
Migrantisch und männlich
Doppelte Vorurteile, doppelte Hürden
Wenn über „toxische Männlichkeit“ gesprochen wird, trifft das Stigma junge Migranten doppelt: Sie kämpfen nicht nur mit Rollenbildern, sondern auch mit Vorurteilen. Was passiert mit ihnen, wenn sie so an den Rand gedrängt werden?
Von Edgar Pocius Donnerstag, 04.12.2025, 12:31 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 04.12.2025, 12:31 Uhr Lesedauer: 5 Minuten |
Vor Kurzem war Internationaler Männertag. Ich stand im Supermarkt, als über die Lautsprecher ein kurzer Radiobeitrag dazu lief. Schon im zweiten Satz fiel das Stichwort „toxische Männlichkeit“. Natürlich kann man nicht leugnen, dass es Probleme gibt: Männer, die verunsichert sind, die in fragwürdige Verhaltensmuster rutschen oder sich aus Orientierungslosigkeit an überholte Rollenbilder klammern. Aber ständiges Bashing schafft keine Alternativen. Es etabliert Vorurteile – und die können Schaden anrichten.
Was heißt das erst für Männer, die nicht nur männlich, sondern auch migrantisch sind? Für Menschen, die ohnehin schon mit Zuschreibungen zu kämpfen haben? Wenn jede Debatte über Männlichkeit sofort mit negativen Etiketten beginnt, bleibt kaum Raum für Entwicklung, für Vorbilder, für konstruktive Wege aus der Unsicherheit.
Auf der einen Seite gibt es jene radikalen Stimmen, die nahezu jedes gesellschaftliche Problem an „Männlichkeit“ knüpfen wollen. Solche undifferenzierten Beiträge werden dann von rechten Gruppen sofort aufgegriffen – allerdings mit umgedrehter Argumentation. Dort heißt es plötzlich, das Problem seien nicht „die Männer“, sondern die ausländischen Männer.
Beide Seiten nutzen dieselbe wir-gegen-sie-Logik, nur mit unterschiedlichen Zielscheiben. Am Ende geht es weniger um Lösungen als um Populismus.
„Und nicht zuletzt hält sich das Bild vom aggressiveren Jungen – ein Vorurteil, das bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund noch schneller gezogen wird.“
Man merkt, dass sich in den letzten Jahren eine ganze Reihe negativer Vorurteile über Jungen etabliert hat: Jungs gelten als schlechter in der Schule, als weniger empathisch und als grundsätzlich nur an Technik oder Sport interessiert. Oft heißt es auch, sie bräuchten keine zusätzliche Unterstützung. Und nicht zuletzt hält sich das Bild vom aggressiveren Jungen – ein Vorurteil, das bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund noch schneller gezogen wird.
Es gibt sicher geschlechtsspezifische Veranlagungen – ein in der Öffentlichkeit oft verpöntes, dabei eigentlich hochspannendes Forschungsfeld. Doch bestimmte Tendenzen sind bei Weitem nicht stark genug, um gesellschaftliche Stereotype zu rechtfertigen, die sich dann zu Erwartungen verfestigen. Ein früheres Beispiel zeigt das deutlich: Das Klischee, Mädchen seien schlechter in Mathematik, erwies sich als eine selbsterfüllende Prophezeiung. Unser Lernerfolg hängt nicht nur von unseren Fähigkeiten ab, sondern stark von unserer Umgebung – und sogar von den Erwartungen der Menschen, die uns unterrichten.
Manchmal zeigt eine einfache Klassenübung etwas Tiefes über die menschliche Natur. Jane Elliotts berühmtes „Blauaugen–Braunaugen“-Experiment tat genau das. Elliott, damals Lehrerin einer dritten Klasse in Iowa, wollte ihren Schülern Vorurteile auf eine Weise begreifbar machen, die jede verbale Erklärung überstieg. Also teilte sie die Kinder nach ihrer Augenfarbe. Einer Gruppe sagte sie, sie seien klüger, freundlicher und besser. Die andere – ihre eigenen Freunde und Klassenkameraden – sollte glauben, sie sei weniger wert. Nichts an den Kindern änderte sich, außer der Botschaft, die sie hörten.
