Ein Fremdwoerterbuch

Die Türken in Wien

Die nervigste Konstante in meinem Leben sind Identitätskrisen. Wer oder was bin ich? Wo gehöre ich hin? Irgendwann kam ich auf die richtige Fährte und fragte: Muss ich irgendwo hingehören?

Von Mittwoch, 02.03.2011, 8:28 Uhr|zuletzt aktualisiert: Freitag, 04.03.2011, 11:11 Uhr Lesedauer: 2 Minuten  |  

Also eigentlich dachte ich ja, das Thema sei in meinem Kopf endlich abgeschlossen. Ich bin, wonach mir lustig ist. Punkt. Ha! Hätte ich wohl gern. Denn was wäre eine Konstante ohne Konstanz? So holte mich die Identitätskrise kürzlich in Wien wieder ein. Ganz heimtückisch und unerwartet.

Wien, muss man wissen, ist fast wie München, mit dem Unterschied, dass Wien auch offiziell nicht in Deutschland liegt, sondern in Österreich. Und in Österreich ist nun mal vieles ganz anders als in Deutschland. Dort heißt die Supermarktkette „Plus“ nämlich „Zielpunkt“, „Aldi“ wird nicht nur in „Nord“ und „Süd“ unterteilt, sondern nennt sich: „Hofer“. In der U-Bahn-Werbung geht es um Abtreibung und in den Kirchen hängen Schilder wie „Schreien ist uncool.“ Außerdem sprechen die Menschen auch ganz anders. Sie rollen das R, haben eine Liverpoolsche Sprachmelodie, und von weitem klingt es wie Türkisch – finde ich.

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Vieles ist anders und damit auch gut. Ich bin ja nicht in Deutsch-, sondern im Ausland. Man holt mich also am Flughafen ab, wir düsen durch die Stadt und kommen bei meinen türkischen Gastgebern an. Herzlich empfängt mich Melek, die Mutter des Hauses, mit Umarmungen, warmem Gebäck, heißem Schwarztee und lecker-üppigem Frühstück. Weil wir unter Frauen sind, hat sie ihr Kopftuch locker nach hinten gebunden und trägt ein T-Shirt. Sie hat ein warmes Lächeln. Wir unterhalten uns auf Türkisch über Gott und die Welt. Ich fühle mich wohl zu Gast bei türkischen Wienern.

Dann, plötzlich, klingelt ihr Handy, sie steht auf, stemmt ihren Arm in die Hüfte und spricht fließend Deutsch. Also Österreichisch. Oder Wiener Deutsch. Vielleicht Ostmittelbairisch. Ich weiß es nicht. Ich kann auch nicht verfolgen, was sie da sagt. Ich bin einfach nur schockiert. Eben noch saß Melek in der Schublade „mütterlich türkisch“, jetzt steht eine lustig frohe Frau mit Wiener Mundart vor mir – mit Kopftuch auf dem Kopf und türkischem Tee im Glas. Man kauft ihr das Österreichische sofort ab. Ohne Zweifel und Zögern. Melek ist eine waschechte Wienerin, ja so wienerisch, dass sie deutscher ist als deutsch.

Ich bin baff. So einfach ist das also. Ein Dialekt war es, das mir in meinen 22 Jahren Integrationsbemühung fehlte. Ich Hamburgerin eierte mit meinem Hochdeutsch durch die Gegend und mischte mich in Integrationsdebatten, dabei fehlte mir nur das Hamburgische. Das „Moin Moin“ meines Mathelehrers und das Grummeln von Käptn Blaubär. „Min Jung“ hätte ich Sarrazin anreden müssen und ein bisschen vom Hamburger Shitwetta snacken sollen. Wir wären bestimmt Freunde geworden.

Schafft das Hochdeutsche ab, verdammt noch mal! Das Goethe-Institut soll Sächsisch lehren oder Bayerisch. Und die Integrationskurse sollen Plattdeutsch unterrichten. Hochdüütsch kann jeden Dösbaddel snacken, Platt is för de Plietschen! Genauso isses. Aktuell Meinung

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  1. Realist sagt:

    Kübra hat doch nur dehalb ein Kopftuch an, damit sie Artikel darüber schreiben kann. Ich glaube nicht, dass man ein Dialekt braucht um eine Identitätskrise zu vermeiden. Jeder Migrant kann sich Dialekte anlernen, aber dazu müsste man sich schon mehr mit den Einheimischen aufhalten und das ist nicht mal bei unserer Musterintegrierten Kübra Gümüsay der Fall, da sie sogar in Wien Menschen findet die Teil ihrer Parallelgesellschaft sind. Wahrscheinlich hat sie der Dialekt ihrer Bekannten deshalb so schockiert, weil es eine absolute Seltenheit ist in ihrem Bekanntenkreis.

