Oma I
Schwarzwaldmädel
„Nenn’ mich ned Oma!“ Da verstand Lotti keinen Spass. Wir sollten sie „Tante“ nennen. Auch sonst hatte sie wenig Humor und gelächelt hat sie nur am Samstag, wenn „Der Blaue Bock“ lief. Oder „Musikantenstadl“.
Von Kenan Zöngör Donnerstag, 13.10.2011, 8:28 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 17.10.2011, 1:37 Uhr Lesedauer: 3 Minuten |
Für uns war es auch nicht lustig, denn natürlich kam Lotti am Samstag Abend pünktlich zur Tagesschau zu Besuch. Und nach der Tagesschau schauten wir dann eben den besagten „Blauen Bock“. Obwohl im Zweiten Bud Spencer lief. In meiner Erinnerung lief immer Heinz Schenk gegen Bud Spencer und Lotti durfte entscheiden – weil sie älter war, eine Respektsperson und natürlich Gast. Das war Gesetz, aber antidemokratisch, denn selbst meine Mutter wollte Bud Spencer sehen, genauer Terence Hill, wegen seiner blauen Augen.
Für meine Eltern, die Anfang der 1960er aus Anatolien nach Deutschland eingewandert waren (sie wussten es damals noch nicht und dachten auch Mitte der 1970er, es gehe bald zurück), waren Ältere und Gäste unantastbar. Selbst wenn dieser ältere Gast eben Volksmusiksendungen statt Vorschlaghammerprügeleien sehen wollte und eigentlich ständig „zu Besuch“ kam.
Lotti arbeitete für eine kleine Kunststofffabrik als Reinigungskraft, wo sie meine Mutter, die dort Ende der 1960er eingestellt wurde, unter ihre Fittiche nahm. Wegen der Liebe war Lotti aus dem Schwarzwald ins Bergische Land gekommen, aber die Liebe hielt nicht. Lotti blieb, weil „’s G’schäft hier isch“ und ein guter Arbeitsplatz wichtiger als „ a bleede Seggl“.
Dennoch trieb auch sie die Sehnsucht nach den rauschenden Wäldern ihrer Jugend um. Zwischen den Schwärmereien meiner Eltern von ihrer Kindheit im anatolischen Dorf und Lottis Schwarzwaldlegenden gab es wenig Unterschiede. In Momenten zwischen den Erzählungen erkannten wir, dass es eine gemeinsame Trauer gab.
Lotti, die in der kleinstädtischen Einsamkeit sogar die Gesellschaft einer jungen türkischen Frau gesucht hatte, fand unerwartete emotionale Nähe und Offenheit. Meine Eltern mussten zugeben, dass auch Deutsche Gefühle hatten und mit „Gurbet“ haderten.
Es blieben indes Unterschiede. Lotti fand das Schweinfleischverbot bei uns über Jahre nicht „g’scheit“. („Escht ihr nie Schwein? Gar niemals?“) Meine Mutter litt schweigend unter Lottis Kaltwasserabwasch ohne Spülmittel. Und für uns waren die Bommelhüte der Schwarzwaldmädel mindestens genauso exotisch wie die bunten Kleider unserer Omas in der Türkei für Lotti.
Allerdings war Lotti immer in der Nähe. Meine Omas schickten selbst besprochene Grußkassetten aus der Türkei. Die leiernden Botschaften dieser Kassetten haben wir nicht immer verstanden. Häufig mussten wir über die auf diesen Kassetten zu hörenden Lieder und rezitierten Gedichte lachen.
Hier hatten unsere Eltern keinen Humor und dann rettete uns Lotti vor einer Abreibung, die unsere Eltern in ihrer wütenden Trauer über die fernen Nächsten uns gern verpasst hätten. Dann nutzte Lotti ihre Autorität und stellte sich schützend vor uns. Und sie nutzte sie, um meine Mutter zu trösten. („Mädle, net flenna, es hilft nex.“)
Rückblickend könnte ich sagen, es war eine ungleiche Notgemeinschaft zwischen Menschen fern der Heimat. Ich könnte sagen, Lotti hat die türkische Mentalität unbewusst ausgenutzt, um nicht allein zu sein. Vor allem könnte ich sagen, sie hat mir die Samstage verdorben.
Was ich aber sagen will ist, meinen ersten Teddy hat mir Lotti geschenkt, sie hat mich immer „Biable“ genannt und eine Lederhose gekauft.
Jetzt, Jahrzehnte nach ihrem Tod, kann ich auch sagen, Lotti war nicht Tante.
Lotti war Oma. Aktuell Meinung
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