Buchcover, Kolonialzeit, Geschichte, Historie, Arbeiterbewegung
Die Kriegs- und die Kolonialfrage in der britischen und deutschen Arbeiterbewegung im Vergleich. 1899–1914 © Metropol-Verlag

Rezension zum Wochenende

Aufarbeitung der Kolonialzeit in Deutschland nicht abgeschlossen

Ein Blick in die historischen Debatten innerhalb der Arbeiterbewegung um Kolonialismus und Imperialismus hat an aktueller Relevanz nichts verloren. Von Thilo Scholle

Von Freitag, 23.11.2018, 5:23 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 26.11.2018, 23:59 Uhr Lesedauer: 4 Minuten  |  

Dass die Aufarbeitung der Kolonialzeit auch in Deutschland noch nicht abgeschlossen ist, zeigen beispielsweise in Berlin die Auseinandersetzungen um die Umbenennung von Straßen, die nach deutschen Kolonien und Akteuren der Kolonialzeit benannt sind. Noch geringer ist das Wissen um die Umstände des deutschen Kolonialismus, aber auch um die zeitgenössischen Debatten.

Historisch war es jedenfalls nicht so, dass Kolonialismus von allen gesellschaftlichen Gruppen in den jeweiligen imperialistischen Ländern befürwortet wurde. Dies gilt insbesondere für die Arbeiterbewegung. Dass diese grundsätzliche Ablehnung aber keineswegs ohne Ambivalenzen, Brüche und Widersprüche auskam, zeigt die lesenswerte Dissertation von Jörn Wegner.

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Der Autor hat sich die deutsche und die britische Arbeiterbewegung in den Jahren 1899 bis 1914 im Vergleich vorgenommen. Dies ist nicht ganz einfach, waren doch das politisches System sowie die Dauer und Größe der jeweiligen Kolonialreiche sehr unterschiedlich. Hinzu kommt, dass sich in Deutschland zu dieser Zeit bereits eine einheitliche Organisationsstruktur der Arbeiterbewegung um die Sozialdemokratische Partei und die freien Gewerkschaften herausgebildet hatte, während in Großbritannien neben der Gewerkschaftsbewegung die politische Interessenvertretung der Arbeiterschaft noch überwiegend im Rahmen der liberalen Partei stattfand.

Wegner spannt einen Bogen von den politischen Debatten um verschiedene koloniale Konflikte wie beispielsweise den „Burenkrieg“ Großbritanniens in Südafrika oder die verschiedenen „Marokko-Krisen“ bis hin zu den Diskussionen um den Ausbruch des Weltkriegs im Jahr 1914. Quellengrundlage sind vor allem die Zeitungen und Zeitschriften innerhalb der deutschen und der britischen Arbeiterbewegung.

Über zivilisierte und unzivilisierte Völker

Der Autor beginnt seine Darstellung mit einem Blick auf die Ansätze der Kolonialkritik bei Marx und Engels. Diese hätten der Arbeiterbewegung in Bezug auf die Kolonialfrage vor allem Widersprüche hinterlassen. „Einerseits begründeten sie den Internationalismus, die Vaterlandslosigkeit der Proletarier und die Notwendigkeit der grenzüberschreitenden Solidarität der Arbeiterklasse.“ Andererseits habe vor allem Engels den Grundstein für die spätere pseudowissenschaftliche Kategorisierungen ganzer Bevölkerungsgruppen durch die Sozialdemokraten gelegt: „Besonders bei der SPD gehörten Urteile über ‚zivilisierte‘ und ‚unzivilisierte‘ Völker und ihre vermeintlichen Eigenheiten zum Üblichen.“

