Plädoyer
Neue Diversität für den Aufstieg, bitte! Für Barrierefreiheit in den Köpfen
Eine multikulturelle Gemeinschaft wird es nur geben, wenn sich alle bewegen: pathetisch, notwendig, wahr. Dabei haben die MigrantInnen den längsten Weg und die Deutschen die Pflicht, die tiefen Schlaglöcher zu ebnen, die sie teilweise selbst gegraben haben.
Von GastautorIn Donnerstag, 11.02.2010, 8:01 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 05.09.2010, 17:11 Uhr Lesedauer: 5 Minuten |
87 Prozent für Thilo – ein schlechtes Zeichen
Als Thilo Sarrazin, Berliner Ex-Finanzsenator und Vorstandmitglied der Bundesbank, in der Kulturzeitschrift Lettre International eindeutig ein migrationsbedingtes Untergangsszenario der Hauptstadt heraufbeschwor, kam die ganze Wucht des gesellschaftlichen Vakuums in Sachen „Ausländerfrage“ zum Vorschein. Dieses Vakuum ist entstanden, weil viele anscheinend die sarrazinische Meinung teilen, ohne sie äußern zu können.
Sarrazin skizziert die Katastrophe so: „Die Türken erobern Deutschland genauso, wie die Kosovaren das Kosovo erobert haben: durch eine höhere Geburtenrate. Das würde mir gefallen, wenn es osteuropäische Juden wären, mit einem 15 Prozent höheren IQ als dem der deutschen Bevölkerung.“ Mit dieser Aussage beleidigt er gleichermaßen Deutsche, Türken, Kosovaren und Juden. Im Dritten Reich wurden Juden nämlich nicht nur als eine unmenschliche Ansteckungsgefahr gesehen, gleichzeitig waren sie in den Augen der Nationalsozialisten eine übermenschliche Bedrohung, die die Weltherrschaft an sich reißen wollte. Eine Bedrohung mit höherem IQ. In dem ausdrücklich autorisierten (und von der Pressestelle der Bundesbank genehmigten) Interview bedient Sarrazin bewusst alte Klischees. Er ist freilich als Mann der überspitzten Formulierungen bekannt. Oft sieht es so aus, als würde er erst reden und dann denken. Es ist nichtsdestotrotz alarmierend, dass 87 Prozent der LeserInnen der Bildzeitung in einer Blitzumfrage seiner Aussage vollkommen zustimmen.
Auf die türkischstämmigen BürgerInnen in Deutschland beschränkt, sprechen die Zahlen nicht für gelungene Integration. Laut der Sinus-Studie 2009 sind demnach mehr als 46 Prozent „der Türken“ in Deutschland von mangelnder Integration betroffen oder Integrationsverweigerer, je nachdem wie man es betrachtet. Eine Diskussion über den Status quo ist wichtig und richtig, aber nicht im Sarrazin-Stil. Effektiver ist vielmehr die Frage nach den Gründen dieser sozialen und kulturellen Benachteiligung. Statistisch gesehen landen türkische Jugendliche im Schnitt häufiger im Gefängnis und unter ihnen findet sich die größte Zahl an Schulabbrechern. Für den vietnamesischen Nachwuchs in Deutschland sieht die Zukunft dagegen rosig aus: Sie machen häufiger Abitur als ihre deutschen Freunde, arbeiten härter und die meisten leben strikt aufstiegsorientiert.
Warum entwickelt sich das Gros der Vietnamesen in der zweiten und dritten Generation anders als die TürkenInnen in Deutschland? Liegt es wirklich am Vor- und Nachnamen, an der Anatomie, am Herkunftsland oder an der Religion? Eine Frage, die so schnell kaum eine Antwort finden wird.
Vogelperspektive auf das Labyrinth kann ein erster Schritt sein
Die Probleme sind vielmehr im Konstrukt zu suchen, das sich über Jahrzehnte seit dem deutschen Wirtschaftswunder in den Köpfen aufgebaut hat. Erst jetzt, wo Deutschland keinen Bedarf an niedrig qualifizierten FließbandarbeiterInnen aus Ostanatolien, dem Maghreb, Süd- und Osteuropa hat, entfaltet sich die Wirkung dieses konstruktivistischen Gebildes. Ausländer gleich Problem, lautet demnach die Formel.
Inklusion kann ohne die selbstverständliche Grundvoraussetzung des Zugeständnisses einer individuellen Chance nicht realisiert werden. Der Begriff „Ausländer“ hat sich als Synonym für Sozialschmarotzer, Problemfall, als anderes Wort für fremd und bedrohlich entwickelt. In Deutschland und anderen europäischen Staaten wird sich diese Tendenz mit einer weiteren Polarisierung im gesellschaftspolitischen Diskurs weiter verstärken. Ein Nebeneinander von Bevölkerungsgruppen mit verschiedenen Hintergründen, wie sie in den USA herrscht, hat sich auch hier zu Lande etabliert. Schon heute haben MigrantInnen institutionalisierte Lebensläufe, so wie es bei der dualistisch erfundenen Arbeitsteilung von Männern und Frauen häufig der Fall ist. Diese Pfadabhängigkeit, der man wegen der Herkunft der Eltern, dem Namen, der Hautfarbe, der Sprache und der ausgelebten Alltagskultur unterworfen ist, verzerrt die Startbedingungen in der kapitalistischen Gesellschaft. Befänden wir uns gedankenspielerisch im wirtschaftlichen Wettbewerb, müsste die Kartellbehörde längst eingreifen. Meinung
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„Die Probleme sind vielmehr im Konstrukt zu suchen, das sich über Jahrzehnte seit dem deutschen Wirtschaftswunder in den Köpfen aufgebaut hat. Erst jetzt, wo Deutschland keinen Bedarf an niedrig qualifizierten FließbandarbeiterInnen aus Ostanatolien, dem Maghreb, Süd- und Osteuropa hat, entfaltet sich die Wirkung dieses konstruktivistischen Gebildes. Ausländer gleich Problem, lautet demnach die Formel.“
Anmerkung: Dieses „Erst Jetzt“ gilt spätestens seit dem Anwerbestopp 1973. Schon damals galten (zu viele nichtintegrierte) Ausländer als Problem und die deutsche Politik hat trotz gegenteiliger Aussagen nie den Versuch gemacht, das Problem zu lösen.