  2. Karmel sagt:

    @Realist

    Witzig, nicht? Sie bereist ein anderes Land, in diesem Fall Österreich, und trifft nicht etwa Österreicher…nein, nein…Türken…

  3. Belladetta sagt:

    Liebe Kübra,
    schön, dass Sie noch so staunen können! Glauben Sie denn, dass es Hochdeutsch sprechenden Menschen anders ergeht, wenn sie in die bundesdeutsche Provinz ziehen? Mitnichten. Ich habe viele Jahre gebraucht, um den rheinischen Dialekt so einigermaßen zu verstehen und muss mir bis heute die Karnevalslieder von meiner erwachsenen Tochter übersetzen lassen. Und gerade daher ist das Hochdeutsche eine wirkliche Errungenschaft, unterschätzen Sie die bitte nicht! Wenn Sie nämlich, wie die meisten Provinzler, nicht mehr als einen Dialekt beherrschen und des Hochdeutschen nicht mächtig sind, haben Sie erhebliche Verständigungsschwierigkeiten andernorts. Ich mit meinen norddeutschen und südtirolerischen Vorfahren empfand es immer als äußerst anstrengend, deren Dialekte zu verstehen. Meine Tochter hat da schon weniger Probleme. Sie studiert seit 3 Jahren in Österreich und versteht mittlerweile alle möglichen österreichischen Dialekte gut. Da Verwandte in Vorarlberg wohnen und sie dort seit Kindertagen regelmäßig zu Besuch war, versteht sie auch diesen Dialekt, der den übrigen Österreichern ziemlich fremd ist. So ist sie, die Indo-Germanin, zur Dolmetscherin unter den Österreichern geworden, die leider immer nur ihren eigenen Dialekt verstehen, aber nicht den ihrer diversen Landsleute. Zur Verständigung untereinander brauchen die doch tatsächlich eine Ausländerin. Tja, wenn man von klein auf mehrere Sprachen gelernt hat…
    Sie können übrigens, und das ist meine Erfahrung, 20 Jahre in einem Provinznest wohnen und die Leute werden Ihnen immer noch sagen: „Sie sind nicht von hier, nicht wahr?“ Alles nur, weil Sie Hochdeutsch sprechen.
    Die so oft beklagten Migrantenprobleme sind auch den Deutsch-Muttersprachlern, wenn sie denn in eine andere Region ziehen, nicht unbekannt. Meine Mutter, eine Südtirolerin, sagte früher immer „Wenn Du mit einem Westfalen warm werden willst, musst Du erst sieben Säcke Salz mit ihm essen.“ Deutschland ist ein zutiefst provinzielles Land und wir hören sofort heraus, aus welcher Ecke des Landes jemand stammt, es sei denn, er spricht ein akzentfreies Hochdeutsch. Und natürlich verbinden wir mit einer Region auch eine bestimmte Lebensart und die kann einem dann schon wieder sehr fremd sein. Glauben Sie mir, ein Bayer, der nicht einwandfrei Hochdeutsch spricht, wird niemals Bundeskanzler. Und schon gar nicht Oberbürgermeister von Köln. Da sind die kulturellen Differenzen einfach zu gewaltig. Doch das nur so nebenbei.
    Meine Mutter, die übrigens 5x ihre Staatsangehörigkeit gewechselt hat (ja, das gibts!), besitzt seit 1965 die deutsche Staatsangehörigkeit, doch sie ist und bleibt Südtirolerin. Ihre Cousins in Südtirol dagegen haben einen italienischen Pass und würden sich trotzdem niemals als Italiener bezeichnen, sondern als Südtiroler. Die Verhältnisse in Europa sind ganz schön kompliziert, aber Sie sind ja noch jung und wissen noch sehr wenig.
    Ist jedenfalls mein Eindruck.

  4. NDM sagt:

    @Belladetta:

    Ja, da sagen sie einiges wahres. als Westfale fühlte ich mich in meiner Zeit in Sachsen tatsächlich als Ausländer. Das hatte nicht nur sprachliche, sondern auch kulturelle Gründe. Dennoch: Die Ablehnung, die mir entgegen schlug, war nicht feierlich. Im Norden Bayerns ist diese weniger stark ausgeprägt. Bei Südländern (Südbayern und Süd-BaWü) jedoch ähnlich wie in Sachsen. Im aus meiner Perspektive ebenso fremden Norden ist die Mentalitätslage wiederum völlig anders.

  5. Loewe sagt:

    In München sprechen die jungen Leute reines Hochdeutsch. Ausnahmslos. Bayerisch ist out. (Auf dem Land hingegen ist das noch ganz anders.) Möglicherweise ist es in Hamburg ähnlich wie in München: Kein Platt mehr, nur noch das reine Hochdeutsch unter den jungen Leuten?

