Integration im 16:9 Format

Bildungsausländer, Freunde und warten auf eine Chance

Nach den Vereinten Nationen gilt ein Mensch als extrem arm, wenn die Person, sein Lebensunterhalt mit 1,25 US Dollar am Tag bestreiten muss. Die Zahl, der in extremer Armut lebenden Menschen betrug im Jahr 2005 1,4 Milliarden. Ich war einer von ihnen.

Von Mittwoch, 13.10.2010, 8:28 Uhr|zuletzt aktualisiert: Samstag, 09.05.2020, 1:01 Uhr Lesedauer: 6 Minuten  |  

Während meiner Studienzeit lebte ich sehr oft von einem Dollar pro Tag. Da ich keine Green-Card besaß, hatte ich nur die Berechtigung bis zu einem gewissen Betrag auf dem Campus der Universität zu erwirtschaften. Der Lohn aber füllte nie mein Konto, sondern das der Universität. Mit der Arbeit auf dem Campus konnte ich ein Teil meiner Schulden abbezahlen, die durch die hohen Studiengebühren verursacht wurden. Die dreifache Belastung von Studium, Sport und Arbeit war nicht immer leicht, doch war es mir wichtig, dass ich meine Eltern finanziell, ein wenig entlasten konnte.

Während der Semesterferien renovierte ich alle Studentenwohnheime auf dem Campus. Wenn ich mir ein Flugticket nach Deutschland leisten konnte, nutzte ich die Zeit um auf dem Bau, an Fliessbändern oder an Verpackstationen, Geld für die teuren Bücher zu erarbeiten. Mein Ziel war es immer, ein Praktikum im Sekretariat der Vereinten Nationen zu absolvieren. Nicht aus Prestige Gründen, sondern weil ich mich mit der Philosophie der UNO identifizieren kann. Aber wer kann sich schon ein unentgeltliches Praktikum in New York City, mit seinen horrenden Mieten und noch für mindestens zwei Monate leisten. Die deutsche Botschaft in New York war keine große Unterstützung bezüglich der Auskunft von Informationen, wie man New York City als extrem armer Student überleben könnte. Dennoch bewarb ich mich mehrfach, um nur wiederholt standardisierte Absagen zu erhalten. Ich hatte schon einmal, notgedrungen, in einer Telefonbox im LaGuardia-Flughafen geschlafen. Zudem hatte ich wegen Vater auch Erfahrungen, wie es ist, in einer winzigen Gästetoilette zu übernachten. Wegen dem Essen machte ich mir keine Sorgen. Es ist weitgehend bekannt, dass ein Mensch 35 Tage ohne Nahrung und drei Tage ohne Wasser überleben kann. Doch dieser UNO-Traum erfüllte sich nie.

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Unterstützung aus deutscher Seite, wie vom Deutschen Akademischen Austausch Dienst konnte ich nicht erwarten und auch nicht vom Bafög-Amt. Dort wurde mir gesagt, dass ich nicht förderungsfähig sei und deshalb keinerlei Berechtigung auf finanzielle Unterstützung oder ein Stipendium habe. Förderungsfähig wäre ich gewesen, wenn ich zumindest ein Semester in Deutschland studiert und meinen inländischen Wohnsitz beibehalten hätte. Ich war vollkommen auf mich und meine Eltern angewiesen. Ich studierte unter den härtesten Bedingungen und mit der ständigen Angst, das Semester nicht finanzieren zu können und damit ein Rauswurf von der Universität zu provozieren. Doch irgendwie klappte es immer. Der Glaube daran, dass meine international ausgerichtete akademische Laufbahn in Deutschland mit offenen Armen empfangen wird, war stets Motivation, Leistung zu bringen. Dafür nahm ich diese Umstände in Kauf, mit der Hoffnung, dass es eines Tages besser sein wird.

