Wochenrückblick
KW 44/2010 – Integrationsgipfel, Multikulti, Sarrazin, korrupte Medien, Neonazis, Ulfkotte
Die Themen der 44. Kalenderwoche: Integrationsgipfel; Deutsche Identitätssuche; Multikulti-Fragen an Angela Merkel; Integrationsgipfel: verlogen; Sarrazin als Integrationsminister; Migranten-Machos werden von Medien gekauft; Das neue Gesicht des Rechtsextremismus
Von GastautorIn Montag, 08.11.2010, 8:22 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 08.11.2010, 2:08 Uhr Lesedauer: 6 Minuten |
Integrationsgipfel
Julius Jasso gibt bei telepolis einen umfassenden Überblick über den Integrationsgipfel. Was hat er gebracht?
Er täuscht vor, dass durch ein Bündel konkreter und vereinzelter Maßnahmen das Projekt der Integration substantiell vorangebracht werden kann. Dabei wird wenig Licht darauf geworfen, dass Integration ein politischer und gesellschaftlicher Prozess ist, der nicht hauptsächlich über das Schicksal einer Minderheit eines Landes entscheidet, sondern vielmehr das Spiegelbild des aktuellen und zukünftigen Charakters der Mehrheitsgesellschaft darstellt.
Jasso bezweifelt grundsätzlich den guten Willen der Bundesregierung:
Die Regierung scheint vielmehr die aktuell schlechte Stimmung gegenüber Zuwanderern für eigene Interessen nutzbar machen zu wollen. Mit mangelhafter Integrationspolitik lässt sich im Moment nämlich prima Haushaltsmittel sparen und vielleicht sogar gleichzeitig Wählerstimmen gewinnen. Wie lange eine solche Politik Früchte trägt, ist die andere Frage.
Deutsche Identitätssuche
Für Matthias Dobrinski (SZ) ist die Integrationsdebatte eine Identitätsdebatte der deutschen Mehrheit. Wieviel Fremdheit geht, wie viel Homogenität ist nötig?
Diese deutsche Identitätssuche überlagert die Sozialdebatte, sie macht sie ideologisch, sie stilisiert soziale Fragen zu kulturellen Überlebensfragen. Die Deutschkurs-Verweigerer, Sozialhilfebetrüger, Gewalttäter sind dann mehr als nur Regel- und Gesetzesbrecher – sie werden zum angeblichen Menetekel der Selbstaufgabe des Abendlandes.
Nur so ist der Erfolg von Thilo Sarrazin zu verstehen, der geschickt Sozialdarwinismus mit Fremdenabwehr kombiniert hat. Nur so ist der Islamhass zu verstehen, der derzeit wächst und in einer Weise aggressiv wird, dass einem angst und bange werden kann. Es geht um Identität durch Abgrenzung und Ausgrenzung.
Multikulti-Fragen an Angela Merkel
Dorothea Jung erklärt im Deutschlandfunk, was falsch ist an der Multikulti-Debatte:
Hat die Bundeskanzlerin begriffen, was die Sarrazin-Debatte unter den integrierten Migranten angerichtet hat? Kann sie sich vorstellen, wie die Verachtung eines Thilo Sarrazin bei denen ankommt? Hat Angela Merkel eine Ahnung davon, was ein Einwanderer in einer derart aufgeladenen Debatte empfindet, wenn seine Bundeskanzlerin ihn gerade jetzt wissen lässt, dass Deutschland kein Einwanderland ist? Kann die Regierungschefin ermessen, wie verletzend es für ihn ist, wenn sie es in dieser angespannten Situation wichtig findet, zu betonen, dass Multikulti gescheitert ist? Weiß sie nicht, dass der Begriff für die politische Debatte nicht mehr taugt? Es ist aber ein Begriff, der die Identitätsgefühle zahlreicher Einwanderer angemessen beschreibt. Weil sie eben aus zwei Kulturen stammen!
Umfragen belegen, dass seitdem Thilo Sarrazin sein Buch veröffentlicht hat, mehr als die Hälfte der Herkunftsdeutschen den Islam am liebsten verbieten würden. Die Islamdebatten offenbaren heftige Ressentiments. Medien und Politik dreschen vielfach undifferenziert auf Muslime ein, ohne zu fragen, ob ein muslimischer Bürger sich etwas hat zuschulden kommen lassen, ob seine Moscheegemeinde tatsächlich problematisch ist, oder was er wirklich denkt. Stattdessen behandelt die Debatte einen Großteil der Einwanderer wie Feinde. Nur selten wird berücksichtigt, dass es hier um Menschen geht.
Integrationsgipfel: verlogen
Michael Spreng (CDU, Blog: Sprengsatz) warnt deshalb seine Partei in seinem Kommentar zum Integrationsgipfel:
… die CDU und CSU haben sich für eine gefährliche Doppelstrategie entschieden: einerseits Lippenbekenntnisse und halbherzige Angebote zur Integration, andererseits geben sie dem fremdenfeindlichen Affen Zucker: “Multikulti ist gescheitert” (Merkel) oder “keine weitere Zuwanderung aus fremden Kulturen” (Seehofer). Sie glauben, Fremdenfeindlichkeit so demokratisch kanalisieren zu können, in Wirklichkeit geben sie den Migrantenfeinden das Gefühl, ihre heimlichen Verbündeten zu sein. Politiker dürfen das halt nicht so deutlich aussprechen, meinen diese und fühlen sich ermutigt.
