Yasemin Karakaşoğlu
Nicht selten werden Individuen mit Kulturen gleichgesetzt
Schule in der Einwanderungsgesellschaft - Was sind die Anforderungen an Lehrer an einer multikultirellen Schule und was bedeutet eigentlich "interkulturelle Kompetenz"? Diese und weitere Fragen beantwortet Yasemin Karakaşoğlu, Professorin für Interkulturelle Bildung und Konrektorin der Universität Bremen, im Interview.
Von Mercedes Pascual Iglesias Mittwoch, 13.04.2011, 8:28 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 06.04.2015, 17:31 Uhr Lesedauer: 8 Minuten |
Mercedes Pascual Iglesias: Frau Karakaşoğlu, Sie forschen am Bremer Lehrstuhl für Erziehungswissnschaften, Interkulturelle Bildung über Bildungsbiografien und Bildungsstätten. Welche Aufgaben haben Schulen in einer Einwanderungsgesellschaft?
Zasemin Karakaşoğlu: Schulen vergeben Lebenschancen.
Sie haben die Aufgabe, im klassischen Sinne von Bildung die Persönlichkeitsbildung der Individuen zu unterstützen, ihre Selbstbildsamkeit zur Entfaltung zu bringen und gesellschaftliche Partizipation zu ermöglichen. Sie tun dies durch die Vermittlung von Kulturtechniken, Wissen und sozialen Kompetenzen. Diese sind, nur zur Erinnerung, da dies angesichts der allgemeinen Fixiertheit auf Leistungstest in Vergessenheit zu geraten droht, nicht Ziel, sondern Mittel von Bildung. Schulen sind damit der zentrale Motor von Integration aller in die Gesellschaft, nicht nur der Menschen mit dem so genannten Migrationshintergrund.
Pascual Iglesias: Was hat die Schule und was braucht die Schule, um ihrer Integrationsaufgabe für alle gerecht zu werden?
Yasemin Karakaşoğlu, geboren 1965, deutsch-türkisches Elternhaus, ist Professorin für Interkulturelle Bildung und Konrektorin der Universität Bremen, Erziehungswissenschaftlerin, Turkologin, u.a. Gründungsmitglied der muslimischen Akademie in Deutschland und Mitglied des Sachverständigenrates deutscher Stiftungen für Integration und Migration.
Karakaşoğlu: Zuallererst muss die Realität in den Klassenzimmern Deutschlands wahrgenommen werden und die ist geprägt von einer kulturellen Heterogenität, zumindest auf Seiten der Schüler und Schülerinnen. Kinder mit Migrationshintergrund machen bundesweit knapp 30% der Schülerschaft aus. In den Großstädten Deutschlands sind sie je nach Stadtteil und Schulform sogar häufig in der Mehrheit.
Pascual Iglesias: Migration ist sicherlich ein wichtiger Faktor, der zur kulturellen Heterogenität der Schülerschaft beiträgt, aber meines Erachtens auch nicht der Einzige, der eine Rolle in der Schule spielt. Ich denke da an Äußerungen von Pädagoginnen und Pädagogen wie „Kevin ist kein Name, sondern eine Diagnose“.
Karakaşoğlu: Das stimmt, wenn wir ´Kultur´ nicht nur im Sinne von ´Nationalkulturen´ oder ´Ethnien´ denken, sondern einen erweiterten Kulturbegriff zugrunde legen, bei dem auch soziale Milieus, Geschlecht, Alter, verschiedene familiäre Konstellationen etc. das kulturelle Selbstverständnis von Einzelnen und Gruppen beeinflussen.
Der Ansatz der Intersektionalität, der Verknüpfungen von Differenz und die situative Wirksamkeit dieser Verknüpfungen in den Blick nimmt, versucht die eindimensionale Sicht auf Kultur als ethnisch bzw. religiös bestimmte, statische und alles dominierende Größe aufzubrechen. Dies Lehrern und Lehrerinnen sowie angehenden Pädagogen und Pädagoginnen zu vermitteln, ist eine wichtige Aufgabe der Lehreraus- und -fortbildung.
Pascual Iglesias: Eindimensionalität kann man je per se als schlecht abtun, aber welchen Schaden richtet dieser Blick konkret in der Schule an. Oder genauer: was müssen Lehrer lernen, um heterogene Schülerinnen- und Schülerklassen unterrichten zu können?
Karakaşoğlu: Es geht unter anderem darum, deutlich zu machen, dass nicht alles Kultur ist im so genannten ´interkulturellen Konflikt. Ich sage bewusst Konflikt, denn im schulischen Kontext werden diese interkulturellen Lernsituationen häufig eher in ihrer Konflikthaftigkeit wahrgenommen, weniger als Bereicherung der Lernatmosphäre und der Lernmöglichkeit schlechthin.
