RÜTLI-WEAR

Mode, die verbindet

Vor etwa fünf Jahren sorgte die Rütli-Oberschule in Berlin-Neukölln bundesweit für Negativschlagzeilen. Sie wurde zum Inbegriff einer gescheiterten Integration von Migranten. Im September feiert „RÜTLI-WEAR“ sein fünfjähriges Bestehen - Zeit für eine Zwischenbilanz.

Von Felix Fischaleck Freitag, 29.07.2011, 8:30 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 04.08.2011, 9:02 Uhr Lesedauer: 8 Minuten  |  

Vor etwas mehr als fünf Jahren, im März 2006, sorgte die Rütli-Oberschule in Berlin-Neukölln bundesweit für Negativschlagzeilen. Sie wurde zum Inbegriff einer eskalierenden Jugendgewalt und einer gescheiterten Integration von Migranten. Mit der Idee, zusammen mit Schülern der Rütli-Schule ein eigenes Modelabel zu entwickeln, wollten drei Soziologiestudenten der Debatte einen anderen Akzent verleihen. Im September nun feiert „RÜTLI-WEAR“ sein fünfjähriges Bestehen – Zeit für eine Zwischenbilanz.

In der Pflügerstraße 11 in Berlin-Neukölln herrscht ein reges Treiben an diesem schwülwarmen Juninachmittag. Unweit der berühmt-berüchtigten Rütli-Oberschule hat hier im Erdgeschoß die offene Siebdruckwerkstatt Neukölln ihr Zuhause. Offen bedeutet, dass jeder Siebdruckinteressierte sein Projekt verwirklichen kann. Und das merkt man auch an diesem Tag: Ob jung oder alt, deutsch oder englisch gesprochen wird – Diversität ist hier allgegenwärtig.

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Diversität kann auch Differenziertheit bedeuten und genau die vermissten einige, als im März 2006 ein „Medientsunami“ über die Rütli- Oberschule in Berlin Neukölln rollte. „In einem bundesdeutschen Leitmedium konnte ich lesen, dass neben mir die Terroristen der Zukunft zur Schule gehen und die Lehrer verkloppen“, berichtet Tom Hansing (34), einer der Initiatoren von RÜTLI-WEAR, über den medialen Tenor zu dieser Zeit. Hansing, der gerade dabei ist, sein Soziologiestudium zu beenden, stört sich genauso wie seine beiden Kommilitonen Thomas Schmid und Matthias Tenten an der einseitigen Berichterstattung. Sie wollen ein Statement setzen in diesem – in ihren Augen – „Nicht- Integrationsdiskurs“ und beschließen kurzerhand aus Solidarität zu den Schülern T-Shirts mit dem Schriftzug „RÜTLI“ zu drucken. Nach und nach reift die Idee, zusammen mit den Rütli-Schülern eine eigene Modelinie zu entwickeln. Im September 2006 ist es schließlich soweit: RÜTLI-WEAR – ein Hybrid aus Unternehmen und Sozialinitiative – wird ins Leben gerufen.

© RÜTLI-WEAR

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Integriert in den offiziellen Unterrichtsplan können Schüler der 8., 9. und 10. Klasse der Rütli-Oberschule seitdem den gesamten Prozess des Siebdrucks – vom kreativ-gestalterischen Entwurf, über Herstellung der Druckvorstufe bis hin zum Bedrucken eigener Textilien – kennenlernen. Neben berufsqualifizierenden Aspekten sollen in der SDW Neukölln vor allem Soft Skills vermittelt werden: „Ordnung, Disziplin und Rücksicht auf andere zu nehmen – das wird hier jedes Mal wieder auf die Probe gestellt“, schildert Thomas Schmid (32) seine Erfahrungen aus der Arbeit mit den Schülern.

Das Arbeiten in der Gruppe steht in der SDW Neukölln im Mittelpunkt: Ein Projekt, das sich „Schülerfirma“ nennt, soll den Jugendlichen zeigen, dass es in jeder Gruppe eine Rollenverteilung geben muss. In der „Schülerfirma“ wird ein reales Unternehmen und dessen Funktionsbereiche nachgestellt. Benötigt beispielsweise die Tischtennis-AG der Rütli-Schule neue T-Shirts, so schlüpfen die Jugendlichen für dieses Projekt in die Rolle des Geschäftsführers, des Logistikers oder des Druckers.

