Persönliche Reflexionen zu 9/11

Augen ohne Gedächtnis sehen nichts

Die Berichte über das Attentat in New York am 11. September 2001, die Video-Loops mit den Bildern der brennenden und zu Staub zerfallenden Türme haben mich damals in der Öffentlichkeit überrascht, am Bahnhof Zoo, auf dem Bildschirm gleich neben dem Reisecenter.

Von Freitag, 09.09.2011, 8:30 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 27.04.2015, 16:45 Uhr Lesedauer: 6 Minuten  |  

Ich kam von Jerusalem nach Berlin, hatte mich entschieden, eine Weile in dieser Stadt zu leben, in der Hoffnung, in Berlin etwas neu zu beginnen: so etwas wie eine Renaissance der kosmopolitischen jüdischen Traditionen in Wissenschaft und Kunst, die ich in Israel auf traurige Weise verloren sah.

Ich kam mit Neugierde auf das pulsierende, „neue“ Berlin in die Stadt, und einer meiner ersten Eindrücke waren die Fernseh-Bilder aus New York, die schon Minuten nach dem Attentat in immer wiederholten Endlos-Schleifen ihre lähmend-fesselnde ästhetische Wirkung entfalteten: schlanke Türme, der Inbegriff westlicher Freiheit, versinken in Staub und Asche, immer wieder, vor den Augen aller. Wie alle war ich fasziniert vom Schrecken der Bilder, aber auch schockiert von ihrer obsessiven Wiederholung, von der unmittelbaren Prägung einer Ikonographie des Schreckens, die schon Minuten nach dem Attentat den Charakter der Prägung einer Marke annahm, eine Marke, die auch bald genutzt wurde: einerseits, um eine „Koalition der Willigen“ für einen Krieg gegen den Irak zu schmieden; andererseits, um das „Fremde unter uns“ zu konfigurieren.

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Endlose Debatten in schamloser Unwissenheit
Das Letztere geschah auf eine Weise, die ich von Beginn an extrem unheimlich fand. Die endlosen in schamloser Unwissenheit geführten öffentlichen Debatten über bestimmte Begriffe der klassischen islamischen Theologie in Verbindung mit politischer Gewalt fand ich beängstigend, die wahllose Aneinanderreihung von Attributen wie „9/11“ / „Islam“ / „Scharia“ / „islamistischer Terror“ / „Dschihad“ / „Koran“ / „Kopftuch“ / „patriarchalische Gewalt“ / „Ist der Islam vereinbar mit unserer freiheitlichen demokratischen Grundordnung“, und so weiter, atemberaubend in ihrer Verkettung literarischer Begriffe, die keiner wirklich kennt, mit den Phänomenen verbrecherischer Gewalt, die wir alle ächten.

Die Juden haben sich im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert gegen Kollektivanschuldigungen ähnlicher Prägung wehren müssen: die Halakha und der Talmud seien rückständig, unvereinbar mit der Aufklärung, unethisch und homophob; jüdische Intellektuelle haben damals gerichtliche Prozesse gegen öffentliche Beleidigungen des Judentums geführt. Vor diesem Hintergrund ist es ermutigend, dass es Anfang dieses Jahres endlich ein erstes offizielles Treffen zwischen dem Zentralrat der Juden und dem Zentralrat der Muslime in Deutschland gab, um über Rassismus und Fremdenfeindlichkeit in dieser Republik zu sprechen, auch die Orthodoxe Rabbinerkonferenz Deutschland hat sich dieses Jahr mit Vertretern des Zentralrats der Muslime zu Gesprächen getroffen, und das Jüdische Museum Berlin veranstaltet noch in diesem Herbst sein Jubiläumssymposium zum Thema „Visionen der Zugehörigkeit – Juden, Türken und andere Deutsche“, um die Ressourcen pluraler Identitäten in Deutschland zu feiern und zu stärken.

Hartnäckige Bilder
Dennoch, anders als in London nach dem 7/7 U-Bahn Attentat 2005, wo Bürgermeister Ken Livingstone noch am selben Tag öffentlich betonte, die Londoner würden sich als Folge dieses Attentats auf keine Diskriminierung ihrer Muslime einlassen, und auch anders als nach dem Attentat des jungen „Kreuzfahrers“ in Oslo, der im Namen der Religion kaltblütig mordete, worauf Hunderttausende sich dagegen wehrten, in diesen rohen Gewaltakten etwas anderes zu sehen als die ungeheuerliche Tat eines verblendeten Verbrechers, tut sich Deutschland immer noch schwer mit dem öffentlichen Protest gegen die Gleichung „Islam ist Gewalt“, die nach „9/11“ auch bei Liberalen und Feministinnen hoffähig geworden ist.