Die Auseinandersetzung mit Einstellungen und Verhaltensweisen, die nicht der eigenen Normalitätserwartung von Lehrern sowie anderer Schüler entsprechen, führt häufig zu Irritationen bzw. Konflikten.
Pascual Iglesias: Können Sie Beispiele nennen?
Karakaşoğlu: Es sind die bekannten Themen, die gesamtgesellschaftlich diskutiert werden. Diese Konflikte beziehen sich, wie beim Thema Kopftuchtragen von Schülerinnen und Lehrerinnen, oder bei der Teilnahme am koedukativen Sportunterricht, an Klassenfahrten und am Sexualkundeunterricht – in vielen Fällen auf religiöse Unterschiede.
Womit die vom Mainstream abweichende Religion in den Blick gerät und zum Synonym für das Fremde wird. Diese Konflikte werden dann häufig missverständlich als ´interreligiöse´ Konflikte´ bezeichnet, wobei real weniger das Aufeinandertreffen verschiedener religiös begründeter Deutungsmuster zum Tragen kommt.
Vielmehr trifft eine religiös konnotierte Sichtweise bei Familien oder Individuen mit Migrationsgeschichte auf eine sich säkular verstehende Sichtweise von Schule bzw. Lehrern und Lehrerinnen. Allerdings präsentiert sich die Schule keinesfalls als der religionsneutrale Ort, der sie in der Sichtweise vieler Lehrer und Lehrerinnen ist.
Pascual Iglesias: Stimmt, christliche Feste durchziehen den Schuljahresplan. Lehrerinnen tragen christliche Symbole, die Einschulung der Erstklässler beginnt in Köln mit einem katholisch/evangelischen Gottesdienst und der christliche Religionsunterricht ist Teil des Regelunterrichts.
Karakaşoğlu: Interkulturelle Lernsituationen sind komplex und erfordern ein hohes Maß an interkultureller Kompetenz, weil die situative Gültigkeit oder Aktivierung von kulturell begründeten Werten und Normen nicht immer erkannt wird. Nicht selten werden Individuen mit Kulturen gleichgesetzt, die sie aufgrund ihrer oder der Herkunft ihrer Familien für Lehrer und Lehrerinnen repräsentieren. Es wird häufig nicht erkannt, inwiefern eine bestimmte Handlungsweise beispielsweise von Schülern gegenüber Lehrern bzw. Lehrerinnen eine spezifische Interaktion zwischen diesen beiden Personen darstellt und nicht ein generelles, auf die Kultur des Gegenübers zu beziehendes Handlungsmuster ist.
Gegenseitige kulturelle Zuschreibungen führen leicht zu Pauschalisierungen und zum Verlust der Handlungsfähigkeit in der pädagogischen Situation. Dies ist fatal, wenn der Professionelle in dieser Beziehung, nämlich der Lehrer bzw. die Lehrerin, sich als ohnmächtig gegenüber als dominant und daher bedrohlich empfundenen fremd-kulturellen Deutungsmustern erfährt. Leicht kommt da die Rede vom türkischen Macho oder dem unterdrückten Kopftuchmädchen auf.
Pascual Iglesias: Was bedeutet es denn eigentlich genau, interkulturell kompetent zu sein?
Karakaşoğlu: Interkulturelle Kompetenz, um mit solchen Situationen konstruktiv umgehen zu können, setzt eine hohe Kenntnis unterschiedlicher kultureller Verhaltensweisen voraus, wie auch das Wissen um den im Einzelfall sehr individuellen Rückgriff auf kulturelle Deutungsmuster. Die Fähigkeit des sich Einfühlens, der die Fähigkeit zur Perpektivenübernahme vorausgeht und – ganz wichtig zur Bewältigung von Konfliktsituationen – die Fähigkeit, Widersprüchlichkeit zunächst aushalten zu können, ohne die Mehrdeutigkeit von Informationen sofort als pauschal negativ oder positiv zu bewerten.
Diese Fähigkeiten werden nicht einmal erlernt und dann immer ´gekonnt´, sondern müssen immer wieder reflektiert und eingeübt werden und nehmen meines Erachtens bislang zu wenig Raum in der Lehrer und Lehrerinnen Aus- und Fortbildung.
Pascual Iglesias: Welche Einstellungen haben Lehrer zur migrationsbedingten Heterogenität der Schüler und Schülerinnen?
