Tanz auf zwei Hochzeiten

Kultur-Konflikt-These? Nein! Hybride Identitäten!

Damals war alles anders, damals als 11.9. noch ein ganz normaler Tag war. Heute brauche ich nicht mehr geografisch klugscheißen, „Oh, aus Afghanistan?“, bemitleidet man mich teilweise und dann geht es auch schon los…

Von Nasirah Raoufi Montag, 28.03.2011, 8:26 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 30.05.2011, 0:08 Uhr Lesedauer: 3 Minuten  |  

Im Alltag werde ich – wie viele meiner Artgenossen – sehr oft gefragt, woher ich komme. Diese Frage beruht meist auf Interesse, das habe ich mittlerweile eingesehen oder rede es mir ein. Im Jugendalter hat mich das nicht selten an den Rand des sozialen Dilemmas geführt. Mir wurde bewusst, dass ich wohl „anders“ bin, obwohl ich dieselbe Kleidung trug wie meine deutschen Mitschüler, dieselbe Musik hörte und dieselben pubertären Hass-Tiraden gegen alles „Nicht-Coole“ schwang.

Na gut, dann bin ich eben anderer Herkunft, deutsches Essen schmeckt sowieso nach nichts und wir haben immer irgendwelche Feste zu feiern und dürfen uns da schick machen. Ihr habt nur Weihnachten und wisst oft nicht einmal, wieso ihr das feiert. „Ich komme aus Afghanistan!“ „Wo liegt das denn noch mal?“, fragten mich erwachsene Menschen, die bestimmt Erdkunde in der Schule hatten.

___STEADY_PAYWALL___

Damals war alles anders, damals als 11.9. noch ein ganz normaler Tag war. Heute brauche ich nicht mehr geografisch klugscheißen, „Oh, aus Afghanistan?“, bemitleidet man mich teilweise und dann geht es auch schon los… aus SmallTalk wird ungewollter BigTalk und mir wird plötzlich Allwissenheit zugesprochen. Ich muss Islamwissenschaftlerin, Ethnologin, Politologin, Journalistin und Vorzeigemigrantin zugleich sein.

Ihre Mutter könnte eine von den unterdrückten Frauen sein, die ein Kopftuch tragen muss und ich deshalb darüber nicht reden will, weil es mir unangenehm ist. NEIN, ich schäme mich nicht dafür, es geht aber KEINEN was an, wie meine Mutter sich zu kleiden pflegt!

Viel zu viele Fragen aus allen Ecken, von denen manche einfach unbeantwortet bleiben, weil ich erstens mit Fremden oder nur Teilzeit-Bekannten nicht über alles sprechen mag und zweitens einfach nicht weiß, was man auf die Frage „Wie ist das mit den Ehrenmorden?“ antworten soll. Was ist das bitte für eine Frage? Das führt bestimmt zu den wirrsten Vermutungen. Ihre Mutter könnte eine von den unterdrückten Frauen sein, die ein Kopftuch tragen muss und ich deshalb darüber nicht reden will, weil es mir unangenehm ist. NEIN, ich schäme mich nicht dafür, es geht aber KEINEN was an, wie meine Mutter sich zu kleiden pflegt! Und diese wirklich SCHLECHTEN Witze auf Kosten meiner Herkunft sind nun wirklich so alt. Ich bin nicht verwandt mit Osama Bin Laden, wie denn auch Sie Schlauberger – nur weil er sich angeblich in Afghanistan versteckt, macht den Sohn einer syrischen Mutter und eines jemenitischen Vaters nicht zu einem Afghanen!

„Interesse, reines Interesse“, sage ich mir, wenigstens schauen sie nicht direkt entsetzt, nachdem sie „Afghanistan“ hören. Wie einseitig doch Afghanistan in den Medien, angesichts der vergangenen und momentanen Realitäten oft dargestellt wird. Man erfährt viel Negatives transportiert über Leid, Frauenleid, Kinderleid, Kriegsleid etc. p. p.. In Deutschland lebende Afghanen leiden oft massiv unter dem ihnen entgegengebrachten Misstrauen oder den Verallgemeinerungen u.a. der Gleichsetzung der Muslime mit potentiellen Terroristen, Extremisten und Extremismus, Gewalt und Rückschritt. Was ist mit der Leistung, die sie in Deutschland vollbringen?

Auf die Gefahr hin, dass Thilo Sarrazin jetzt Schnappatmungen bekommt: Die Elite unter den Migranten wird immer größer. Afghanen, Iraner, Türken, Araber und Co., jene „Zweiheimische“, die als Teil Deutschlands immer selbstverständlicher werden. Deutschland, die neue Heimat. Nachdem die Schmerzen der Heimatlosigkeit etwas gelindert sind, fühlt sich der Großteil der hier lebenden Deutsch-Afghanen zwei kulturellen Räumen zugehörig: Afghanistan und Deutschland.