Die Hartnäckigkeit, mit der das Bild der terroristischen Gewalt in der deutschen Öffentlichkeit an allem „Islamischen“ haften bleibt, ob an Kopftüchern, an Moscheen oder Minaretten, hat mich überrascht, die Unbildung und Unverfrorenheit erschreckt, mit der sich liberale Islamkritiker mit den gewaltsamsten Interpreten islamischer Traditionen verbündet haben, ohne es zu merken. Wenn wir sagen: „der Islam kennt keine Aufklärungstraditionen“, was anderes bedeutet dies, als dass wir den inklusiven Gestus der Schriften von Ibn Ruschd, Al-Farabi, Maimonides, Ibn Arabi vergessen haben, und uns mit denen liieren, die diesen gleichermaßen negieren, wie bestimmte Potentaten in Afghanistan, Saudi-Arabien oder Pakistan? Wissen deutsche Islamkritiker, welche Gesellschaft sie wählen, wenn sie Islam und Gewalt im selektiven Zitieren von Suren zusammendenken, und für welche Auslegungen sie Partei ergreifen, wenn sie meinen, patriarchale, militärische, terroristische Gewalt und islamische Theologie gehörten zusammen? Würde es sich nicht lohnen, die judeo-arabischen Philosophen einmal mehr an den deutschen Schulen zu lehren, die im 13. Jahrhundert über die Unwissenheit im Umgang mit religiöser Tradition unter anderem Folgendes zu sagen hatten:

„Die meisten Leute lesen die Schrift ‚wörtlich‘, sie erklären gar nichts, berühren niemals etwas tieferes, haben nicht einen Funken von jener menschlichen Begabung, die Dinge selbständig zu durchdenken. Sie sind ein Armutszeugnis, man soll ihrer unglaublichen Dummheit gewahr sein, sie zwingen und demütigen [die Schrift] ohne davon auch nur die leiseste Ahnung zu haben, in die primitivsten Niederungen des Geistes, sie verdunkeln den Glanz unserer Religion und sind verantwortlich für den primitiven Ruf, den unsere Tradition bei den Völkern der Welt genießt – Gott gäbe, diese Leute würden schweigen, oder zumindest zugeben, dass sie von den Worten der Weisen nichts verstehen.“ (Moses Maimonides, Einleitung in die Mischna)

Was wissen die…?
Dass dies ein jüdischer Gelehrter schrieb, macht die Sache nur noch dringlicher, er hatte Dutzende arabisch-islamische Zeitgenossen, die dasselbe sagten. Warum lehren wir diese Art von arabischer Aufklärung, die es auch in der persischen, osmanischen, türkischen Literatur in Fülle zu finden gibt, nicht an deutschen Schulen, vorausgesetzt, dass die Intellektuellen, die dies zu organisieren vermöchten, nicht des Zwangs zur Apologie bald müde werden und sich offenere Orte suchen? Wo in der deutschen Öffentlichkeit doch niemand eine Scheu zu haben scheint, alles Mögliche sonst über Islam, Koran, islamische Tradition zu verbreiten? Wissen die Pädagogen und Politiker, Journalisten und Juristen, wen sie verspotten, wenn sie sich für islamische Kultur ohne Aufklärung, ohne Kunst, ohne Weltoffenheit, ohne Demokratie entscheiden, denn dies bedeutet es doch wohl, zu sagen, „die muslimisch-arabische Welt“ oder auch die „Deutschen mit muslimischem Migrationshintergrund“ müssten dies alles erst lernen, und „erst einmal ankommen in unserer Gesellschaft“? Liegt darin nicht ein Hohn gegenüber denjenigen, die für eine offene, kritische Lektüre der Literatur, Geschichte, Kunst, der traditionellen wie der säkularen Quellen mit ihrem eigenen Leben eintreten, mit ihrem intellektuellen wie physischen Leben, hier wie anderswo, jetzt wie schon immer? Wie der Literaturwissenschaftler Nasr Abu Zayd, sel. A., oder der nach England vertriebene israelische Historiker Ilan Pappe, oder der iranische liberale Theologe Abdulkarem Sorush, oder der palästinensische Dichter und Kulturwissenschaftler Abdul-Rahim Al-Shaikh, der in Berlin an die Grenzen des politischen Establishments geraten ist, weil er die Nakba beim Namen nannte? All diese prägen ein „neues Denken“, das nichts, gar nichts, mit der ästhetisch-politischen Ikonographie der Bilder von „9/11“ zu tun hat.

Würde es nicht lohnen, neben den „Nächten zum Ramadan“ mit seinem bunten Programm auch diesem „neuen (alten) Denken“ in Deutschland mehr Gehör zu verschaffen – und daneben ein bisschen mehr Geld für Sprachförderung bereitzustellen, damit das „Islamische“ nicht ständig mit sozialer Misere verwechselt wird? Ebrahim Moosa, ein führender islamischer Theologie, der in den USA lebt, hat vor Jahren ein Buch geschrieben über den klassischen arabischen Theoretiker Al-Ghazali, in dem er behauptet, die islamische Kultur könne gar nicht anders als säkular denken, da ihr Gottesbegriff für billige politische Repräsentationsfiguren im strengen Sinne gar nicht zu haben sei.