Nach meinem Bachelor-Abschluss im Mai 2003 am St. Michael’s College in Vermont schrieb ich mich an der Universität von Kent at Canterbury Brussels School für ein Masterstudiengang in internationale Beziehungen ein. Mein Onkel arbeitete zu der Zeit als Konsul an der koreanischen Botschaft in Brüssel. Eine Wohnung in Brüssel konnte ich mir nicht leisten. Meine Eltern hatten bereits ein Kredit über 15.000 Euro aufgenommen, um die Studiengebühren zu schultern. Durch Zufall wurde ich im rund 30 Kilometer entfernt liegenden Leuven fündig. Es gab dort eine Eishockeymannschaft, die in der ersten belgischen Liga spielte. Nach einem Try-Out mit den Leuven Chiefs durfte ich bleiben, die mir neben einer monatlichen Aufwandsentschädigung auch eine möblierte Wohnung zur Verfügung stellten, die ich allerdings mit zwei weiteren Spielern, auf weniger als 30 Quadratmeter teilen musste und zudem direkt im Eisstadion angesiedelt war. Meine Zimmergenossen waren Mike aus Kanada und Tomas aus Tschechien, die voll auf die Eishockeykarte setzten und außer Eishockey auch nichts weiter im Sinn hatten. Für mich wurde Eishockey nur noch Mittel zum Zweck. Wenn wir nicht trainierten, dann war der Fernseher Dreh- und Angelpunkt für Mike und Tomas. Meine Rückzugsorte zum Lernen und aus Rücksicht gegenüber meinen Mannschaftskameraden waren das Eisstadionrestaurant oder mein Auto. Den Luxus, dass die Universitätsbücherei bis zwei Uhr morgens, auch an Wochenenden geöffnet hatte, wie am St. Michael’s College in Vermont, hatte ich in Brüssel leider nicht mehr. Dort wurde die Bücherei schon werktags um 21 Uhr geschlossen. Sonntags war Ruhetag. Wenn samstags keine Spiele anfielen, konnte ich die vollen sechs Stunden in der Bücherei ausnutzen. Am Samstagabend und auch an manchen Sonntagen war Eisdisco angesagt, sodass bei uns in der Wohnung durch den dicken Bass, alle Wände vibrierten. Halb Leuven tanzte auf der Eisfläche und ahmten John Travolta auf Kufen nach. An diesen Tagen flüchtete ich mit den Büchern in mein Auto und betete zu Gott, dass das Licht im Auto lange halten möge. Die Aufwandsentschädigung der Eishockeymannschaft reichte gerade mal für den Sprit. Mein Essen verdiente ich dadurch, dass ich zweimal in der Woche eine Eishockeybegeisterte finnische Belegschaft von Nokia und Mitarbeiter der Botschaft trainierte. Für diese Tätigkeit bekam ich keine Vergütung, dafür warme Mahlzeiten vom Eisstadionrestaurant.

Mein Freund Azar aus Russland studierte und lebte unter ähnlichen Bedingungen. Das schweißte uns zusammen. Die richtig teueren Bücher für das Semester liehen wir uns von guten Freunden aus und kopierten es Seite für Seite selbst von Hand im 24 Stunden geöffneten Kinko’s Copy Center Downtown. Das nahm manchmal mehrere Stunden in Anspruch und so kam es, dass wir viele Morgengrauen im Kopiercenter verbrachten. Freunde hielten uns die Tür am Hintereingang der Mensa auf, wo wir keine Studentenausweis-Kontrolle zu befürchten hatten, sodass wir uns frei am Büffet bedienen konnten. Natürlich hatten wir in der Mensa nichts verloren. Aber fast 3.000 Dollar pro Semester nur für das Essen zu bezahlen, erschien uns schlicht zu viel, da das Übriggebliebene am Ende des Tages ohnehin weggeschmissen wurde. Deshalb hatten wir kein schlechtes Gewissen. Wenn es uns nicht gelang sich in die Mensa einzuschleusen, dann musste Instantnahrung herhalten. Es gab Tage, da ernährte sich Azar ausschließlich von Donuts und Kuchen. Ich ernährte mich nur von Kellogs Smacks. Ein Freund aus Aserbaidschan arbeitete im Dunkin Donuts und die am Abend nicht verkauften Donuts wurden aus dem Sortiment genommen und entsorgt. Er machte uns immer riesige Tüten fertig, die wir uns am Abend abholen gingen. Damit hätte unser Freund aus Aserbaidschan gefeuert werden können, doch ihm war die Freundschaft wichtiger. Seit dieser Zeit kann ich keine Donuts mehr sehen und mache einen weiten Bogen um Dunkin Donuts. Mein mongolischer Freund, der in der Mensa arbeitete und wusste, dass wir illegal in der Mensa waren, drückte immer beide Augen zu. Einmal sagte er zu mir „Ein Mann ohne Freunde ist so dünn wie ein Holzstrich in der Steppe, aber einer mit Freunden so groß wie die Steppe selbst“.

Ich bin diesen Freunden bis heute dankbar. Sie haben mir geholfen diese schwierige Zeit zu überbrücken, in der ich ständig in Angst lebte, wegen nicht vorhandener finanzieller Mittel von der Universität abgeschoben zu werden. Ich kann bestätigen, dass die Angst vor der Abschiebung großen Einfluss auf die akademische Performance hat. Doch auch meiner Universität in Vermont bin ich unendlich dankbar, dass sie mir, den Sohn koreanischer Gastarbeiter, durch ein Teilstipendium, dieses wundervolle Studium ermöglichten. Ohne die Hilfe und Unterstützung aller, hätte ich es nicht schaffen können. Seit der Abschlusszeremonie in Canterbury im Frühjahr 2005 warte ich nun darauf, dass ich mein hart erkämpftes Wissen im Studium als Bildungsausländer, in Deutschland, meiner Heimat zum Einsatz bringen kann. Aktuell Meinung

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