türkei (hier explizit bezogen auf die geschlechtsbezogene Raumaufteilung in der Moschee).
    http://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/tuerkei-frauen-wollen-gleiche-rechte-in-moscheen-11523876.html
    Einfach köstlich wie die Frau dem Imam übers Maul fährt weil der sie unterbricht. Ja das türkische Patriarchat wird schon bald ordentlich Federn lassen müssen. Es wird Zeit!
    Und um einen Zusammenhang zu beiden Themen zumindest im Ansatz zu sehen. Wer eine Frau generell überall hintenan stehen lässt, bei dem verwundert es nicht wenn er auch Zwangsverheiratungen im kulturell-religiösen Repertoire hat.

  10. C. Canan sagt:

    Hallo Jens,

    als Sozialwissenschaftler werden Sie wohl meine Bedenken hinsichtlich der Interpretation der Studie aufgrund der methodischen Schwierigkeiten teilen, worauf übrgens die Autoren selbst hinweisen.

    „Sie gehen davon aus, dass religiöse Einflüsse auf individuelles Handeln stets reflektiert werden. Ich glaube nicht, dass sich der betreffende Vater reflektiert sagt “In Sure x:y steht, ich soll meine Tochter zwangsverheiraten, also tue ich es.” Aber die Frage, ob “der Islam” mittelbar oder unmittelbar ein patriarchalisches System fördert, in dem sich der Vater gar nicht die Frage stellt, ob er über seine Tocher entscheiden kann sondern in dem das selbstverständlich ist, muss m.E. schon gestellt werden.“

    Nein, da liegen Sie falsch, ich gehe nicht von irgendeiner Theorie der bewussten oder unbewussten Transmission irgendwelcher Verhaltenshaltungen aus. Ich sage nur, dass die Eltern befragt werden müssen, um die Gründe der Zwangsverheiratung herauszufinden. Das ist vor allem die Aufgabe von Ethnologen. Ob Religion, Bildung, archaische Sitten oder andere Faktoren schließlich ein System von bestimmten Verhaltensweisen fördern oder verhindern, kann nur auf der Grundlage von ausreichend fundierten Daten, die nach wissenschaftlich Maßstäben erhoben wurden, gelingen. Erst wenn dieser Anspruch erfüllt wird, können, meiner Meinung nach, Korrelationen geprüft und Aussagen getroffen werden.