Man muss einer solchen These ja nicht zustimmen, aber man könnte sie doch wenigstens öffentlich diskutieren, vielleicht schwände dann die sichere Überzeugung, dass Osama bin Laden und „9/11“ rechtsmäßige Erben „islamistischer“ Lehren seien. Sie entpuppten sich dann als etwas anderes: Doppelgänger, die nur Blinde zu täuschen vermögen, denn „Augen ohne Gedächtnis sehen nichts“! (Carmen Castillo) Leitartikel Meinung

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  1. Frollein XY sagt:

    BRAVO!

  2. Relbrandt sagt:

    sehr guter ARTIKEL! Danke!

  3. Merlin sagt:

    In 1400 Jahren islamischer Geschichte gab es immer auch Reformer und Liberale, die an Fortschritt und Entwicklung interessiert waren. Nur konnten die sich in der innerislamischen Ausseinandersetzung nie wirklich dauerhaft durchsetzen. Es waren und sind Randerscheinungen, die oft für ihre Überzeugungen bedroht wurden oder mit dem Leben bezahlt haben.
    Die Autorin nennt Salman Rushdie um ihre These zu belegen, nein dieser Mann ist der Bewei für die Gegenthese, denn er wurde nicht von Muslimen gefeiert, sondern man forderte seinen Kopf. Und das sogar bei Demonstrationen von Moslems im Westen.
    Man kann den Kern einer Religion, Ideologie, oder wie auch immer man es nennen will, nicht verändern. Islam bleibt Islam, deswegen sind und werden Reformer und Liberale immer scheitern.

  4. Kritiker sagt:

    „Die meisten Leute lesen die Schrift ‚wörtlich‘, sie erklären gar nichts, berühren niemals etwas tieferes, haben nicht einen Funken von jener menschlichen Begabung, die Dinge selbständig zu durchdenken. Sie sind ein Armutszeugnis, man soll ihrer unglaublichen Dummheit gewahr sein, sie zwingen und demütigen [die Schrift] ohne davon auch nur die leiseste Ahnung zu haben, in die primitivsten Niederungen des Geistes, sie verdunkeln den Glanz unserer Religion und sind verantwortlich für den primitiven Ruf, den unsere Tradition bei den Völkern der Welt genießt – Gott gäbe, diese Leute würden schweigen, oder zumindest zugeben, dass sie von den Worten der Weisen nichts verstehen.“ (Moses Maimonides, Einleitung in die Mischna)

    Dieser Text sagt für nur so viel aus das sich diese destruktive Tradition im Islam schon von Anbeginn durch die Jahrhunderte zieht, mal mehr mal weniger aber immer vorhanden. Und es hat sich bis heute nichts geändert.

  5. Naja sagt:

    Der Islam ist eben, wie er ist. Da kann Deutschland ja nichts dafür.

    Rechterhand zitiert diese Dame Maimonides, linkerhand nehmen unsere Polizisten in Berlin mal wieder Muslime fest, die Leute wie mich in möglichst großer Zahl in die Luft sprengen wollen. Toll. Hilft mir auch nichts, dass der Islam im 13. Jahrhundert mal ganz knorke war, wenn neben mir eine Bombe hochgeht.

  6. schwesteringeborg sagt:

    Soll der Westen sich jetzt auch noch dafür entschuldigen, dass er das Fernsehen erfunden hat?

    Wem der Film nicht gefallen hat, möge sich bei der Produktionsgesellschaft al Kaida beschweren, mir hat er auch nicht gefallen.

    Aber das Kontrastprogramm, das die Menschen in den Straßen von Gaza und Ostjerusalem geliefert haben, diese entfesselte Lebensfreude angesichts der verzweifelten Menschen in den brennenden Türmen, hat mir auch nicht gefallen.

  7. BiKer sagt:

    @schwesteringeborg

    solche bilder rufen bei allen menschen unverständnis hervor, die das ganze treiben aus einer gesunden distanz beobachten können. nur eine frage: sie haben tatsächlich nicht mitbekommen, dass diese sezenen gestellt waren? wie sich herausstellte hat man den menschen geld gegeben, damit sie vor laufender kamera jubeln. nichts davon gehört?

  8. SkaTer sagt:

    @ Biker
    Sie sind sich aber um keine Antwort verlegen. Ist doch schon traurig genug, dass man überhaupt jemand findet der sowas für Geld macht und man musste mit sicherheit nicht allzu lange suchen.

    Aber davon mal abgesehn, gibt es genug Menschen weltweit die nicht vor den kameras getanzt haben, sich aber gedacht haben: denen geschieht das recht. und das ist keine Minderheit!