Den Integrationsgipfel nennt er deshalb eine verlogene Veranstaltung:
Ehrlich wäre es gewesen, erst einmal über die Deutschen und die rapide Zunahme der Ausländerfeindlichkeit zu sprechen und das aufgeheizte gesellschaftliche Klima, in dem der Gipfel stattfand. In einer Zeit, in der Desintegration mit Millionenauflagen gefördert wird, ist es einseitig und damit falsch, von Zuwanderern bessere Integration zu verlangen, wenn nicht gleichzeitig von den Deutschen gefordert wird, Migranten offen und vorurteilsfrei aufzunehmen. Beides ist untrennbar verbunden. Es gibt eine Hol- und eine Bringschuld.
Sarrazin als Integrationsminister
Auch BILD berichtet über den Integrationsgipfel im Kanzleramt und fragt:
Warum war eigentlich Thilo Sarrazin nicht dabei?
Merkels Integrationsbeauftragte, Maria Böhmer, fordert ein Integrationsministerium auf Bundesebene, damit Integration als Querschnittsthema in einem Ressort zusammengefasst werden kann. BILD-Kommentar:
Dass Thilo Sarrazin Chef eines solchen Ministeriums wird, hat heute übrigens keiner vorgeschlagen.
Migranten-Machos werden von Medien gekauft
Auf der anderen Seite der Frontlinie kümmert sich der Sozialarbeiter Woldemar Olesch um die schwierigen Migrantenjungs in einem Berliner Kietz. Die Medien sind heiß darauf, in live-Reportagen dabei zu sein, wenn eine kriminelle Aktion steigt. Olesch: “
Ich werde ständig von TV-Produktionsfirmen nach jungen Protagonisten für „bad News“ gefragt. Die Leute wollen live sehen, was sie schon immer wussten: Dass kriminelle Jugendliche, noch dazu Muslime, in Banden durch die Hauptstadt-Ghettos ziehen und sich einen Dreck um eine Integration in die deutsche Leitkultur scheren.
Was die Jungs über ihr wirkliches Leben in der „Parallelgesellschaft“ zu erzählen haben, interessiert kaum. Der Stern, der mit Olesch gesprochen hat, liefert eine Preisliste. Ein Auszug:
Für eine gestellte Prügelszene gab es 400 Euro. Für Posen mit Kapuze vor der Kamera wurden 30 bis 100 Euro gezahlt. Das Andeuten eines Steinwurfs in Richtung der Reporter war 250 Euro wert.
Das neue Gesicht des Rechtsextremismus
Klaus Farin leitet das Archiv der Jugendkulturen In einem Interview mit Jungle World stellt er fest: Die rechtsextreme militante Jugendszene sei in den letzten 10 Jahren quantitativ schwächer geworden, von 15 000 organisierten Rechtsextremen auf 8 bis 12 000 geschrumpft. Das Bild hat sich gewandelt, aber nicht zum Besseren:
Ich denke, dass ein Sarrazin gefährlicher ist als alle Neonazis in diesem Land. Und was die Verbreitung von rechtsextremem Denken angeht, hat sich sicherlich wenig geändert. Unter Jugendlichen gibt es viel rechtes, vor allem rassistisches Gedankengut, wie in der erwachsenen Bevölkerung ja auch. Das hat aber nichts mit organisiertem Rechtsextremismus zu tun, da geht es um Jugendliche, die sagen: „Nazis und Ausländer kann ich nicht leiden.“ Möglicherweise ist das die gefährlichere Tendenz, weil das nicht als extrem wahrgenommen wird, da heißt es eher: „Das ist doch normal, so denken wir alle.“ Der klassische Neonazi wird dagegen als etwas anderes wahrgenommen, da er sich selbst durch sein Auftreten stigmatisiert.
Ulfkotte
Den Vogel schießt diese Woche die Redaktion von Kopp online ab. Ulfkottes Bücher erscheinen im Koppverlag, Kopp online informiert über die Aktivitäten seines Autors. Anlässlich eines Fernsehauftritts bringt man (unfreiwillig?) Ulfkottes Position auf den braunen Punkt:
Für ihn gehören muslimische und deutsche Kinder nicht auf eine Schulbank. Er fordert eine Ausländerquote an deutschen Schulen.
Graben wir mal in den Presse-Registern der Vergangenheit. Da findet sich als eines von tausend Beispielen die Hessische Landeszeitung, die nach der Reichspogromnacht 1938, schreibt:
Nach der ruchlosen Mordtat von Paris kann es keinem deutschen Lehrer und keiner deutschen Lehrerin mehr zugemutet werden, an jüdische Schulkinder Unterricht zu erteilen. Auch versteht es sich von selbst, daß es für deutsche Schüler und Schülerinnen unerträglich ist, mit Juden in einem Klassenraum zu sitzen.
Ganz so weit sind wir noch nicht. Wochenschau
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