Wesentlich ist in den Augen von Tom Hansing der integrative Aspekt von RÜTLI-WEAR. Für ihn ist die SDW Neukölln eine „Schnittstelle und Schweißnaht“ – ein Ort, an dem Segregationstendenzen entgegengewirkt und unterschiedliche Welten zusammengebracht werden: „Sie lernen die Welt der komischen Kartoffelfresser kennen“, meint Hansing mit Blick auf die Jugendlichen. Für die Arbeit mit den Schülern ist es seiner Ansicht nach vorteilhaft, dass die Mitarbeiter von RÜTLI-WEAR „jung genug sind, um von den Jugendlichen akzeptiert zu werden und gleichzeitig alt genug, um nicht als ihresgleichen gesehen zu werden.“ Nicht selten kämen auch Jugendliche in die Siebdruckwerkstatt, die schon seit Jahren aus der Schule heraus sind. Für Hansing ist es dann oft verblüffend, wie sich die ehemaligen Schüler entwickelt haben – „zu Persönlichkeiten, die sich gut artikulieren können und wirklich was auf die Reihe gekriegt haben – das ist super.“

© RÜTLI-WEAR

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Auch für Thomas Schmid überwiegen die positiven Erfahrungen im Umgang mit den „Problemkids“: „Sich mit Neuköllner Jugendlichen zu treffen und zu sehen, dass man auf einer Ebene ist, ist etwas Besonderes.“ Für ihn sind es vor allem die Augenblicke außerhalb der Werkstatt, die in Erinnerung geblieben sind – zum Beispiel die be Berlin- Kampagne, für die einige Schüler der Rütli-Schule als Botschafter standen.

Er erzählt aber auch von Schwierigkeiten im Umgang mit den Jugendlichen. Von Schülern, die „keinen Bock hatten“, von Gruppen, die „rausgeschmissen wurden“ und von Geld und Sachen, die aus der Werkstatt entwendet wurden. „Wir waren am Anfang teilweise sehr blauäugig und haben Lehrgeld bezahlt,“ berichtet Schmid selbstkritisch. Die spezifische Lebenswelt der Rütli-Schüler sei ihm durch solche Vorfälle immer wieder vor Augen gehalten worden. Eine Lebenswelt, die auf den ersten Blick sehr rau wirkt: Die Rütli-Schule liegt im Nordosten des Bezirks Neukölln, im sogenannten Reuterkiez. Eine Gegend, die noch bis vor kurzem mit Arbeitslosigkeit, Armut und Verwahrlosungstendenzen in Verbindung gebracht wurde.

Der Berliner Sozialstrukturatlas von 2008, ein Bericht mit statistischen Kenngrößen zur sozialen Entwicklung der Stadt, führt den Reuterkiez auf Rang 370 von insgesamt 415 Kiezen. Demnach leben zwischen 55 und 65 Prozent der Kinder unter 15 Jahren in Familien mit Transferbezug. Die Arbeitslosigkeit liegt bei ca. 30 Prozent und der Anteil der Bewohner mit Migrationshintergrund ist mit über 40 Prozent vergleichsweise hoch.

© RÜTLI-WEAR

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Über 80 Prozent der Rütli-Schüler sind ausländischer Herkunft. Kein Wunder also, dass die Vorfälle im März 2006 in den Medien als Inbegriff gescheiterter Integration bewertet wurden.

Doch 5 Jahre später scheint sich im Reuterkiez einiges gebessert zu haben. Es ist von einer „Integrationsstätte“ zu lesen, die Rütli-Schule selbst wird gar als „Bildungsoase“ bezeichnet. Das millionenschwere Projekt „Campus Rütli – CR² “, das im Januar 2008 der Öffentlichkeit vorgestellt wurde, nimmt dabei eine zentrale Rolle ein. Das vom Bezirksamt und der Stiftung Zukunft Berlin getragene Modell setzt sich – wie auf der offiziellen Website nachzulesen ist – „die beispielhafte Verwirklichung eines neuartigen und nachhaltigen Bildungskonzeptes mit Schaffung eines gemeinsamen Sozialraumes“ zum Ziel. Der Kerngedanke hinter dem Projekt ist die Vernetzung der verschiedenen Erziehungs- und Bildungsbereiche in dem von Armut und Arbeitslosigkeit belasteten Kiez. Im Mittelpunkt steht die Gemeinschaftsschule – ein Zusammenschluss der Heinrich-Heine-Realschule, der Rütli-Hauptschule und der Franz-Schubert-Grundschule. In der medialen Berichterstattung wurde das Projekt bisher mit viel Wohlwollen und Zustimmung begleitet, es wird als „modellhaft, als ein „Leuchtturm“ gefeiert.