Und das zeigte Wirkung. Die „bevorzugten“ Kinder traten selbstbewusster auf, arbeiteten konzentrierter und meldeten sich häufiger zu Wort. Die benachteiligten dagegen zogen sich zurück, ihre Leistungen fielen ab. Manche wurden still, andere wütend. Einige begannen sogar, die negativen Zuschreibungen über sich zu verinnerlichen.
„Ein junger Migrant kämpft also nicht nur damit, der Außenseiter zu sein, sondern auch mit den Stereotypen, die über ‚den migrantischen Mann‘ im Umlauf sind.“
Das Verhalten der benachteiligten Kinder erinnert stark an das, was heute oft als „toxischer Mann“ oder „migrantischer Macho“ kritisiert wird. Wer abgewertet wird, reagiert nicht selten genau mit diesen Mustern: Man wird still, man wird wütend, man zieht sich zurück. Die negativen Zuschreibungen beginnen zu wirken – sie werden verinnerlicht und schließlich ausgelebt.
In Deutschland zählt etwa jeder zehnte junge Mann zur sogenannten NEET-Gruppe – er arbeitet nicht und befindet sich weder in Ausbildung noch im Studium. Bei jungen Männern mit Migrationshintergrund ist dieser Anteil sogar deutlich höher. Dazu kommen Faktoren wie fehlende Netzwerke, wenig Know-how darüber, wie man sich im deutschen Bildungs- und Berufssystem erfolgreich bewegt, unvollständige Sprachkenntnisse oder das fehlende Verständnis gesellschaftlicher Codes. Auch Vorurteile und Diskriminierung spielen eine Rolle.
Ein junger Migrant kämpft also nicht nur damit, der Außenseiter zu sein, sondern auch mit den Stereotypen, die über „den migrantischen Mann“ im Umlauf sind. All diese Elemente erschweren jungen Menschen mit Migrationshintergrund den Anschluss – und damit den Zugang zu besseren Chancen.
Die berufliche Perspektivlosigkeit wirkt sich unweigerlich auf das Privatleben aus. Nach einer Auswertung zu Alleinstehenden nach Geschlecht und Altersgruppe waren 2024 in der Gruppe der 25- bis 35-Jährigen rund 38,4 Prozent der Männer alleinstehend – gegenüber 25,6 Prozent der Frauen. Das überrascht kaum: Wer im Beruf keinen sicheren Fuß fasst und sich vom Arbeitsmarkt und der Gesellschaft zunehmend zurückzieht, hat meist auch größere Schwierigkeiten, stabile und sinnvolle Beziehungen zum anderen Geschlecht aufzubauen.
Und wenn ein junger Mann weder beruflich Fuß fasst noch erfüllende Beziehungen zum anderen Geschlecht aufbauen kann – geschweige denn eine Familie gründet –, entsteht schnell das Gefühl, abgehängt zu sein. Aus dieser Mischung aus Frustration und Ohnmacht wächst Ressentiment. Und dieses äußert sich nicht selten in toxischen Verhaltens- und Denkmustern.
Man versucht dann, eine vermeintliche Männlichkeit zurückzuerobern: indem man sich eine idealisierte Vergangenheit ausmalt – etwa die Nachkriegszeit in Deutschland, in der Frauen angeblich nur „zwei Lebensfragen“ kannten –, oder indem man sich auf traditionale Beziehungsmodelle aus dem Herkunftsland beruft. In beiden Fällen handelt es sich um heile Welten, die so nie existiert haben.
„Wer Teil der Mitte sein darf, hat keinen Grund, gegen sie zu kämpfen.“
Je mehr Menschen sich abgehängt fühlen und aus der gesellschaftlichen Mitte an die Ränder gedrängt werden, desto größer wird die Gefahr von Radikalisierung, Gewaltexzessen, Kriminalität, Misogynie und toxischen Verhaltensmustern. Solche Entwicklungen können sich langfristig zu sozialem Sprengstoff entwickeln. Wenn wir Vorurteile reproduzieren statt Chancen zu eröffnen, vergrößern wir genau jene Probleme, die wir zu lösen glauben.
Eine gerechte Gesellschaft beginnt damit, Menschen nicht auf Etiketten zu reduzieren – sondern ihnen zuzutrauen, mehr zu sein, als man ihnen nachsagt. Eine Gesellschaft, die junge Männer stärkt – besonders jene mit Migrationshintergrund –, stärkt am Ende sich selbst. Denn wer Teil der Mitte sein darf, hat keinen Grund, gegen sie zu kämpfen. Meinung
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