Mehmet Gürcan Daimagüler vertritt im NSU-Prozess die Angehörigen von zwei Mordopfern © Heinrich-Böll-Stiftung @ flickr.com (CC 2.0), bearb. MiG
Mehmet Gürcan Daimagüler vertritt im NSU-Prozess die Angehörigen von zwei Mordopfern © Heinrich-Böll-Stiftung @ flickr.com (CC 2.0), bearb. MiG

Interview mit Mehmet G. Daimagüler

NSU ist keine Vergangenheit, sondern höchst lebendig

Die Drohbriefe vom „NSU 2.0“ haben Mehmet G. Daimagüler, Nebenklagevertreter im NSU-Prozess, weder geschockt noch überrascht. Im Gespräch mit dem MiGAZIN fordert er Konsequenzen und warnt: Die meisten Personen aus dem NSU-Netzwerk sind auf freiem Fuß.

Dienstag, 22.01.2019, 5:25 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 27.01.2019, 20:56 Uhr Lesedauer: 3 Minuten  |  

Die Frankfurter Rechtsanwältin Seda Başay-Yıldız hat Drohbriefe bekommen, die mit „NSU 2.0“ unterzeichnet sind. Sie war Nebenklagevertreterin im NSU-Prozess und verteidigt auch Asylbewerber. Die Drohbriefe sind brisant, weil sie private, öffentlich nicht zugängliche Informationen enthalten. Başay-Yıldız wird mit dem Leben ihrer Tochter gedroht. Ermittlungen haben ergeben, dass die Infos aus Polizei-Dienstcomputern stammen. Inzwischen wird gegen mehrere Beamte ermittelt.

Rechtsanwalt Dr. Mehmet Gürcan Daimagüler war im NSU-Prozess ebenfalls Nebenklagevertreter und hat mit Seda Başay-Yıldız eng zusammengearbeitet. Im Gespräch mit dem MiGAZIN fordert er ein konsequentes Vorgehen bei rechtsextremen Vorfällen und eine dauerhafte Aus- und Fortbildung der Polizei in Grund- und Menschenrechten.

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MiGAZIN: Wie war Ihre erste Reaktion als sie davon erfahren haben, dass Polizeibeamte hinter den Drohbriefen stecken könnten?

Mehmet G. Daimagüler: Ich wünschte, ich könnte antworten: Geschockt und überrascht.

Inzwischen wird gegen mehrere Polizeibeamte ermittelt, solange sind die vom Dienst suspendiert. Dennoch erhielt Seda Başay-Yıldız einen zweiten Drohbrief, mit weiteren privaten Daten und unterzeichnet mit „NSU 2.0“. Darin drohen Unbekannte ihr mit Vergeltung wegen den Ermittlungen gegen „Polizeikollegen“. Was schlussfolgern Sie daraus?

Mehmet G. Daimagüler: Das Schreiben kann von Trittbrettfahrern stammen, die nicht aus dem Polizeiapparat stammen. Es könnte aber auch von Polizeibeamten stammen.

Haben Sie Angst vor der Polizei?

„Ich weiß aber auch, dass der Polizeidienst wie ein Magnet auf Menschen wirkt, die autoritären, antidemokratischen Staats- und Gesell- schaftsvorstellungen anhängen. Deswegen ist es falsch, immer von „bedauerlichen Einzelfällen“ zu sprechen, wenn mal wieder Rechtsradikale in Uniform entdeckt werden.“

Mehmet G. Daimagüler: Nein. Die allermeisten unserer Beamtinnen und Beamten stehen mit beiden Beinen fest auf dem Boden der Verfassung. Ich weiß aber auch, dass der Polizeidienst wie ein Magnet auf Menschen wirkt, die autoritären, antidemokratischen Staats- und Gesellschaftsvorstellungen anhängen. Deswegen ist es falsch, immer von „bedauerlichen Einzelfällen“ zu sprechen, wenn mal wieder Rechtsradikale in Uniform entdeckt werden.

Die Polizei soll Seda Başay-Yıldız angeboten haben, ihr einen Waffenschein zu besorgen zum Selbstschutz. Wie bewerten Sie dieses Angebot als Bürger, Kollege und Rechtsanwalt?

Mehmet G. Daimagüler: Das klingt für mich wie eine Bankrotterklärung des Rechtsstaates.

Welche Erwartungen haben Sie an den Sicherheitsapparat und an die Politik? Was muss jetzt geschehen?

Es muss genauer hingeschaut werden, welche Personen in den Polizeidienst aufgenommen werden. Dazu gehört auch eine Sicherheitsüberprüfung, bei der beispielsweise auch geschaut wird, ob und in welchen Vereinen der Bewerber aktiv ist oder wie sich dieser in sozialen Medien äußert. Diese Überprüfungen müssen nach erfolgter Aufnahme in den Polizeidienst periodisch wiederholt werden.

Viele Experten fordern auch weitere Schwerpunktsetzungen in der Ausbildung.

„Alle drei oder vier Jahre müssen Beamte gegenwärtig ein Schusswaffentraining absolvieren. Genauso muss eine Pflicht zur Fortbildung in Punkto Menschenrechten sein.“

Mehmet G. Daimagüler: Aus- und Fortbildungen in Grund- und Menschenrechten müssen regelmäßig einen höheren Stellenwert bekommen. Alle drei oder vier Jahre müssen Beamte gegenwärtig ein Schusswaffentraining absolvieren. Genauso muss eine Pflicht zur Fortbildung in Punkto Menschenrechten sein.

Welche Folgen müssen rechtsextreme Vorfälle haben?

Mehmet G. Daimagüler: Identifizierte Verfassungsfeinde müssen umgehend aus dem Polizeiapparat entfernt werden. Beamte, die in WhatssApp-Gruppen etc. wahrnehmen, dass sich Kollegen verfassungsfeindlich, rassistisch, homophob oder antisemitisch etc. äußern, müssen verpflichtet werden, dies an die Behördenleitung zu melden. Diese geschlossenen Chat-Gruppen wirken wie Brandbeschleuniger, wo Filterblasen einer Radikalisierung der Teilnehmer Vorschub leisten. Ähnliche Phänomene kennen wir im Bereich des extremen Islamismus.

Sie haben immer wieder gewarnt, dass der NSU kein Trio gewesen sein kann. Bekanntlich sind zwei von denen tot, die Dritte sitzt hinter Gittern. Die Drohbriefe an Başay-Yıldız wurden mit „NSU 2.0“ unterzeichnet. Hatten Sie Recht mit Ihrer Warnung?

Mehmet G. Daimagüler: Der NSU ist keine Vergangenheit. Seine Ideologie, seine Strategie und seine Taktik sind höchst lebendig. Zudem wissen wir doch, dass der NSU kein Trio war, sondern ein breites Netzwerk. Die meisten Personen aus diesem Netzwerk sind auf freiem Fuß. Interview Leitartikel Panorama

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