Entgegen der häufig vertretenen Kultur-Konflikt-These leben wir nicht „zwischen zwei Kulturen“, sondern sind hybride Identitäten. Wir haben eine Balance geschaffen und tanzen auf zwei Hochzeiten – und zwar unheimlich gerne! Aktuell Meinung

Zurück zur Startseite
MiGLETTER (mehr Informationen)

Verpasse nichts mehr. Bestelle jetzt den kostenlosen MiGAZIN-Newsletter:

UNTERSTÜTZE MiGAZIN! (mehr Informationen)

Wir informieren täglich über das Wichtigste zu Migration, Integration und Rassismus. Dafür wurde MiGAZIN mit dem Grimme Online Award ausgezeichnet. Unterstüzte diese Arbeit und verpasse nichts mehr: Werde jetzt Mitglied.

MiGGLIED WERDEN
Auch interessant
MiGDISKUTIEREN (Bitte die Netiquette beachten.)

  1. kunstreich sagt:

    Langsam beschleicht mich das Gefühl die ganze Misere der »Integration« ist ein teuflisch perfider Plan.

    Diese saturierte und restriktive Mehrheitsgesellschaft schafft es den »Dazugekommenen« ein so nachhaltiges Gefühl der Ablehnung einzutrichtern, dass diese ganz im Lebensgefühl eines einzigen Stockholm-Syndoms versuchen sich zu etablieren, dass tatsächlich langfristig eine Elite, »Migranten« heranwächst, die sich gegen alle Widerstände durchzusetzen vermag.

    Diese kann gar nicht anders als — endlich angekommen — für die Zukunft dieser — der »eroberten« Gesellschaft — das Eisen aus dem Feuer des demographischen Wandels zu holen.

    In Hass-Liebe verbunden. Vielleicht nicht das Schlechteste, wenn man kein Mitleid mit denjenigen hat, die auf »beiden Seiten« auf dem Weg als Kollateralschäden liegen bleiben…

  2. Kalif Harun al-Pussah sagt:

    „deutsches Essen schmeckt sowieso nach nichts und wir haben immer irgendwelche Feste zu feiern und dürfen uns da schick machen. Ihr habt nur Weihnachten und wisst oft nicht einmal, wieso ihr das feiert.“

    Also mir schmeckts. Danke. Und Weihnachten feiere ich obwohl ich kein Christ bin. Weil ich gerne esse ;-), gerne schenke und genausogerne beschenkt werde. […]

  3. Cengiz sagt:

    So lange es Menschen wie Nasirah gibt – selbstbewusst, so wie es sein sollte – und das Migazin, wo sich alle diese Menschen zusammenfinden und ihren Beitrag leisten, blicke ich optimistisch in die Zukunft. Danke!

  4. Karl Willemsen sagt:

    2.Versuch:

    ok, ich fasse zusammen: Deutschland ist klasse, das einzige was stört & nervt sind diese Eingeborenen!

    Was schlagen Sie jetzt vor, was noch geändert werden müsste, damit sich die in D lebende Afghanen auch wirklich allesamt rundherum pudelwohl fühlen? Was sollte zb. in einem verpflichtenden Integrationskurs für Eingeborene, diesen vermittelt werden, damit diese Ihnen nicht mehr so sehr auf den Keks gehen?

    oder wäre es nicht doch besser, gleich Reservate für die Ureinwohner einzurichten, da vermutlich ihre pure Anwesenheit schon genug nervt…?

  5. Sera sagt:

    Also dem Grundtenor Ihres Artikels kann ich zustimmen, allerdings verstehe ich nicht, warum Sie diesen Absatz

    „deutsches Essen schmeckt sowieso nach nichts und wir haben immer irgendwelche Feste zu feiern und dürfen uns da schick machen. Ihr habt nur Weihnachten und wisst oft nicht einmal, wieso ihr das feiert.“

    mit leicht beleidigendem Unterton schreiben mussten…
    Deutsches Essen kann sehr wohl schmackhaft zubereitet werden, und auch wir Christen haben mehr als nur einen Feiertag ;) und ich weiß durchaus, warum jedes einzelne dieser Feste gefeiert wird, ebenso meine Kinder…