Aber entspricht dieses Bild auch der Lebenswirklichkeit? Thomas Schmid hält den Campus Rütli prinzipiell für ein „super Konzept, denn es macht Sinn, die verschiedenen Bildungsbereiche zu vernetzen.“ Doch er spart auch nicht mit Kritik an dem ambitionierten Projekt: Gerade den Umstrukturierungsprozess hin zur Gesamtschule, mit der RÜTLI-WEAR kooperiert, halte er in pädagogischer Hinsicht für problematisch – er sehe die Gefahr, dass „Problemkids“ auf andere Hauptschulen abgeschoben werden. Probleme wie Stundenausfall und Lehrermangel gebe es außerdem nach wie vor, deshalb ist für ihn die Rütli-Schule „alles andere als eine Bildungsoase.“ Noch deutlicher wird Tom Hansing: „Die Ideen von Campus Rütli – Akteursintegration und Öffnung in das soziale Umfeld – sind viel Wind um wenig.“ Er kritisiert vor allem, dass die Klassen größer geworden seien und es kaum Fachblöcke mehr gebe, bei denen man mehrere Stunden am Stück arbeiten kann. Campus Rütli klinge daher in seinen Ohren eher nach einer „Sparmaßnahme“.

© RÜTLI-WEAR

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Wenn man sich so mit Thomas Schmid und Tom Hansing über den Campus Rütli unterhält, ist eine gewisse Enttäuschung deutlich spürbar. Darüber, dass sie und andere Akteure vor Ort nicht in den Campus Rütli eingebunden werden. Aber vor allem darüber, dass, wie Tom Hansing anmerkt, „wie so häufig was gemacht wird, ohne Partizipation derer, um die es eigentlich geht – die Jugendlichen.“ Allgemein sei der Reuterkiez, in dem er seit Jahren wohnt, noch weit entfernt von einer Integrationsstätte: „Der Kiez ändert sicht total krass, aber inwieweit das zur Integration von Bio-Deutschen und Nicht-Bio-Deutschen führt, das ist völlig unklar.“

Was treibt die Initiatoren von RÜTLI-WEAR also an, weiterhin ihren Beitrag zur Integration zu leisten? In erster Linie scheint es Idealismus zu sein oder wie Tom Hansing sagt: „130 Prozent Idealismus. Wenn man nicht die kleinen Freuden wertschätzt, wie glückliche Kindergesichter und Beziehungen, die sich zu den Jugendlichen aufbauen – dann kann man diese Arbeit nicht machen.“ Denn profitabel ist das Unternehmen RÜTLI- WEAR bis heute nicht. Der Verkauf der T-Shirts ist lediglich ein Zubrot und reicht bei weitem nicht aus, um die sozialen Projekte zu finanzieren. RÜTLI-WEAR ist daher auf Fördergelder angewiesen.

Das soll sich nun ändern: Mit „Common/Basic/T“ hat RÜTLI-WEAR gerade ein vielversprechendes neues Projekt gestartet. In Zusammenarbeit mit Schülerinnen der Röntgen-Realschule und der Modeproduktion Common Works wurde das Alltagskleidungsstück T- Shirt nach eigenen Angaben „neu“ erfunden. Das Besondere: Die Shirts wurden zu 100 Prozent in Neukölln gefertigt und erfüllen die Anforderungen des GOTS-Siegels – eines der strengsten Siegel im Textilhandel. Damit, erklärt Hansing, wolle man eine neue Form solidarischer Wirtschaft für das Quartier etablieren und Stadtentwicklung von unten betreiben. Mit den Erlösen aus dem Verkauf wird das Community-Label MADE IN NEUKÖLLN unterstützt, das wie RÜTLI- WEAR Bildungsperspektiven für Neuköllner Jugendliche erweitert. Wird das Projekt ein Erfolg, so könnte sich die soziale Arbeit von RÜTLI- WEAR künftig von alleine tragen. Zu wünschen wäre es Tom Hansing und seinen Mitstreitern aus der Pflügerstraße 11 allemal. Gesellschaft Leitartikel

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