    Interessant, dass sich in Wien die Mundart so gut gehalten hat.

    Was die Integration angeht, so zeigt „Realist“ deutlich: Allenfalls das völlige Verschwinden jeder fremden Eigenart wird akzeptiert. Assimilation ist das Minimum. Kübra Gümüsay müsste für „Realist“ wohl auch noch den Namen ändern – Klara Silbermond würde vielleicht passen.

    Die Erfahrung spricht allerdings dafür, dass „Realist“ dann „taqiyya!“ rufen würde …

  6. Realist sagt:

    @Loewe
    Sie stellen assimilation als etwas schlechtes dar, aber das ist es überhaupt nicht. Es ist vielmehr die logische Konsequenz, wenn man sich länger bzw. für den Rest seines lebens in einem bestimmten Land aufhält. Sie werden nie verstehen können, warum Polen, Tschechen, Portugiesen, Spanier, Franzosen assimilation als ganz normal ansehn ohne sich sorgen um ihre Identität zu machen. Ihre Identität besteht meist mehr als nur aus dem Türkentum. Assimilation ist nicht das Minimum, aber es ist kein Tabu, wie es die Türken darstellen

    Ich glaube auch nicht dass Kübra Gümüsay ihr Name ändern muss, aber sie wird wenn sie in Deutschland lebt noch öfter auf ihr Kopftuch angesprochen werden, bzw sie wird sich noch öfter fragen müssen ob sie diesen Weg weiter gehen will. Das Kopftuch und die dazugehörige Ulla Popken-Kleider sind eine Behinderung in unserer Gesellschaft und ein Zeichen der Integrationsunwilligkeit. Diese Tatsache werden auch sie nicht bestreiten können. Ich hoffe nur Kübra Gümüsay wird den Austritt aus dem islam überleben.

    Falls es sie beruhigt Loewe: Ich halte sie für schwerer integrierbar als Kübra Gümüsay.

  7. Loewe sagt:

    Ein Glück, dass ich mich nicht integrieren muss,
    „Realist“.

    Mir scheint aber, dass ich in das moderne, pluralistische, multikulturelle Deutschland besser integriert bin als Sie, „Realist“.

    Assimilation kann jemand schon wählen – aber für mich käme es niemals in Frage.

    Wenn ich zum Beispiel als 20jähriger nach Australien ausgewandert wäre, wäre ich 100%iger Australier und 100%iger Deutscher. Ich bleibe doch auf jeden Fall ich selber, und das heißt: Deutscher, also jemand mit deutscher Muttersprache, deutschen Heimatgefühlen, deutschem Kutlurhintergrund. Das WILL ich nicht aufgeben, wenn ich Australier werde. Das muss ich auch nicht aufgeben.

    Wer sich assimiliert, gibt etwas von sich selber auf. Er kappt seine Wurzeln. Er verliert etwas Wertvolles: Vergangenheit. Das ist schlecht für ihn – und schlecht für das Einwanderungsland. Menschen ohne Wurzeln sind recht armselige Typen. Denen fehlt eine Dimension.

    Es gefällt mir deshalb, wenn sich in Deutschland eingewanderte und eingebürgerte Türken ZUGLEICH Deutschland UND der Türkei verbunden fühlen. Wenn sie ihre Wurzeln hegen und pflegen, auch über Generationen hinweg. Das ist gesund. Das gibt Kraft. Selbstbewusstsein. Da steht man auf seinen eigenen Beinen.

    Man bekommt Distanz zu Deutschland und zur Türkei, weil man das eine immer auch mit den Augen des anderen sieht – genau die Qualifikation, die man als urbaner Mensch heutzutage braucht, um mit den Herausforderungen der Globalisierung fertig zu werden.

  8. Leon sagt:

    Hallo Loewe,
    Ihr völkisches Wurzel-Essay reizt mich doch zu fragen – ich verrate auch nichts – ob Sie aktives Mitglied der Kabarettabteilung von PI sind?

  9. Loewe sagt:

    Da Sie, Leon, wohl nichts zu verlieren hätten, würden Sie Ihre bisherige Identität aufgeben, böte sich in Ihrem Fall natürlich die Assimilation an.

    Auf jeden Fall müssten Sie vermeiden, zwei verschiedene Kulturen unter einen Hut zu kriegen – diese Aufgabe würde Sie völlig konfus machen.

    Die Menschen sind eben verschieden. Und so die Problemlösungen.

  10. Realist sagt:

    @Loewe

    „Die Menschen sind eben verschieden. Und so die Problemlösungen.“

    Wenn jeder anders wäre, dann hätte man nciht mit einer einzigen Bevölkerungsgruppe die gleichen Probleme, oder?