Zugleich macht der Autor die Ambivalenz dieser Vorstellungen deutlich, etwa wenn er Eduard Bernstein zugute hält, seine Vorstellungen von Kolonialpolitik hätten einen zutiefst humanen Ansatz besessen, deren Prämissen in der Entwicklung und der Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschen in den Kolonien gelegen habe. Zudem basierten die problematischen Kategoriebildungen in der Regel nicht auf essentialisierenden und rassistischen Zuschreibungen, sondern leiteten die Zuordnungen aus dem jeweiligen gesellschaftlichen und ökonomischen Entwicklungsstand der Länder ab. Bernstein sei es auch gewesen, der beim Burenkrieg die vermeintlich auf dem Prinzip des Selbstbestimmungsrechts der Völker basierende Solidarität mit dem Buren-Staat kritisiert habe und auf die Aufrechterhaltung der Sklaverei als den eigentlichen Streitpunkt verwiesen habe.

Auch in Großbritannien habe der Burenkrieg in der Arbeiterklasse keine große Begeisterung ausgelöst. Einen maßgeblichen Unterschied zwischen britischer und deutscher Arbeiterbewegung stellt der Autor beim Thema „Antisemitismus“ fest: Während dieser in der deutschen Sozialdemokratie so gut wie keine Rolle gespielt habe, macht er in der britischen Arbeiterbewegung immer wieder antisemitisch konnotierte Argumentationen aus.

Debatten und Krieg und Frieden

Im zweiten Teil des Bandes widmet sich Wegner den Debatten und Krieg und Frieden: Am Vorabend des 1. Weltkrieges erkennt der Autor in beiden Arbeiterbewegungen immer noch eine grundsätzlich jeden Krieg ablehnende Haltung. Allerdings habe es bei der SPD kaum Theorien sowie praktische Lösungsvorschläge für eine aktive Friedenspolitik gegeben. „Nach wie vor bedeutete der Krieg lediglich eine Art Notlösung für die Probleme des imperialen Zeitalters, angewandt von einer kaum definierten Gruppe von Herrschenden. Eine wirkliche Strategie zur Friedenssicherung hatte die deutsche Sozialdemokratie auch 1912 nicht entwickelt, stattdessen griff sie auf die alten Beschwörungen zurück: Ein Krieg sei ausgeschlossen, da die Pläne der Kriegstreiber durch die mächtige Arbeiterklasse durchkreuzt würden.“

Mit Kriegsausbruch 1914 hätten die meisten sozialdemokratischen Parteien in Europa abrupt die Seiten gewechselt, nicht in einem langsamen Prozess der ideologischen Umdeutung und weitgehend ohne personelle Veränderungen. Etwas verkürzt ist das Fazit des Autors, die SPD habe es versäumt „die nationale Frage angemessen zu beantworten“, und sei deshalb bei Kriegsausbruch politisch hilflos gewesen. Andere mögliche Beweggründe wie beispielsweise die Vorstellung, tatsächlich einen Verteidigungskrieg führen zu müssen, werden nicht diskutiert. Auch ignoriert der Autor, dass nicht unerhebliche Teile auch der Parteiführung und der Reichstagsfraktion der SPD von Anfang an dem Krieg kritisch bis ablehnend gegenüber blieben.

Deutlich wird bei der Lektüre des Bandes, dass die Frage nach der Sinnhaftigkeit und Rolle von Kolonien und nach dem möglichen Kriegsdruck, der durch den ökonomischen und politischen Imperialismus geschürt wurde, in den Publikationen der Arbeiterbewegungen beider Länder intensiv diskutiert wurde. Im Mittelpunkt stand dabei weniger die – durchaus auch thematisierte – Problematik des kolonialen Rassismus, sondern vielmehr die Bedeutung des Großmachtstrebens für den Frieden sowie die inneren gesellschaftlichen Verhältnisse beider Länder. Dabei finden sich auch klare Bekenntnisse für die Solidarität zwischen allen Menschen und gegen die Ausbeutung in den Kolonien. Ein Blick in die historischen Debatten innerhalb der Arbeiterbewegung um Kolonialismus und Imperialismus hat an aktueller Relevanz nichts verloren. Aktuell Rezension

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