Karakaşoğlu: Lehrer und Lehrerinnen haben in Deutschland häufig eine Vorstellung von einer Normalbiographie von Schülern und Schülerinnen, die sich aus ihrer eigenen Erfahrung als Schüler und Schülerin speist. Es gibt mehrere Untersuchungen, die sich damit befasst haben. Bender, Szymanski und Auernheimer sprechen von einem ethno- und einem synergieorientierten Handlungsmodus, der sich bei den Pädagogen und Pädagoginnen im Umgang mit kultureller Heterogenität ihrer Schülerschaft zeigt. Gemeint ist damit ein Handlungsmuster, das entweder kultureller Vielfalt gegenüber indifferent, skeptisch bis ablehnend gegenüber steht und das eigene Handeln angesichts kultureller Irritationen nicht hinterfragt. Während beim synergieorientierten Handlungsmuster der Umgang mit lebensweltlicher ethno-kultureller Differenz im Klassenzimmer als Horizont erweiternd erfahren und als Lernsituation auch im Hinblick auf die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit erlebt wird.
Doris Edelmann, die in der Schweiz eine Lehreruntersuchung durchführte, stellte die aktive Berücksichtigung sprachlicher Vielfalt als Indiz für Interkulturalität heraus. Das heißt, ob die Voraussetzung, dass Kinder mit Migrationshintergrund häufig andere als die deutsche Sprache als Erstsprache mitbringen, in Unterrichtskonzepten und in der sprachlichen Gestaltung des Unterrichts berücksichtigt wird oder nicht, markiert die Grenzlinie zwischen interkultureller Aufgeschlossenheit und Verschlossenheit.
Es scheint vor allem abhängig von den persönlichen interkulturellen Ressourcen der einzelnen Lehrperson abzuhängen, ob Schüler und Schülerinnen in den Genuss eines Diversität konstruktiv berücksichtigenden Unterrichts kommen.
Diese können im persönlichen Migrationshintergrund, dem engen Kontakt zu Migranten und im Interesse am Thema Migration begründet sein. Allerdings wird auch deutlich, dass sich „die Ausprägung der pädagogischen Zusammenarbeit im Kollegium als bedeutender Einflussfaktor bezüglich des Umgangs mit der kulturellen Heterogenität erweist.“ Also die Einstellungen des Teams. Wesentliche Faktoren, die dies befördern, sind das interkulturelle Leitbild bzw. das Schulprogramm sowie die Unterstützung interkultureller Orientierungen und Aktivitäten des Kollegiums durch die Schulleitung. Dies verweist auf die immense Bedeutung der Schulentwicklungsarbeit, der Weiterentwicklung der Organisation Schule im Hinblick auf den Umgang mit migrationsbedingter Heterogenität.
Pascual Iglesias: Ist Ihrer Meinung nach bereits ein Prozess zur Entwicklung einer Schule für die Einwanderungsgesellschaft in Gang gesetzt worden.
Karakaşoğlu: Es gibt bereits eine beachtliche Vielfalt an ambitionierten Projekten in den Städten und Gemeinden. In einer Vielzahl von Schulen finden häufig viele Förderprojekte gleichzeitig statt, denn wer sich qualifiziert hat, ein Projekt durchzuführen, dem trauen die Drittmittelgeber auch weitere produktive Aktivitäten in die gleiche Richtung zu. Das Mathäusprinzip führt an manchen Schulen fast schon zu einem Überangebot, während sich an anderen Standorten nichts dergleichen tut.
Über Städten wie Hamburg, Bremen, Köln oder Essen liegt ein stellenweise dichter Teppich an Förderprojekten für die Zielgruppe der Kinder mit Migrationshintergrund, der ohne das Engagement zivilgesellschaftlicher Akteure wie der Stiftungen kaum realisierbar wäre. An Ideen, wie der Bildungsbenachteiligung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund begegnet werden sollte, fehlt es also keineswegs. Allerdings ist bislang weder in NRW noch in den Stadtstaaten ein Gesamtkonzept Interkultureller Bildung auszumachen, in dem die Maßnahmen sinnvoll aufeinander aufbauen, bzw. aufeinander abgestimmt und miteinander verschränkt sind. Und welches die Kinder und Jugendlichen ohne Migrationshintergrund ebenfalls in Konzeptionen interkultureller Bildung als Zielgruppe einbezieht. Auffällig ist, dass diese Schulprojekte für sozial Benachteiligte, die deren Leistungspotentiale besser unterstützen sollen, ausnahmslos Angebote sind, die den Regelunterricht nicht tangieren und die sich ausschließlich an die Zielgruppe der Kinder mit Migrationshintergrund richten. Diese Maßnahmen haben vielfach den Charakter von ad-hoc-Hilfen für akute Fälle. Sie benötigen einen gesamtkonzeptionellen Rahmen, in dem sie nachhaltig Wirkung entfalten können.
Pascual Iglesias: Vielen Dank für das Gespräch! Aktuell Interview
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