    MfG

  6. Fatih Serbest sagt:

    Also der Umgang mit Migranten hierzulande und den Migrantenkindern hat sich in den letzten zehn Jahren erheblich verschlimmert. Jedesmal wenn ich mich mit meinen deutschen Nachbarn, Kollegen, etc. unterhalte, kommen wir immer und immer wieder auf das Thema zurück, der mit dem Satz „…ich bin so froh, dass sie so nett sind…es ist ja heutzutage nicht mehr so leicht…ich meine all diese schlimmen sachen die man so hört…“ Ich antworte dann „Was meinen sie denn jetzt genau?“ und frage aus neugierde weil ja viele schlimme Sachen auf der Erde passieren und mittlerweile genau weiß, warum das Gespräch diese Wendung genommen hat. Als ein Mensch mit zwei Wurzeln (in meinem Fall türkische Nationalität und in Deutschland geboren und aufgewachsen) wird man immer mit der Tatsache konfrontiert, dass die Herkunft dass Gespräch manipuliert. Nicht weil die Herkunft daran Schuld sei. Denn diese ist eine Grenze von Menschen geschaffen. Wenn man sich in diesen Grenzen bewegt schränkt man seine Freiheiten ein. Freies Denken kennt keine Grenzen. Hat keine Nationalitäten. Viele lassen sich eingrenzen und lassen ihre Meinung von dritten Instanzen mit bestimmen. Darin liegt der Hund begraben. Menschen die aus Feigheit ihre Meinung bilden und zudem Gleichzeitig andere verletzen ohne sie vorher kennen zu lernen, sind nicht frei-. Ich esse gerne ab und zu deutsches, afghanisches, sehr viel tunesisches (weil meine Frau aus Tunesien stammt ;) ) und sonst so vieles Essen aus allen Ecken der Welt. Ich feiere gerne auch Feste die nicht nur aus türkischen oder islamischen Anlässen entstammen. Feiert einfach mit…

  7. Migranten müssen sich wie alle anderen Menschen auch divergenten und manchmal auch unvereinbaren sozio-kulturellen und subkulturellen Anforderungen stellen.

    Das lässt sich auch nicht mit Hilfe des mehr als seltsamen Worts „hybrid“ leugnen und wer dennoch leugnet, der muss früher oder später einen hohen Preis dafür bezahlen.

    Die Lösung liegt darin, die vielfältigen Konflikte, Kämpfe und Unvereinbarkeiten, die es faktisch gibt anzuerkennen.
    Natürlich gibt es Abstufungen, je nach den vielfältigen Einflussfaktoren kann sich die Migrationssituation schwieriger oder entspannter darstellen.
    Ich muss eine realistische Sicht der Sache einklagen.

    Und die Rede von einer neuen „migrantischen Elite“ ist widersinnig und unproduktiv, sowie zutiefst konservativ.
    Es geht nicht um elitäre Anpassung, sondern um die Nutzung des migrantischen Widerstandspotentials für grundlegende soziale Veränderungen.

    Wir wollen doch nicht „kleine Sarrazins“ werden.

    Die ständige Rede von der Anpassung und von der Notwendigkeit des Bildungserfolgs verdeckt die eigentliche Notwendigkeit von grundlegenden Veränderungen.

    Josef Özcan (Diplom Psychologe / Amnesty International)

  8. Rudolf Stein sagt:

    @ Josef Özcan
    „Es geht nicht um elitäre Anpassung, sondern um die Nutzung des migrantischen Widerstandspotentials für grundlegende soziale Veränderungen.“
    Es würde mich schon interessieren, welche GRUNDLEGENDE soziale Veränderungen Sie so im Focus haben. Ich entnehme Ihrem Satz, dass mit Hilfe des „migrantischen Widerstandspotentials“ (das ist ebenfalls sehr erklärungsbedürftig!) im sozialen Milieu der Mehrheitsgesellschaft grundlegende Veränderungen herbeizuführen sind. Welche wären das Ihrer Meinung nach? Sollten wir (beispielsweise)“grundlegend“ von unserer Kultur Abstand nehmen? Ggf. Ihre Kultur „grundlegend“ übernehmen? Es würde mich wirklich interessieren, was Sie eigentlich meinen.

  9. Nun, da hinter meinen kurzen Ausführungen ein ganzes Programm steht ist es hier in diesem Rahmen unmöglich auch nur ansatzweise ausführlicher zu werden. Ich will dennoch versuchen 2 Grundlinien zu skizzieren (§1/§2);

    §1 Zunächst einmal stehen wir der Tatsache gegenüber, dass kaum ein Mitglied der „Mehrheitsgesellschaft“ wirklich bereit ist sich tiefer mit der Kultur der Migranten auseinanderzusetzen. Die Anpassungsforderung ist also extrem einseitig. Die kulturelle Anpassungsforderung erfolgt fast ohne jegliche „kulturelle Gegenanpassung“ d.h. es werden die basalsten Regeln der Wechselseitigkeit verletzt (natürlich gibt es auch positive und zukunftsträchtige Bemühungen).

    §2 In der hiesigen Gesellschaft wird „Bildung“ als hoher „menschlicher Wert“ gehandelt und Migranten, die sich diesem „Bildungsideal“ widersetzen werden gebrandmarkt und ausgeschlossen.

    Wenn wir uns aber einmal näher betrachten wie und wozu „Bildung“ vor allem auch vermittelt wird, dann erkennen wir, dass „Bildung“ oftmals lediglich einen Mindeststandard herstellen soll, der das Individuum wirtschaftlich ausbeutbar werden lässt, denn ohne ein Mindestmaß an „Bildung“ ist das Individuum so vor allem auch das migrantische Individuum nicht einmal ausbeutbar. Es zeigt sich, dass es gar nicht um wirkliche „Bildung“ geht, sondern um die Sicherstellung der Mindeststandards auf dem Weg in die Welt der Ausbeutung. Das wird in vielen Schulformen natürlich spürbar; das „Was“ und das „Wie“ der Bildungsvermittlung lässt kenntlich werden, dass es nicht wirklich um „Bildung“ geht, sondern um die Zurichtung für einen immer noch ausbeuterischen „Arbeitsmarkt“. Der Skandal liegt nun u.a. darin, dass sich z.B. migrantische Kinder- und Jugendliche, die sich dieser Verwertbarkeitsideologie entziehen stigmatisiert werden, oder aber es wird in scheinbar verständiger Weise auf ihre schwierige Situation hingewiesen sie werden als „Problemfälle“ gebrandmarkt (Pseudoverständnis);

    wie wäre es wenn wir sie stattdessen einmal wirklich als Menschen ernst nehmen würden in ihrem Widerstand und in ihren Alternativangeboten und zwar ohne den Hintergedanken sie gleich wieder irgendeinem in sich widersinnigen „Bildungsangebot“ zuführen zu wollen.

    Wie wäre es wenn wir darüber nachdenken würden, wie wir eine Gesellschaft schaffen könnten in der Schulabbruch nicht automatisch Lebensabbruch bedeutet, sondern vielfältige andere Möglichkeiten eröffnet. Vielleicht Möglichkeiten in Richtung wirklicher „Bildung“.

    Wie wäre es wenn wir erkennen könnten wie eindimensional unsere Gesellschaft konstruiert ist und dass von dieser Eindimensionalität nur wenige Menschen wirklich profitieren („die Profiteure des kapitalistischen Systems“). Es sollte sich herumgesprochen haben, dass in der hiesigen Gesamtgesellschaft die Gruppe derer die vom Kapitalismus wirklich profitieren immer kleiner und wohlhabender wird.

    Wie wäre es wenn wir jedem Menschen durch ein bedingungsloses Grundeinkommen ein stigmatisierungsfreies Existenzminimum zuerkennen würden, anstatt gerade auch Migranten die ein Existenzminimum gemäß der gegenwärtigen Regeln beziehen als „Sozialschmarotzer“ zu brandmarken.

    Es muss eben GRUNDLEGEND (!!!) umgedacht werden, und der „migrantische Widerstand“ kann ein kleiner Mosaikstein dieses Umdenkens werden.

    Dem Skeptiker sei noch gesagt, dass diese Veränderungen viel schneller und leichter möglich wären als man das für möglich hält, das Problem liegt einzig und allein darin, dass es noch zu viele Menschen gibt, die von der gegenwärtigen Gesamtsituation profitieren. Das gilt natürlich ebenso für viele andere Nationen. Das ist das einzige Hindernis wirklich das Einzige.

    §3, §4, $5 ………………………………..$ 50

    Josef Özcan (Diplom Psychologe / Amnesty International / Kölner Appell gegen Rassismus e.V.)

  10. posteo sagt:

    Josef Özcan sagt: 6. August 2013 um 12:05:
    “ Zunächst einmal stehen wir der Tatsache gegenüber, dass kaum ein Mitglied der “Mehrheitsgesellschaft” wirklich bereit ist sich tiefer mit der Kultur der Migranten auseinanderzusetzen.“

    Ich kann es nicht oft genug wiederholen : In Deutschland leben Menschen aus jedem Land der Welt und deshalb werden hier nicht nur an die 200 Landeskulturen, sondern weit über 1000 Regionalkulturen gelebt.
    Selbst Ethnologen, die sich hauptberuflich mit fremden Kulturen befassen, spezialisieren sich in aller Regel auf einen ganz bestimmten Kulturkreis.
    Und was für die Mehrheitsgesellschaft gilt, müsste auch für die „Zweiheimischen“ gelten. Mit wie vielen Kulturen außer der eigenen Herkunftskultur und der deutschen Zweitkultur haben sich denn die meisten hier im Forum schon intensiver befasst? Ich meine über seinen Lieblings-Italiener oder die eine oder andere Urlaubsreise hinaus.